Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.03.2020

(Darren Dugan) #1
„Die deutsche Geschicht ezwischen 1815
und 1848hat keinen gutenRuf.“ Mit die-
sem Satz beginnt das Buchvon Wilhelm
Bleek über die Epoche des„Vormärz“. Ent-
sprechend istesdie impliziteAbsicht des
emeritiertenBochumer Politikwissen-
schaftlers, das Ansehen dieserZeit vom
„anstößigen Hautgout“ zu befreien,der
der„Restaurationszeitbis heute“ anhafte.
Nunist es seitdem Ende dergroßenPro-
jektezur deutschen Bürgertumsforschung
unüblichgeworden, die Geschichtedes
neunzehnten Jahrhundertsineinemrein
nationalstaatlichenRahmen zu betrach-
ten. Schließlich war–nacheiner Zeit des
Vergessens–das neuerliche Interesse am
neunzehnten Jahrhundert voneinemglo-
balgeschichtlichen Ansatz ausgegangen,
wie ihn schnell zuStandardwerkenavan-
cierte PublikationenvonChris topher Bay-
ly und JürgenOsterhammelvorgegeben
hatten.UndauchRichardJ.Evans Darstel-
lung hattesichimmerhin dem „europäi-
schen Jahrhundert“von1815 bis 1914ge-
widmet.
Gleichwohl isteslegitim, immerauch
nachden nationalen Pfaden zu fragen,wes-
halb DavidCannadinesbritische Geschich-
te des neunzehnten Jahrhunderts unge-
mein lesenswertist.Allerdingsist die Ge-
schichteGroßbritanniens in diesem„Victo-
rious Century“ als Geschichte des Empires
zwangsläufigvonglobaler Dimension.
Anders liegt derFall bei Bleek.Zwarbe-
müht sich derVerfasser explizit um die

Vielfalt seinesUntersuchungsgegenstands.
Aber durch die Fokussierung auf dieTerri-
torien, diespäterzum DeutschenKaiser-
reichzählen sollten,fällt dieimperial eDi-
mension desHabsburgerreichs vonBeginn
an unter denTisch.Bleekskleindeutsche
„Vielfalt“spiegelt sichdaher eherinder the-
matischen Heterogenitätder Sequenzen,
ausdenensichdas Buchzusammensetzt:
Der Verfasser bietetkeine durchgängigeEr-
zählung,sondern präsentierteinenreizvol-
len, buntenStrau ßvon 23 „Miniaturen“.
Mit ihnengreiftder AutorThemen undPer-
sonen heraus,deren Summe die Bandbrei-
te der damaligenEntwicklungen aufzeigen
soll. Dabeischreitet Bleek zunächst im Jah-
resrhythmusvoran: Auf denWienerKon-
gress(1815)folgtein Kapitelüber dieEin-
führungder Verfassung im Großherzog-
tumSachsen-Weimar-Eisenach(1816).
Darstellungen desWartburgfestes (1817),
dieGründungder Bonner Universität
(1818)und dasAttentat aufAugustvon
Kotzebue (1819)schließensichan.
Erkennbar sind allerdingsgewisse the-
matische Clusterbildungen, die dasVorver-
ständnisverraten, mit dem Bleek an sei-
nen Gegenstand herangeht.Soverbirgt
sich im Großenund Ganzenhinter den vie-
len Miniaturen eine traditionelle Moderni-
sierungsgeschichte, fügen sichdie Erzäh-
lungen letztlich dochzuMustern fort-
schreitender Industria lisierung,Urbanisie-
rung, Rationalisierung undNationalisie-
rung. Damitgreifen sie jeneFundamental-

prozesse auf, die schon imFokusder histo-
rischen SozialwissenschaftBielefelder Prä-
gunggestanden haben–nur eben damals
nicht so unterhaltsam erzählt.
Auc hdie Deutung,wonachesimneun-
zehnten Jahrhundert in den deutschen Ter-
ritorien zwar eine umfassendetechnische,
wirtschaftliche und wissenschaftliche,
nichtabereinepolitischeModernisierung
gegeben habe, istschon bei Hans-Ulrich
Wehler zu lesen.Bleekgesteht eingangs
ein,dassesgar nichtseineAbsicht sei, die
geschichtswissenschaftliche Debatte um
neuePerspektiven zu bereichern.Esgehe
ihm darum, alteKlischees überdie Vor-
märzzeit inFragezustellen. Die Annahme
politischer Stagnation aberzählt heute
ebenfallszuden Klischees,die inFragege-
stellt werden sollten.Auch wäre es wohl
möglichgewesen, die latent immerwieder
durchscheinenden Modernisierungstheo-
rien durch konterkarierende Erzählungen
zumindestzumodifizieren,etwa durch
eineMiniaturüber die Cholerades Jahres
1831oder zum Thema Antisemitismus.
Letzterer wirdhier und da eher beiläufig
erwähnt,aber die Gewalt der Hep-Hep-
Krawalle gehörtzum frühen neunzehnten
Jahrhundertebensowie Goethes „Faust“.
Auc hdie Säkularisie rungstheseließe sich
abschwächen, wenn neben dem Hamba-
cher Fest von1832 mit seinen 30 000Teil-
nehmerneine Erzählung über dieWall-
fahrtzum Trierer HeiligenRock 1844 mit
rund 500 000 Pilgernstünde.

Schließlichgeht dasvonBleek erzählte
halbe Jahrhundertauchdem bis heute
nachwirkenden bürgerlichen Selbstver-
ständnis auf den Leim: SeinVormärzist
eine Epoche nahezuohneFrauen. Dass
sichindieserZeit eine „Revolution der
Ehe- undFamilienbeziehungen“vollzog,
wirdimResümeefestgehalten, aber nir-
gendwonäher ausgeführt. Ausschließlich
BettinavonArnim wirddie Ehre einer ei-
genen Miniatur zuteil. Die „als eigenwillig
und unbändig“charakterisierte Frau wird
darin zur Sympathieträgerin, die nicht nur
füreineAnstellung der in Göttingen entlas-
senen Brüder Grimm undFriedrich Chris-
toph Dahlmannsinpreußischen Diensten
sorgt, sondern auchden König Friedrich
WilhelmIV. zu sozialpolitischen Maßnah-
men motivieren will, um das Elend der in
den BerlinerMietskasernen Eingepferch-
tenabzumildern.
Bleek schreibt überau slebendig und an-
schaulich,verzicht et aber zumeistdarauf,
dasErzählt einübergeordn etePerspekti-
veneinzuordnen. DerStand derForschung
über die „soziale Monarchie“ findetsichin
dieserMiniaturkaum berücksichtigt. Der
Mord an Kotzebuewiederum wirdnicht in
die Geschichteder Attentate imneunzehn-
tenJahrhunderteingeordnet,und die am
Beginn desJahrhunderts durchaus zweifel-
hafteReichweite nationalerEuphoriewird
garnicht erst diskutier t. Erns tMoritz
Arndt undTheodorKörner gelten demAu-
torals Pr otagonisten einerneuenEpoche.

Das Buch glänzt alsodurch daserzähleri-
sche Element, lässt aber den Leserratloszu-
rück, sollte dieser danndochnachDeutun-
gensuchen.Die imTitelund durch dieAus-
wahl der Erzählungen durchscheinendeIn-
terpretationvom„Aufbruchindie Moder-
ne“ hätteesverdient,vomVerfasser stärker
reflektiertzuwerden.Auchdie postulierte
„Eigenständigkeit dervormärzlichen Jahr-
zehnte“wirdimResümee nicht wirklich
deutlich. Die sozialen, wirtschaftlichen und
tech nischen-wissenschaftlichen Entwick-
lungen, die dortnocheinmalzusammenge-
fasstwerden, lassen sichgerade nicht auf
die erste Hälf te des Säkulums beschränken.
Die verfassungsgeschichtliche Entwicklung
kam1848 erst r echt nicht zumStillstand.
Uneingeschränktzuwürdigen ist,dass
das Buch ein Lesevergnügenbereitet und
auchverdeutlicht, wie viel unsereGegen-
wart dem neunzehnten Jahrhundert ver-
dankt, sind doch selbstBachs „Mat-
thäus-Passion“ undder KölnerDom
ohnedie Umgestaltungen dieser Zeit
nicht zu denken. BIRGITASCHMANN

M


an soll Äpfel nicht mit Bir-
nen vergleichen. Sokönnte
auchdie Maxime lauten,
wenn man MarionPosch-
manns Gedichtband „Nimbus“ neben
Nadja Küchenmeisters „Im Glasberg“
legt.Aber wie jederweiß, istdas Äqui-
valenzgebotHumbug, da erst die Praktik
des VergleichensUnterschiede und Ge-
meinsamkeiten erkennen lässt.Wie se-
hen also die markantes tenEigenschaften
der beiden Bücher aus? „Farnfraktal“
heißt ein Gedichttitel vonMarion
Poschmann, der sie umgehend als poeti-
sche Enzyklopädistin ausweist. Das so be-
nannteGedichtstammt aus demZyklus
„Baum der Erkenntnis“, der ebenso auf
Adams und Evas Sündenfall wie auf die
verzweigten OrdnungssystemevonEnzy-
klopädien anspielt.
„Farnfraktal“ fungiert–wie die Gedich-
te„Nimbus“, „Kurgankultur“ oder „Nym-
phaion“–als ein Lemma, das den Lesern
eine Wissenskonstellation vorAugen
stellt.Farnekennt jeder.Fraktale sind ma-
thematische Mengen, die sichinverklei-
nerterFormselbstenthalten. Das Bild
einesFarnfraktals setzt sichaus Miniatur-
farnen zusammen. FürWissenskristallisa-
tionen dieser Arthat MarionPoschmann
ein bewundernswertesGespür.Mit ihnen
setzen ihre Gedicht ein, um eine plötz-
liche Wahrnehmung folgen zu lassen:
„Farnfraktal–wie Flügelgegensinkendes
Abendlicht.“Vogelgleichschwingt sich
der Farn auf und löstseinerseits eineRe-
aktion aus: „Und wir,wir wichen schüch-
tern den Schritt zurück/ins Dunkle,wo
die Farnspiralen/ausharrten, dicht in
sicheingewunden,/genügsam, lautlos.“
Die Szene magrealistischwirken, sie ist
als Fraktalbild jedochhochgradig artifi-
ziell.Poschmanns Simulakren wirken, als
habe sichdie Realität in der Imagination
verdoppelt und als hätten sichdie Gren-
zen zwischen beidenverwischt.
Dieses Bildraffinementverstärktsich
durch die merkwürdigeVerdopplung der
Ersten Person Plural („wir,wir“).Von
jetzt an–und das istgroßartiggearbeitet
–organisiertdie Zwillingsform(Gemina-
tio) dieVerse, die in dieFragemünden:
„War ic hdenn jemals so–/so eingerollt

in mich,völlig eingehegt/inWald, der an
michgrenzte,Wald, der/Gegenfarnbilde-
te,größer,stiller.“ Die drei Gemini („Wir,
wir“,„so, so“,Wald, Wald) setzen dasVer-
dopplungsspielzusammenmitdemFarn
und seinem Gegenfarnfort. Geht es noch
feinsinniger? Ja! DasFaszinierende an
Fraktalen ist, dassihrebildliche Darstel-
lung auf derWiederholung des Immer-
gleichen beruht,während sie mathema-
tischauf asymmetrischen, in sichgebro-
chenen Zahlenreihen. Durch Fraktale
geht ein Riss.
Undein solcher zerreißt auchPosch-
manns Bildwelten. MarionPoschmann ist
die Lyrikerinder insUnbestimmtewei-
senden Leerstelle. Darin liegt die enge
VerwandtschaftihrerPoesie mit der asia-
tischenKunst. Daherstellen auchdie Ge-
dichtein„Nimbus“ detailliertgearbeitete
Unschärfenvor Augen. Die „Dichtung,
als Betrachtungskunst“ istfür Poschmann
ein „Medium bildbezogener Erkenntnis“.
Diese bildbezogene Erkenntnisfaltet
„Nimbus“fächerartig in neunTypologien
aus. Der enzyklopädische Bildraum er-
streckt sichvon den Schneelandschaften
Sibiriens übergraugrüneFacetten des ja-
panischenSeladons bis zurruhmreichen
Nimbus-Wolkeaus. Poschmanns Gestal-
tensind vergänglichund vorläufig, da sie
erst im Verschwimmen,Tauen undAuf-
lösen ihrezarte Schönheit offenbaren.
Diese Ästhetik desVergänglichen rückt
Nadja Küchenmeisters neuen Gedicht-
band für einenAugenblickerstaunlich
nah anPoschmanns „Nimbus“. Obwohl
„Im Glasberg“ sonstganz anderelyrische
Wege geht.Küchenmeister hat ihreGe-
dichtenicht ausgefächert, sondernge-
rahmt:„helle mitte“ heißt der ersteZy-
klus, „dunkle mitte“ der letzte. Der Band
setzt „Im Glasberg“ ein, einem Hand-
lungsortdes grimmschen Märchens „Die
siebenRaben“. Das letzteGedicht legt
fest:„es beginntwo es endet“.Undzwar,
so könnteman mit den BrüdernGrimm
sagen: in derFamilie. Der ersteZyklus
inszenierteine Rückkehr in das Haus der
eigenen Kindheit: „ichraukemichheran
ans wuhletal“, so dieFormel fürKüchen-
meisters Darstellung dieser befremd-
lichen Heimkehr nachWuhle.
Zu den eigenen„Wurzeln“ führtauch
der zweiteZyklus, in dem klar wird, dass
das heimgekehrte erwachsene Kind nun
allein im Haus lebt,während die Eltern
abwesend sind. Der dritteZyklus („man
zittert/und das zitternhält an“) zieht in
Form eines beeindruckenden Langge-
dichts in den „mittelfellraum“ ein.Nahe-
liegend, dassandiesem Ortder Grund
für dieAbwesenheit der Elternliegt.
All dies entwirft Nadja Küchenmeister
im geradezu dokumentarischen Duktus.
Diese Schreibweise istfür sie nicht neu.
Aber in ihren beiden Bänden zuvor bilde-
tendie realistischen Sequenzen einen Ge-
neralbass, der durch ergreifende Epipha-
nien, irritierendeVerkehrungen und sub-
tile Surrealismengebrochen wurde. Jetzt
sinddiese Raumerweiterungen auf ein Mi-
nimum beschränkt.Nur gelegentlichblit-
zen sie noch auf: „die sonne istder mond /

mein augeein sternuntersternen“, heißt
es. Oder „ichbin die beste schwimmerin /
siebzehn Bahnen durch deinAuge“. Wäh-
rend man beiPoschmann nieweiß, wo
das Imaginäreaufhörtund dasReale be-
ginnt,richtetKüchenmeistereine identifi-
zierbareWirklichkeit ein.
Dazu akkumuliertKüchenmeisterzum
Beispiel imZuge einesFensterblicks ein-
zelne Elemente: „s-bahn, u-bahn,gleise,
wurzeln/imgeflecht, das maisfeld, den
baumbewachsenen hügel/hell im licht.“
Wissen der Kindheit und erlebterAugen-
blicküberlagernsichschließlich: „im som-
mer rollt die sonne, eine goldene/münze,
in die wuhle, im winterwerfen schlitten
kinder/aus der bahn.“Aber poschmann-
scheFaltungenvonRealem in Imaginäres
erlaubt sichKüchenmeisternicht. Ergrei-
fend wirkt vielmehr,wie akribischdie Ge-

dichte dieeigenenWurzeln zu ertastensu-
chen, zumal diegefundenen Inventarien
jetzt auf dasfortschreitende Alternund
die Abwesenheit der Elternverweisen:
„vogelfedern, zarte zweige/der tagesspie-
gelvon letzterwoche und deine/zähne
auf dem unterteller,neben derkartoffeln
/alter ndie gewürze...die schublade ist
rausgezogen/wonach hastdugesucht.“
GesichteteMaterialen einesvergehenden
Lebens lassen die (ver-)letzten Zügen ei-
ner neuen Beziehung aufblühen: „ichzäh-
le dein ehemden, socken/unterhosen,
entwirre die kabel unter dem tisch,
schwarze/wurzeln, diekeinen anfang
und kein ende haben.“
In dieseKonstellation bettetKüchen-
meisternicht zuletzt auchdie Beziehung
einesPaares ein, deren Begegnungen die
Fremdheit nicht abstreifenkönnen: „du /

sitzt im zug, der aus dergegenrichtung /
an mirvorbeifährt, einstreifen zug im
fenster/ich.“ So behutsam, so schlicht, so
willentlichbegrenzt auf ein sparsames
Material schwererZeichen, hat Nadja
Küchenmeister zuvor nichtgedichtet.
Kann man aufgrund derUnterschiede
ein Urteil überdie ästhetische Qualität
tref fen? DasgrößeresemiologischeAben-
teuer bietenMarion Poschmanns Un-
bestimmtheitsfiguren. Unddas istnur
möglichaufgrund ihrer atemraubendfei-
nenFaktur.Aber das istnicht alles,was
guteGedichteausmacht.Die beiden Bän-
de sprechen zweivölligunterschiedliche
Stimmungs- und Denklagen an und setzen
ihrePoetik in bewundernswerterKonse-
quenz um.Fürdie Lyrikder Gegenwart
kann eskaum Besseresgeben als solch
eklatanteUnterschiede. C HRISTIAN METZ

„Ichmusterte seine Gesichtszüge und
versucht eabzuschätzen,wasich ent-
fernen oderverunstalten müsste, da-
mit er angsteinflößend wirkte.“ Der
sechsjährigeProtagonist in „EinWitz
für ein Leben“fasst einen Entschluss:
SeinweichlicherVaterbraucht ein
Glasauge, umRespekt zu bekommen.
Dannwerdedie bewaffnete Miliz in
den Straßenaufhören, ihn bei jeder
Gelegenheit zuverprügeln. DieWel-
tenvon Mazen Maarouf sind ver-
dreht:Bevor man anfängt, sichzu
wundern,kann Verstümmelung zu Er-
mächtigungwerden –und Autoswer-
den auchmal zuTeigwaren.
In vielen der vierzehn Erzählungen
des palästinensisch-libanesischen
Autors explodieren Granaten undster-
ben Menschen. Dasgeschieht aber
eher nebenbei. DieFiguren sind viel
zu beschäftigt, beseelte Paprikapflan-
zen zu bespucken, tote Matadore mit
Boxschlägen auf dieFußsohlen wie-
derzubeleben oder Berufewie „Gram-
mophon-Kurbler“ auszuüben. Bei
Maarouf vermischen sichharte
Kriegsszenarien und Spaß an Spinne-
reizuGeschichten, diekeinenRaum
für Betroffenheit lassen.
Maarouf hat bereits mehrere Lyrik-
und Prosasammlungenveröffentlicht.
Sein Erzählband „EinWitz für ein Le-
ben“ istnun vonLarissa Bender ins
Deutscheübersetzt worden. 2019
stand die englischeVersion auf der
Longlistdes renommiertenMan
Booker InternationalPrice.
Die Biographie der 1978gebore-
nen Maarouf is tvon Fluchtgeprägt.
In seinerfrühen Kindheitflüchtete
die FamilievonPalästina in den Liba-
non. DorterlebteerBürgerkrieg und
Hizbullah.Nachdem der Schriftsteller
2011 die Protestegegendas syrische
Assad-Regime unterstützt hatte, muss-
te er nachIslandins Exilgehen,wo er
bis heutelebt.
In einem Beitrag namens „Art-
scape–Poets of Protest“ des Senders
Al Dschazir,sagteMaarouf,kurz nach-
dem er nachReykjavíkgezogenwar:
„Für einen jungen Araber,der in einer
Atmosphäreaus Unterdrückung und
Anspannung aufgewachsen ist,kann
es verwirrend sein, sichplötzlichin
einer Stadt wiederzufinden,inder
kein Militär patrouilliert, in der diePo-
lizeikeine Waffen trägt.“
Ähnliches passiertauchinseinen
Geschichten:Wieinden Märchen
vonE.T.A.Hoffmannsteigt man mit
Gewohntem in eineErzählung ein,
dochbald folgt derÜbergang ins Phan-
tastische. In „DasAquarium“stellt
sichheraus, dasseine Frau nicht
schwanger ist, sondernein Blutklum-
pen in ihrer Gebärmutter sitzt.Nach
dessen operativer Entfernung behält
das Ehepaarseinen „Sohn“ in einem
Aquarium; er wird„Munir“getauft,
psychiatrischbehandelt, eswerden so-
garFeiernfür ihn ausgerichtet. „Der

Träger“ erzählt die Metamorphose
eines traurigen Mannes zu einerwan-
delnden Plattform, auf der Kinderge-
burtstagestattfinden.In„Das Kino“
versteckt sichein Kindmit seinerFa-
milie in einemverlassenenVorführ-
saal.Nach einem Bombeneinschlag
sind alle Menschen bis auf das Kind
verschwunden.Nur eineKuhdreht
ihretäglichenRunden durchdas post-
apokalyptische Nirvana und ernährt
sichvon Fußbällen,Schultaschen und
Scherben–nicht abervon Fotos oder
Kassetten! Logik isthier keine Refe-
renzgröße. Alles wirdadabsurdumge-
führtoder entwickelt ein eigenes Ge-
fügevon Kausalität und Schlüssigkeit.
Das betrifft auchGewalt undTod.
Grausame Kriegsdetails werden im
selbenTonmiterzählt wieKuriositä-
ten. Als seinZwillingsbruderstirbt,
weil eineGranateden Schulbus trifft,
erklärtein sechsjähriger Erzähler
kalt:„MeinBruder verkohlte,genau
wie alle anderen KinderimBus. Ihre
Körper klebtenaneinander, und des-
halb wurden sie gemeinsamauf
einem kleinen,weit entferntenFeld
in derNähe der Schule begraben.“
Auch das istein selbstverständlicher
Teil dieserWelt.
Es entsteht der Eindruck, als beweg-
te man sichdurch geträumteKind-
heitserinnerungen:Zerrbilder vager
Orte und kindlicheSelbstverständlich-
keit, mit der Seltsames als normal an-
genommen wird, sind wiederkehren-
de Motive.Vielleicht istdas einWeg,
die Deutungshoheit über das Gesche-
hen zu erlangen und selbstdie Regeln
zu bestimmen, nachder Wirklichkeit
funktionieren soll. In der Geschichte
vomAnfang wirddas Kind,anstatt
denVater zuverstümmeln, mit ihm zu-
sammenWitze erfinden,umdie Miliz
zu besänftigen. EMELIGLASER

Wilhelm Bleek:„Vormärz“.
DeutschlandsAufbruchin
die Moderne 1815–1848.
C. H. BeckVerlag,München
2019 .336 S.,geb., 28,80 €.

MarionPoschmann:
„Nimbus“. Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin


  1. 115 S.,geb., 22,– €.


NadjaKüchenmeister: „Im
Glasberg“. Gedichte.
Verlag Schöffling &Co.,
FrankfurtamMain 2020.
112 S.,geb., 20,– €.

Mazen Maarouf: „Ein
Witz für ein Leben“.
Geschichten.
Ausdem Arabischen
vonLarissa Bender.
Unionsverlag,
Zürich2020.
160 S.,geb., 20,– €.

Doppelte


Dichtungslust


„Undwir,wirwichenschüchterndenSchrittzurück“:BeibeidenDichterinnenspieltdieNaturindieBeziehungenhinein. FotoJeanSchwarz

Quer durch die kleindeutsche Vielfalt


Wilhelm Bleek gibt ein Bild der Jahrzehntedes Vormärzineiner Folgevon anregend erzählten Miniaturen


Zweigroßedeuts cheLyrikerinnenbeschreiten ganz


verschiedeneWege,aberdie Resultatesind


gleichermaßenfaszinierend:ZurneuenPoesievon


Marion Poschmann undNadjaKüchenmeister.


Glasaugen,


Granaten


Mazen Maaroufs


Erzählband „EinWitz


füreinLeben“


SEITE 10·MITTWOCH,4.MÄRZ 2020·NR. 54 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG

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