Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.03.2020

(Darren Dugan) #1

F


rau Snoep, Herr Par-
zinger, der Bericht
zur Restitution, den
Bénédicte Savoyund
FelwineSarrfür den
französischenPräsi-
denten Macron er-
stellt haben, wird
weiter kontrovers dis-
kutiert. Ihr Kollege, der gerade aus dem
Amt geschiedeneGründungsdirektor
des Musée du quaiBranly,Stéphane
Martin, hat in „LeMonde“ erklärt, der
Bericht enthaltekeinehandhabbaren
Kriterienfür die Rückgabe vonObjek-
ten,er folge einer Logik derSelbstgeiße-
lung. Teilen Siediese Einschätzung?
HermannParzinger:Die Radikalität,
mit welcher der Bericht alles unter den
Vorbehalt der Illegalitätstellt,wasim
Zeitalter desKolonialismus irgendwoge-
sammeltworden ist, lehne ichindieser
Form ab. Man musssichdie Dingegenau-
er ansehen. Erstens istProvenienzfor-
schung wichtiger denn je.Dabei istnicht
die Frage, inwelchemKoffer ein Objekt
nachDeutschlandkam, sondernesgeht
um den historischen Erwerbungskontext.
Wenn er problematischist,solltenResti-
tutionen möglichsein. Eine Definition
vonsogenanntenUnrechtskontextenfin-
detman allerdings inkeinem Leitfaden,
weil immer vomEinzelfall ausgehen
muss. Zweitens gibt es auchObjekte, die
den indigenenVertretern sehr wichtig
sind, obwohl sie legal erworben wurden.
Auch hier sindRückgaben grundsätzlich
vorstellbar.Die Museen sollten ihrePro-
venienzforschung nicht alsVerteidigungs-
linie benutzen. Geschichtebesteht aus
Grautönen. Die Beschäftigung damit
kann zu einem neuen Miteinander füh-
ren. Nicht die Schuldfrage, die Zirkulati-
on der Objekte istdas entscheidend.
NanetteSnoep:Der Begriff Selbstgei-
ßelung, „autoflagellation“, wirdjetzt
sehr oftbenutzt inFrankreich.Für mich
istdas eine zu einfache Antwortauf den
Savoy-Sarr-Bericht.Als ic h1995 inParis
angefangen habe,gab es schon vieleRe-
stitutionsfragen. Hinter den Kulissen
habe ichoft erlebt, wie manversucht hat,
denZugang fürForscher aus den Her-
kunftsländernzuerschweren. Man muss
den Bericht und dieReaktionendarauf
im KontextseinerVorgeschichtebetrach-
ten. VonSeiten vieler Museengabesjah-
relang eine Artvon passivemWiderstand
dagegen, ihreBestände zu zeigen und sie
denVertretern der Herkunftsländer zu-
gänglich zu machen. Soversteht man viel-
leicht,warumdieser Bericht für einen
Teil der Öffentlichkeit etwasradikal
klingt.Aber insbesonderehier in
Deutschland hat er sehr positiveWirkun-
gengehabt.Politik und Öffentlichkeit ha-
ben erkannt, wie wichtig es ist, diekolo-
nialeVergangenheit aufzuarbeiten. Mit
Selbstgeißelung hat das nichts zu tun.

Es gibt Vorschläge, alle im Hochkolo-
nialismus erlassenenGesetze und Ver-
ordnungen im Nachhinein fürillegal zu
erklären.Damitwäre jeder Erwerb die-
ser Zeit Diebstahl. WiestehenSie dazu?
Snoep:Kolonialismusist ein Unrecht,
und solangeman dieKolonialzeittatsäch-
lichals Unrechtbetrachtet, is tjeder Er-
werb in einemKontextvon ungleichen
Machtverhältnissen passiert. Die Hollän-
der sind vielleicht entspannter als

Deutschland oderFrankreich. In Holland
gilt dieRegel, dassObjekteaus staatli-
chen Sammlungen, die in ihren heutigen
Herkunftsländerneine wichtigeBedeu-
tung haben, zurückgegebenwerden kön-
nen. Ichhaltedas für zukunftsträchtig.
Die Machtverhältnisse zwischen den In-
dustriestaaten und den Ländernder südli-
chen Halbkugelverändernsich, und die
ethnologischen Museen sindStellvertre-
terdieserVeränderungen.Kein Direktor
mussbefürchten,dasssein Haus in eini-
genJahrenvöllig leer ist. Aber in vielen
Depots gibt es wichtigeObjekte, die dort
seit Jahrzehntenschlummernund in den
Herkunftsländernvermisstwerden.
Parzinger:Was damit zusammen-
hängt, dass sich Museen alsWissensarchi-
ve verstehen und nicht nur schöne Dinge
für Ausstellungen sammeln.Auch Biblio-
thekensind ja enzyklopädischund univer-
salistischangelegt.Ich erinneremich
nochgut an einen Besuchineinem Muse-
um inVanuatu. Mit dem dortigenKolle-
genbin ichins Depotgegangen,wo er
mir seine Sammlunggezeigt hat, in der
kein Stückälter als dreißig, vierzig Jahre
war. ZumGlück, sagteer, habt ihr in Eu-
ropa diese wunderbaren Bestände, hier
haben wir erst vorein paar Jahrzehnten
angefangen, diese Dingeüberhauptzu
sammeln.InBerlin gibt es eine wichtige
Vanuatu-Sammlung, obwohl es keine
deutscheKoloniewar, sondernein bri-
tisch-französischesKondominium. Den-
nochwürde ichnicht sagen: Diese Objek-
te gehören jetzt ausschließlichuns. Ich
sehekeinen Gegensatz darin, zu sagen,
der Kolonialismuswar Unrecht, und zu-
gleichfestzustellen, dassRestitutionen
nicht die einzigeLösung sind. Ofterken-
nen wir erst in derZusammenarbeit mit
den Herkunftsgesellschaften, wasinden
Objekten eigentlichsteckt. Wenn man
dann begreift, wie bedeutend diese Din-
ge für Communities sind,kann man auch
an Rückgaben denken. Oder an Leihga-

ben. Da gibt es viele Möglichkeiten, aber
das funktioniertnur im Miteinander,
nicht durch Klagen und Anklagen. Statt
die Museen an den Pranger zustellen,
sollteman lieber ihreBereitschaftaner-
kennen, auf die Herkunftsländer zuzuge-
hen und sichzubewegen.

Dennoch können Sie dochnicht bestrei-
ten, dass das als Weltkulturmuseum an-
gekündigte Humboldt-Forum vonder
Debatte über die Herkunft seinerExpo-
nate hinterrücks erwischt wurde. Hat
das auch damit zu tun, dass die Ethnolo-
giemuseenzu wenigander Geschichte
der deutschenKolonialzeitund also
auch ihrer Beständeinteressiertwaren?
Parzinger:Ethnologen haben sichim-
mer mit der Geschichteihrer Sammlun-
genbefas st.Bei den Benin-Bronzen soll-
te im Humboldt-ForumvonAnfang an
die Problematik der Erwerbung Thema
sein.Aber in der breiteren Öffentlichkeit
istder deutscheKolonialismus in derTat
verschüttet gewesen, einerseits durch die
unfassbarenVerbrechen desNationalso-
zialismus, andererseits durch die kur ze
Dauer der deutschen Kolonialzeit,die
dennochungemeingrausamwar. Doch
diese Geschichtehat uns eingeholt, der
Bundestagdiskutiertüber denVölker-
mordanden Hereround Nama. DieAus-
einandersetzung mit demKolonialismus
muss aberweit über die Museen hinausge-
hen.
Snoep:Ja, aber wie?Werbestimmt die
Spielregeln dieserAuseinandersetzung?
Werentscheidetüber dieTeilnehmer des
Dialogs? Der Dialog aufAugenhöhe hat
gerade erst angefangen,vorzehn Jahren
gabesihn nochnicht .Vielleichtgibt es in
Deutschland auchzuwenigeDiaspora-
Gemeinschaftenaus den ehemaligenKo-
lonien. In Holland führtender Druckder
indonesischen Community und die Prä-
senzvonindonesischenForscherninden
Universitäten dazu, dassdie Debattedort
früher angekommen ist.

Steckt in dermoralisch aufgeladenen
Diskussion überden Kolonialismus
auch eineChancefür dieMuseen?
Snoep:Esist eineriesigeChancefür
uns. Vorzehn Jahrenwarkeiner anethno-
logischen Museen interessiert. Dahlem
warleer,das Musée de l’Homme in den
neunziger Jahrenwarleer.Erstals seine
Sammlungen ins Musée duquai Branly
kamen, erwachte das Interesse. Diese
Häuser sindgenau der Ort, an dem der
Prozessder Versöhnungstattfinden
kann. Sie fragen nachdie Moralisierung
der Debatte. Ichglaube, es gibtvorallem
einegroßeFrustrationdarüber,dassdie
Stimmen der Herkunftsgesellschaftenso
langenicht gehörtwurden. Museums-
teams sind viel zuwenig divers.Können
Sie sichein Museum überFeminismus
vorstellen, das nurvonMännerngema-
nagt wird?

Aberwird derDialogzwischen deneins-
tigenKolonialmächten und den Nach-
fahren der Kolonisierten nicht in dem
Augenblick abgebrochen, in dem alle
Objekte wiederindie Länderzurückkeh-
ren, aus denen sie stammen?
Snoep:Als ic hDirektorin des Grassi Mu-
seumsfür Völker kundeinLeipzigwar,ha-
ben wir im Oktober 2017 menschliche
Gebeine an Hawaii zurückgegeben, 26
Jahrenachder ersten Anfrage.Nachder
Rückgabe haben wir natürlichdarüber
nachgedacht, wie wir mit dieser Ge-
schichteumgehen, wie wir sieweiterer-
zählen sollen.Wirhaben dann in einer
leerenVitrine denRestitutionsvertragge-
zeigt und eineVideoinstallation, in der
die Delegation aus Hawaii auf sehr beein-
druc kende Weise erklärt,wasdie Rück-
kehr der Gebeine für sie bedeutet.Esgibt
ein Leben nachder Restitution, und es
entstehen neue Beziehungen aufAugen-
höhe. Der Anteil der Objekte, die wir in
den Museen zeigen, istklein. Es gibt viel-
leicht zehn Prozent andereObjekte in
den Depots,die hin undwieder in eineVi-
trinekommen.Die anderen80bis 90 Pro-
zent schlummernweiter in den Depots
oder wurdenteilweise sogar nochnie ge-
zeigt.Die Debatteumvirtuelle und mate-
rielle Restitution bietetaucheine Gele-
genheit, die Sammlungen neu zu denken.
Es gibt nochsoviele Möglichkeiten, Ge-
schichten zu erzählen.
Parzinger:Die gigantischen Zahlen
vonObjekten in den Depots, hunderttau-
send, fünfhunderttausend–das sind na-
türli ch nicht alleshochkarätigeKunstwer-
ke.Vieles sind Gebrauchsgegenstände,
manchmal Hunderte vonPfeilspitzen aus
einerZeit.Aber die Erfahrung mit Ha-
waii, die Sie ansprechen, haben wir mit
anderen CommunitiesinNordamerika
auchgemacht.Vor zwei Jahren haben wir
neun Grabbeigaben an die ChugachCor-
poration im südlichen Alaskarestituiert.
Sie haben inganz Europa Objekte ihrer
Vorfahren untersucht.Wir besitzen zwei-
hundertStücke im Ethnologischen Muse-
um. Sie haben sie alle digitalisiertund er-
forscht, und dann haben siegenau neun
Objektezurückgefordert,weil diese aus
Gräberndamalsexistierender Gemein-
schaftenstammen, die man unerlaubtge-
öffnetund geplünderthat. Sie haben auf
Gesetzevondamalsverwiesen, die Grab-
raub verbieten. Da sie eine klareVorstel-
lung davonhatten,werder rechtmäßige
Empfänger ist, konnten wir über die
Rückgabe relativ schnell entscheiden.

Wer wäredenn ein rechtmäßigerEigen-
tümer, wennverschiedene Gruppen auf-
grundvon historischen Konfliktenim
Widerstreit stehen? Wie sehen IhreEr-
fahrungen mit solchenFällenaus?
Snoep:Natürlichist es kompliziert. Je-
des Objekt und jeder Einzelfall hat seine
eigenen Spielregeln undKomplexität.Es
isteine Frageder Fairnessund der Diplo-
matie, und manchmalkann es auchschei-
tern.Wir können auchnicht erwarten,

dassalle anderen Akteuredie gleichen
Strukturen haben wie wir.Aber das darf
keine Begründung dafür sein, nein zu sa-
gen.

Der deutsche Staat verhandelt derzeit
mit den Hohenzollern über deren Rück-
gabeforderungen. Dabei geht es mindes-
tens implizitauch um geschichtspoliti-
schen Einfluss. Gibtes Vergleichbares
bei außereuropäischenCommunitys?
EinReizthema istdie Sklaverei. Dieeu-
ropäischen Kolonialmächte, die Skla-
venaus Afrika verschifften,warenEnd-
abnehmer in einemHandelsnetzwerk,
an demauchafrikanische Akteureteil-
hatten. Wiestellt man solche Zusam-
menhänge im Museum dar, ohne heuti-
ge Empfindlichkeiten zu verletzen?
Parzinger:Der Vergleichmit denHo-
henzollernlegt dieStichworte derVor-
schubleistung undKollaboration nahe. So
etwasgab es natürlich auch, obwohl solche
Vergleiche immerschwierigsind. Denken
SieanKönigNjoyavon Bamum imKame-
runer Grasland, der mitden Deutschenge-
meinsame Sache gegenseineGegnervor
Ortgemacht hat.Zur Stärkung dieserVer-
bindungschenkte er dem deutschenKai-
serseinenKönigsthron, der sich bisheute
in der Sammlungdes Ethnologischen Mu-
seumsbefindet.AlsdannRudolfManga
Bell ,der Königder D uala, der in Deutsch-
land Jura st udiertund Petitionenanden
Reichs taggeri chtethatte,vonder deut-
schenKolonialverwaltungwegenHochver-
rats angeklagtund hingerichtetwurde,
wertratdaalsKronzeugegegenihnauf?
König Njoya. Wirmüssen Geschicht eso
darstellen ,wie sie sich tatsächlichereignet
hat. Aber auch mitNachkommenvonKö-
nig Njoya muss man überdie Erwerbungs-
geschi chte sprechen. Für michist im Ein-
zelfallentscheidend:Woherkommen die
Dinge?Eswäre ja trotzdemmögli ch,dass
man sieihm abgepresstodergeraubthat.
Snoep:Ja, alles istsehr komplex. Aber
wersagt, dasseskomplexist?Wer
spricht in Museen?ImRautenstrauch-
Joest-Museum planen wir fürNovember
2020 eineAusstellung überkolonialen
und postkolonialen Widerstand. Dabei
haben wir unsgefragt:Wiebekommen
wir Vielstimmigkeit in dieAusstellung?
Es gibt einKollektivvonKuratoren.Aber
wir stellen aucheinigeautonomeRäume
zur Verfügung. Aktivistenund Künstlern
aus demglobalen Südenwerden siekura-
tieren und beispielsweise ihrePerspekti-
ve auf den Genozid an den Hereround
Nama oder auf denRaub der Beninbron-
zen zeigen. Ob man damit einverstanden
istoder nicht, Museen sind auchdemo-
kratische Orte.Und Demokratie istein
Prozess, „ein unendliches Projekt“, wie
es vonJacques Derrida beschrieben wird.
Sieredenüber den transatlantischen Skla-
venhandel.Natürlichwaren afrikanische
Königtümer daran beteiligt.Aber wasbe-
deutet „beteiligt“, inwieweit haben sie
profitiert? Daskann man zeigen.Und
deswegen müssen wir unsereMethodik
und unserekuratorische Praxis neu den-
ken. Wiekriegt man ein diversesPerso-
nal, das dieVielfalt der Gesellschaftwi-
derspiegelt?Wasist eine multiperspekti-
vischeAusstellung?
Parzinger:Die zentraleFrageist:Wer
entscheidet, wie man zusammenarbeitet,
welche Themen man zeigt?Wirhaben
Kuratorenvom tansanischenNationalmu-
seum in Daressalam eingeladen, einen
Raum zu Ostafrika im Humboldt-Forum
zu gestalten, Schwerpunkt deutscheKolo-
nialgeschichte, Maji-Maji-Krieg. Das In-
teressantewar für mich, dassdie Kurato-
rensagten,siehättennochanderespan-
nendeKapitel in ihrer Geschichte, die sie
ebenfalls erzählenwollten.

Es wird also andereFormate geben, an-
dere Methoden,andereErzählungen.
Aber wie musssich eigentlich die große
Erzählungdes ethnologischen Museums
verändern? Bisher hieß es beim Hum-
boldt-Forum,man wolle denReichtum
derWeltkulturendarstellen. Muss jetzt
stattdessen diedüstere Geschichteder
kolonialen Expansion desWestensim
Zentrumstehen?Kehrt der Blick, der
sich von Europaaus auf die Welt rich-
ten wollte, wiedernach Europa zurück?
Snoep:Wie erzählen wir diesegroße Er-
zählung?Vielleicht mussman sichzu-
nächsteinmal eingestehen, dassviele
Menschen diese Weltgeschichteüber-
hauptnichtkennen.Über afrikanische
Königreiche müssen wir elementares
Wissen vermitteln. Ein historischerZu-
gang zu den Gegenständenfehlt mir ei-
gentlichinallen ethnologischen Museen.

Werdenethnologische Museen also zu
Museen der Kolonialgeschichte?
Snoep:Nein, weil es nicht nur dieKoloni-
algeschichtegibt.Das derzeitigeöffentliche
Interesse an dieser Epoche holtallerdings
etwa snach,wasdie Museenversäumt ha-
ben.Als ic himMusée duquai Branlyarbei-
tete ,hatte ichden Auftrag, einenRaum
überdie französischeKolonialgeschichte
zu schaffen. Ein Jahrvorder Eröffnung
wurde sie dann dochineine Schubladege-
packt.Wirschrieben das Jahr 2005. Das
würde das Muséedu quai Branlyheute
nicht mehr tun, auchnicht das Humboldt-
Forum, kein einzigesethnologisches Muse-
um. Aber sowaresdamals.Undnochim-
mer gibt es sehrwenig permanenteRäume
in ethnologischen Museen für das Thema.
Parzinger:Viele unserer Gesprächs-
partner in den Herkunftsländernsagen:
EureSammlungen sind imZeitalter des
Kolonialismus entstanden, deshalb müsst
ihr aufpassen, dassihr nicht ein Bildvon
uns aus dieserZeit perpetuiert.Undda
wirddie Zusammenarbeit nocheinmal be-
sondersinteressant,wenn man die Ent-
wicklungslinien bis in die Gegenwart zie-
hen will.UnserePartner in Afrikaoder
Lateinamerikasagen nämlich:Wirwol-
len, dassdie Menschen im Humboldt-Fo-
rumauch erfahren, wie wir heuteleben,
welche aktuellen Probleme wir haben.

Aber es heißtnun einmal Humboldt-Fo-
rum,nicht Benin-Forum. Undessoll
von der Entdeckung der Welt durchdie
Augen Europas handeln.Wird diese
Entdeckung, diese Neugier auf Fremdes
unter postkolonialen Vorzeichennach-
träglich unterVerdacht gestellt?
Parzinger:Wir müssen in derTatauf-
passen, dassdas Interesse nicht erlischt,
weil es so überfrachtetwirdmit einem un-
fassbarenVerdacht .Egalmit wemman
spricht, immerheißt es: Humboldt-Fo-
rumoder Ethnologisches Museum, das
istjaalles gestohlen. Ein Schwarzweiß-
bild istsehr geschickt und sehr massiv in
die Öffentlichkeitkommuniziertworden.
Wenn mir die Leuteimmer sofortsagen,
dasssie beimStichwortHumboldt-Fo-
rumanDiebesgutdenken, dann merke
ich, man mussaufklären. In derAusstel-
lungwollen wirversuchen, den Blickzu
drehen und das Interesse zuwecken.

In Gemäldegalerien wurdendie meisten
Bilder aus Kirchen übernommen und
sehrhäufig auch geraubt. Es hat span-
nende Ausstellungen dazu gegeben, der
Antiklerikalismus und der raffende
Staat sind in unser Geschichtsbild einge-
gangen. Wärees aber nicht merkwürdig,
wenn jedesBild in den Gemäldegale-
rien miteiner kritischenDarstellung der
Erwerbungsgeschichte versehen wäre?
Snoep:Das kann man nichtvergleichen
mit außereuropäischen Sammlungen. Wir
wohnen hier in einerchristlichenWelt,
wir haben ein Kreuz auf dem Humboldt-
Forum. Die Besitzübertragung an kirchli-
chem Kunstbesitzwaralso etwasInter-
nes.Wirreden dochhier über fünfhun-
dertJahreEroberungsgeschichte. Esgab
natürlichauchNeugier,sicher.Aber wie

neugierigwarCortés, undwelche Spuren
hat er hinterlassen? Meine Kinder sind in
Paris, Dresden undKöln zur Schule gegan-
gen. DieKolonialgeschichtekommt im
Geschichtsunterrichtnicht oder kaum
vor. Manredetnicht über die unglaubli-
chen traumatischen Langzeitwirkungen
der EroberungvonLateinamerika. Man
solltenicht zu schnell an der Moralisie-
rung Anstoß nehmen.Über Jahrzehnteha-
ben wir diese dunkle Geschichtenoch
mehrverdunkelt und nichtgezeigt.

LautBazon Brockerfüllt dasMuseum
eine Funktion derBefriedung, indem es
Objekte, um welchedie Leute sich buch-
stäblich die Köpfe eingeschlagen haben,
für das Studium und die Bewunderung
präpariert. Wennnun die Objekteim
ethnologischen Museum stärker in ih-
rem historischen Kontextpräsentiert
werden und gleichzeitig in einerGegen-
wartsbedeutung, für die sich diaspori-
sche Communitys mobilisieren lassen,
wird dann dieser Befriedungseffekt
nichtviel schwieriger zu erreichen sein?
Parzinger:Ich glaube, dassman eine
solche Befriedung schon erreichenkann,
aber es istein langerWeg, und wir müs-
sen erst durch eine Phasekontroverser
Diskussionen hindurch.Diese Phaseist
wichtig,gerade damitethnologische Mu-
seen eineZukunfthabenkönnen.
Snoep:Ich sehe Museen nicht nur als
Orte der Bewunderung.Undman muss
nichtversuchen, immer einenKonsens
unter allen Gruppen zufinden, die mit be-
stimmten Objekten eigene Erinnerungen
verbinden. Daswäre auchlangweilig.
Das Schöne an Museen ist, dasssie Räu-
me sind, die als solchegerade keine linea-
renErzählungenvorgeben. Man denkt
im Raum undkann imRaum erzählen.
Die Bedeutung derAtmosphäre, modern
gesprochen: der Ambiance, im Museum
wirdvielleicht nochunterschätzt.Esist
an uns und an vielen, zuversuchen, eine
Balance zufinden, damit jeder seine Er-
zählungfindenkann und sichmit dem
Ortdes Museums identifiziert.

Die Fragenstellten Patrick Bahners und
AndreasKilb.

Mansollte


nicht zu schnell


an derMoralisierung


Anstoßnehmen.


NanetteSnoep

DasInteresse


wird befrachtet


miteinem unfassbaren


Verdacht.


HermannParzinger

Nanett eSnoep, in Utrechtgeboren,stu-
dierte Ethnologie und Kulturmanage-
ment.Sie gehörte zum Gründungsstab des
2006 eröffnetenMusée duquai Branlyin
Paris. Von2015 an leitetesie die drei Mu-
seen der Staatlichen Ethnographischen
Sammlungen Sachsen. Seit 1. Januar 2019
istsie Direktorin desRautenstrauch-Jo-
est-Museums derStadt Köln. Der ausMün-
chen stammende PrähistorikerHermann
Parzinger istseit 2008 Präsident derStif-
tung PreußischerKulturbesitz und damit
zuständig für das Humboldt-Forum, des-
sen Gründungsintendanz er mit Horst Bre-
dekampund Neil MacGregor bildete und
dessenStiftungsrat heutetagt. F.A.Z.

Museumsköpfe


’’


’’


Wie


neugierig


war


Hern án


Cortés?


Die Kolonialismusdebatteals Chance:


Nanett eSnoepund HermannParzinger


reden über das Humboldt-Forum und


die Zukunftethnologischer Museen.


Diese Holzskulptur
(Bateba) desVolks
der Lobi im
heutigen Burkina
Faso erwarb das
Rautenstrauch-
Joest-Museumvor
zehn Jahren. Die
Lobiglauben, dass
die Batebasterben,
wenn sie zustark
verfallen.
FotosRheinisches Bildarchiv
Köln/RJM/
Marion Mennicken

FotosVeraMarusic (links), dpa

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