Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.03.2020

(Darren Dugan) #1

D


ie Nachtwar längstangebro-
chen in der MessehallevonTel
Aviv,als BenjaminNetanjahu
auf die Bühnekam, um einen
Sieg zuverkünden.Undals der amtieren-
de Ministerpräsident nochdabeiwar, sich
bei Helfernund Gefährtenzubedanken,
antworteteihm eine frenetische Menge
mit Sprechchören, die klarmachten,wer
dereigentliche Gegnergewesenist bei die-
ser Wahl: „Mandelblit,gehnachHause“,
skandiertendie Likudnikim. MitAvichai
Mandelblit istIsraels Generalstaatsanwalt
gemeint, dervornicht allzu langerZeit sei-
ne AnklageschriftindreiKorruptionsfäl-
len gege nNetanjahu eingereicht hat. In
zweiWochen beginnt der Prozess.Trotz-
dem hatNetanjahu mit seinem Likud die
meistenStimmen erzielt und sogar noch
hinzugewonnen imVergleichzur Wahl im
vergangenen September,die keine Regie-
rung hervorbringenkonnte.
„Wir warentotgesagt“,rief Netanjahu,
„unsereGegner sagten, die ÄraNetanjahu
istvorbei.“ Man habe „enormen Kräften“
gegenübergestanden, soNetanjahu, und
es schien, als meinteerdamit nicht nur sei-
nen Herausforderer,den ehemaligen Ge-
neralstabschef BennyGantz.„Wir haben
aus Zitronen Limonadegemacht!“
DochauchwennNetanjahu einen sü-
ßen Sieg über Gantz errungen hat, dessen
Parteiprogrammwenig gravierendeUn-
terschiede zu dem des Likud aufwies, son-
dernder vorallem angetretenwar,umdie
„kor rupten Machenschaften“ an der Spit-
ze desStaates zu beenden, soverfügt das
Lager des amtierenden Ministerpräsiden-
tendochauchdieses Mal nicht über eine
Mehrheit in der Knesset. Vordem amtli-
chen Endergebnis lagNetanjahus Block
aus nationalistischen undfrommenPartei-
en am Dienstagbei 59 Sitzen und damit
zwei unter der erforderlichen Mehrheit
des aus 120Abgeordnetenbestehenden
Parlaments.Eine ähnliche Situation wie
nachder Wahl imvergangenen April, als
keine weiter eParteidem BlockNetanja-
hus beitreten wollte–auchinErwartung
des Strafprozesses und des EndesvonNe-
tanjahus politischerKarriere.
Undwie schon imverg angenen Jahr be-
gann auchjetzt amTagnachder Wahl das
Geschacher um möglicheÜberläufer.„In
kur zer Zeit werden wir die ein, zwei oder

drei fehlendenStimmenvonder anderen
Seitezuuns gezogen haben“,verkündete
ein Mann aus demStab Netanjahus.Viele
Abgeordnete der Blau-Weiß-Parteivon
GantzwareneinstselbstimLikud. Als
Erstesdementierte die gewählte Abgeord-
nete Omer Jankelevitsch, zum Likud über-
zulaufen, nachdem ein „Haaretz“-Journa-
listberichtet hatte, der Likud drängesie
dazu unter der Drohung, peinlicheTon-
aufnahmenaus ihrem Privatleben zuver-
öffentlichen.
Mit einer eigenenMehrheit könnte Net-
anjahudie VerabschiedungvonJustizre-
formen vorantreiben,wie es sein eigener
Justizministerbereits 2019 angedeutet
hatte.Vorallem einUmgehungsgesetz,
das es der Knesseterlauben soll, mit einfa-
cher Mehrheit Entscheidungen desObers-
tenGerichts rückgängig zu machen. Die-
ses Vorhaben bezieht sichauchauf das so-
genannteNationalstaatsgesetz, das Israel
als alleinige Heimat des jüdischenVolkes
erklärtund denStatus der arabischen
Sprache heruntergestufthat;der Oberste
Gerichtshofüberprüftderzeit, ob dies mit
den Grundgesetzen Israelsvereinbar sei.
Dochkönnteein Umgehungsgesetz es
Netanjahu aucherlauben, sichgegen Ent-
scheidungen des OberstenGerichts im
Parlament eine ImmunitätvorStrafverfol-
gung zu besorgen. SollteNetanjahu eine
Regierung bildenkönnen, ist„die größte
Sorge nur eines:Wird der Rechtsstaat be-
schädigt?“, fragte der Richte rElijahu Mat-
za, ehemaligerVizepräsident des Obers-
tenGerichtshofs. „Nur eineFragewar auf
der Agenda“ dieserWahl, sagteer: „Ob
Netanjahuals Ministerpräsident dienen
kann angesichts seiner Anklagen.“
Undsoläuftdie Lageauf einenweite-
renKonflikt zwischenNetanjahus Lager
undden Gerichtenhinaus, selbstwenn

sein Block keine Mehrheit erreicht .Am
Dienstagwurde einePetitionvordem
OberstenGericht in Jerusalem einge-
reicht ,auf dass ein unter Anklagestehen-
derPolitiker nicht mitderFührung von
Koalitionsgesprächenbetraut werden
dürfe.Laut Gesetz mussein gewählter
Ministerp räsidentnicht zurücktreten,
wenn er im Amtangeklagt wird.Obdies
jedoch auch auf einen amtierendenMi-
nis terpräsidenten einerÜbergangsregie-
rung zutrifft,darüber müssen jetzt die
Richter entscheiden. Dasssichviele,
wenn nicht sogar eine Mehrheit der Israe-
lis invollemWissen der Anklagefür Net-
anjahu und damit indirekt gegendie Jus-
tiz ausgesprochen haben,macht die Sa-
chenicht einfacher.
Der Herausforderer Gantz hattesich
im Wahlkampf letztlichvor allem als un-
korrupte Variation Netanjahus präsen-
tiert, ohne mehr zuverkörpern. „Uns ist
es nichtgelungen, zu sagen,wofür wirste-
hen undwarumwir eine Alternativewa-
ren“, sagteder einstigeMossad-Vizechef
RamBen Barak in derWahlnacht, der
heuteals Abgeordnetervon Blau-Weiß in
der Knessetsitzt.Die Spitze derPartei
setzt sichaus ehemaligen Generälen und
Geheimdienstleuten zusammen,vonde-
nen einigeeinstunter RegierungenNetan-
jahusgedient hatten.Undwährend der
Ministerpräsi dent seineAgenda setzte,
als ervonharterHand gegenIransprach
oder mit der amerikanischenRegierung
den Nahostplanvorstellte, der es Israel er-
lauben würde,weiteTeile des besetzten
Westjordanlandes zu annektieren,stimm-
tendie GenerälevonBlau-Weiß dem
grundsätzlichzu. AlsNetanjahu imWahl-
kampfimmer wieder davorwarnte, dass
Gantz eineRegierung nur mit der mehr-
heitlicharabischenVereinigten Liste bil-
den könne und dies eine Gefahr für Israel

darstelle,reagierte Gantz nicht, indem er
sichgegenRassismus und für dengesell-
schaftlichenZusammenhalt aussprach–
sondernindem seinePartei verkündete,
„nur mit einer jüdischen Mehrheit“regie-
renzuwollen.
Dies scheint den ersten Ergebnissen zu-
folgezwarkeineWählervonrechts zu
Blau-Weiß geführtzuhaben, hat aber die
VereinigteListe gestärkt :Sie erzieltemit
15 oder sogar mehr Sitzen das beste Ergeb-
nis ihrer Geschichte,waseinerseits den
Willen vieler arabischer Israelis zeigt, sich
am politischen Leben desStaates Israel zu
beteiligen undsichdiesemnicht zuverwei-
gern,andererseits auchbedeutet,dassdie
letzten frustriertenlinken Israelis ihre
Stimme dieser Partei gaben und nicht
mehr ihrem alten Lager:Die zentristische
Arbeitspartei, die sichaus Sorge vorei-
nem Scheiternander 3,25-Prozent-Hürde
mit der sozialkonservativen Gesher-Par-
teiund der linken Meretzzusammenge-
schlossen hatte,kamselbstimVerbund
auf gerade einmal sechs Sitze.
Mit oder ohne Netanjahu scheint sich
an dergrundsätzlichenAusrichtungder is-
raelischenPolitikalso wenig zu ändern,so-
fern es imZuge des Strafprozesses nicht zu
einerVerfassungskrisekommt.Angesichts
der abermals unklarenMehrheitsverhält-
nisse schlossauchGantz einegroße Koali-
tion mit dem Likud nicht mehr aus–an-
ders als nochimWahlkampf, als erver-
sprochen hatte, mit einem angeklagtenPo-
litikernicht zukoalieren. Nunabersagte
er:„Unabhängigvonden Wahlergebnis-
sen oderjedwedem anderen politischen
Vorgang werden Kriminalverfahren nur
im Gericht entschieden.“Netanjahugab
sichgesprächsbereit.Essei Zeit für„Ver-
söhnung“, sagteervor seinen Anhängern.
Auch sagteer: „Wir müssen eineweitere
Wahl vermeiden.“ (Kommentar Seite 8.)

tja. MAINZ.Der LimburgerBischof
GeorgBätzing istneuerVorsitzender der
Deutschen Bischofskonferenz (DBK).
Der 58 Jahre alteGeistliche wurde am
DienstaginMainz mit einfacher Mehr-
heit der annähernd siebzigstimmberech-
tigten Mitglieder der Frühjahrsvollver-
sammlunggewählt.Bätzingfolgt auf den
ErzbischofvonMünchen undFreising,
ReinhardKardinal Marx, dervordreiWo-
chen überraschend erklärthatte, nicht für
eine zweiteAmtszeitzur Verfügung zuste-
hen. Bätzing, der 2016vonPapstFranzis-
kusals NachfolgervonFranz-Peter Te-
bartz-van Elstzum BischofvonLimburg
ernannt wurde, istder er steLimburgerBi-
schof an der Spitze der Deutschen Bi-
schofskonferenz.
Bätzing sagtenachseinerWahl, er habe
auf demWegzur Vollversammlung nicht
damitgerechnet, dasser„auf dieseWeise
im Fokusstehen würde“. SeineWahl be-
greifeerauchals „geistliches Element“.
„Der liebe Gott spielt halt aucheine Rol-
le“, sagteer. Wieviele Wahlgängeerfor-

derlichwaren, wollteBätzing zunächst
nicht sagen; es seien aber nicht „wesent-
lichmehr als zweigewesen“. Gemäß den
Statuten der Bischofskonferenz istinden
ersten beidenWahlgängen eine Zweidrit-
telmehrheit nötig,vomdrittenWahlgang
an reicht die einfache Mehrheit.Offizielle
Kandidaturen gibt es nicht.
Als zentrale Themen zu Beginn seiner
sechsjährigen AmtszeitnannteBätzing
dieAufarbeitung der Ergebnisse der Miss-
brau chsstudie, dieFortsetzung des „Syn-
odalenWegs“ sowie den Ökumenischen
Kirchentag inFrankfurt2021. Die Miss-
brauchsstudie zeige, dass„wir Verände-
rungsbedarfinder Kirchehaben“, sagte
Bätzing. Mit Blickauf die Beratungen der
Bischöfeüber höhereEntschädigungszah-
lungen für Missbrauchsopfer äußerte Bät-
zing die Hoffnung, dassman den Betroffe-
nen gegenüber „transparent“ machenkön-
ne,warum man so langefür eineNeurege-
lunggebraucht habe, und die Bischöfeein
Ergebnis erzielten, das in Kircheund Ge-
sellschaftverstandenwerde.

Der neue DBK-Vorsitzende bekannte
sichnachdrücklichzum „Synodalen
Weg“, demvorkurzem eröffnetenDialog-
prozessüber kirchlicheReformen. „Ich
bin sehr überzeugt davon, dassdas eine
Artdes Einübens eines neuen Miteinan-
dersvon Laienund Bischöfen ist“, mit
dem Ziel, das Evangelium in „die Breite
unserer Gesellschafthineinzutragen“, sag-
teBätzing. Dafürstehe er „ganz undgar“.
ZurökumenischenZusammenarbeit mit
der evangelischen Kirchesagteer: „Ich
bin überzeugt, das wir als Christinnen
und Christennur gemeinsam,nur konfes-
sionsübergreifend, eineWirkung haben
werden.“
BätzingsVorgängerKardinal Marxhat-
te mit seinem als autoritär empfundenen
FührungsstilUnmut unter den Bischöfen
hervorgerufen. Bätzing zollteMarxRe-
spekt, machtejedochzugleichdeutlich,
dassereine kollegialereAmtsführung an-
strebe. Er habe sichvon Marx„sehrver-
treten“ gefühlt, aber:„Ichbin kein zwei-
terReinhardMarx. Ichbin GeorgBät-

zing.“ Als solcherwolle er in derihm eige-
nenWeise sein Amt ausfüllen. Bätzing
kündigtean, die Bischofskonferenz in der
Öffentlichkeitkünftig nicht alleinreprä-
sentieren zuwollen und die 14Vorsitzen-
den der DBK-Fachkommissionen für die-
se Aufgabestärkereinbinden. „DerVorsit-
zendederBischofskonferenzistnichtder
Experte für alles“, sagteBätzing. Mit
Blickauf die jüngstenUnstimmigkeiten
zwischen dem Vatikan und der Deut-
schen Bischofskonferenz sowie dievatika-
nischen Ämter seinesVorgängersMarx
sagteBätzing: „Ichkann nicht alles,was
da gefordertwird.“ Er sprechekein Italie-
nischund verfügeauchnicht über Erfah-
rungen im Umgang mit denvatikani-
schen Behörden. „Da hoffe ichauf Unter-
stützung und habe die auchschon zuge-
sagt bekommenvondenen, die den La-
den kennen.“ Der DBK-Vorsitzende leitet
die Vollversammlungen der Bischöfe, hat
aber einerein repräsentativeFunktion
und istgegenüberdenanderen Bischöfen
nichtweisungsbefugt.

Her./frs.ANKARA/MOSKAU. Vordem
Treffender PräsidentenRusslands und
der Türkei, Wladimir Putin undRecep
Tayyip Erdogan, am DonnerstaginMos-
kausichertdas russische Militär Gelände-
gewinne in der nordwestsyrischen Pro-
vinz Idlibmit eigenenTruppen ab. Mili-
tärpolizei und Spezialkräfte sind lautrus-
sischen Medienberichten in die Stadt Sa-
raqib eingerückt.Dies erfolgte demnach
kurz nachder Rückeroberung derstrate-
gischwichtigenStadt durchTruppendes
DamaszenerRegimes und derHizbullah-
Miliz unterrussischerLuftunterstützung.
Das RegimehatteSaraqib schon Anfang
Februar zurückerobert.Doch hattenRe-

bellengruppenmit türkischerUnterstüt-
zung dieStadtEndevorigerWochenach
mehreren Versuchen neuerlich einge-
nommen.Die Präsenzder Russen soll
nunverhindern, dassdie Türkei eine
neue Offensive auf Saraqib unterstützt,
denn Erdogan willkeine direkteKonfron-
tation mit Moskau. LautMedienberich-
tenstelltedas türkische Militärnachdem
Einrückender Russen Angriffedurch
Drohnen ein. Putins Sprecher,Dmitrij
Peskow,sagte, manhoffe darauf, dass
Russland und dieTürkei dank derKon-
takte zwischen den Militärs beider Län-
der das Risikoeiner Konfrontation „abso-
lut minimierenkönnen“.

Dasrussische Militärgabderweil zu,
dassMenschenwegender Kämpfe um Id-
lib geflohen sind; es seien „rund
200 000“. EndeFebruar hattedasselbeMi-
litär Berichteder Vereinten Nationen,
nachdenen seit Anfang Dezemberrund
900 000 Menschen, überwiegendFrauen
und Kinder,inIdlib auf der Flucht sind,
nochals unbelegt zurückgewiesen.Au-
ßenministerSergejLawrowsagte,Russ-
landverstehe „vollkommen“, wie schwie-
rig„Migrantenprobleme“ für die EU sei-
en, und führemit ihr einen Dialog dazu.
„Aber wirwerden nicht aufKosten der Be-
endigung desKampfesgegen denTerro-
rismus bei der Lösung der Migrationspro-

bleme helfen, wie das einigePolitiker in
Europafordern.“ Moskaustellt den Ein-
satz für das Assad-Regime als Antiterror-
operation dar.Putins Sprecher wies der-
weil den Bericht der 2011 eingerichteten
UN-Untersuchungskommission zu Sy-
rien, dieRussland am Montag Kriegsver-
brechen inIdlib inForm von„wahllosen
Angriffen in zivilen Gebieten“ imvergan-
genen Sommer vorgeworfenhatte, als
„einseitig“ zurück. Allerdings erhebt der
UN-Bericht sehrwohl auchVorwürfe ge-
genMilizen undgegendie Türkei. Das tür-
kischeVerteidigungsministerium gabder-
weil denAbschussvon zwei syrischen
Kampfflugzeugen bekannt.

Netanjahussüßer Sieg: Hochstimmung im Likud-Wahlkampfzentrum inTelAviv am Montagabend FotoAFP

Russland sichertGeländegewinne in Syrien


Neuerliche Offensiveauf Saraqib sollverhindertwerden/Treffen Putins und Erdogans am Donnerstag


 Wieviele Menschen sind seit 2011
aus Syriengeflohen?
Auskeinem anderen Land sind so viele
geflohen wie aus Syrien. Das Hochkom-
missariat derVereintenNationenfür
Flüchtlinge(UNHCR) gibt dieZahl der
Syrer,die das Land seit 2011verlassen
haben, mit 6,7 Millionen an. Derzeit le-
ben in Syrien 19,5 Millionen Men-
schen.6,6 MillionenvonihnensindBin-
nenflüchtlinge, die der Krieg zu einer
Flucht innerhalb des Landesgezwun-
genhat.IhreZahl nimmtstetig zu. Min-
destens jeder dritteBinnenflüchtling
istseit 2011 wiederholtvertriebenwor-
den. So handelt es sichbei mehrals der
Hälfte der Bevölkerung Idlibs um wie-
derholtvertriebene Binnenflüchtlinge,
die keine Chance mehr hatten, insAus-
land zufliehen. DieZahl der übrigen
FlüchtlingeistseitMärz2016,seitdie
Nachbarstaaten nur nochwenige
Flüchtlingeaufnehmen, nur nochge-
ring gestiegen.
Unterdem Mandat der UNHCR sind
auf derganzen Welt 20,4 Millionen
Flüchtlingeregistriert. Vonihnenstam-
men 67 Prozent aus fünf Ländern:Ne-
ben Syrien sind das Afghanistan(2,
Millionen), Südsudan(2,3 Millionen),
Burma (1,1 Millionen) und Somalia
(900 000).
 Waswaren die wichtigstenEckda-
tender syrischen Fluchtbewegung?
Im März2013 hattedas UNHCR in Sy-
rien erst 420 000 Flüchtlingeregis-
trier t. Noch bestand die Hoffnung, dass
der Krieg bald zu Endegehenwerde.
Zwischen 2013 und 2016gabesjedoch
viergroße Fluchtwellen. Dreivonih-
nen wurdenvonOffensiven des Re-
gimes ausgelöst; Syrer,die nicht unter
demRegime lebenwollen,flücht eten
ins Ausland.Auslöser der viertenWelle
warder Eroberungsfeldzug dschihadis-
tischer Milizen inNordsyrien.
Die erstegroße Fluchtwelle begann
im April 2013, alsTruppen des Re-
gimes, unterstützt durch die libanesi-
sche Hizbullah, grenznaheRegionen
zum LibanonvonRebellengruppen zu-
rückerobertenund biskurz vorAleppo
vorstießen. DasRegime und die Hizbul-
lah erobertendie strategischwichtige
StadtalQusair nahe derGrenze zum Li-
banon.Kurzdaraufüberstieg dieZahl
der Flüchtlingeerstmals die Grenze
voneiner Million.
Die nächste große Fluchtwelle zog
sichüber zwölf Monatehin und dauerte
vonSeptember 2013 bis September
2014 an. In dieserZeit stieg dieZahl
der Flüchtlingekontinuierlichvon zwei
auf drei Millionen. EinAuslöserwar
die erste große Offensivedes Regimes
auf Aleppo; in den ersten drei Quarta-
len 2014kamder Siegeszug dschihadis-
tischer Milizen inNordsyrien hinzu.
Einen nochgrößeren Exodusgabes
im Januar 2015, als dieNusra-Front,
ein AblegervonAlQaida, die Provinz
Idlib und andereRegionen imNordwes-
tenSyriens eroberte.Die letztegroße
Fluchtwelle löste vonAugust2015 bis
April 2016 die Schlacht um Aleppo aus.
Im Dezember 2016 nahmen dievonira-
nischen Milizen und der russischen
Luftwaffeunter stütztenTruppen des
Regimes Aleppo ein.
 In welchen Ländernleben die
meistensyrischen Flüchtlinge?
Die Türkei hat 3,6 Millionen Flüchtlin-
ge aufgenommenund damitmehr als je-
des andereLand.Aufgrund des Gebur-
tenzuwachses wird dieZahl der Syrer
in derTürkei auf bis zu vier Millionen
geschätzt.Der Libanon nahm 930 000
syrische Flüchtlingeauf, womit etwa je-
der fünfte Einwohner des Landesein sy-
rische rFlüchtling ist.In Jordanienregis-
trier te das UNHCR 660 000 Flüchtlin-
ge,imIrak(insbesondereinder autono-
men Kurdenregion) 245 000 und in
Ägypten130 000. Kanada hat etwa
100 000 syrische Flüchtlingeaufgenom-
men, dieVereinigtenStaaten 20 000.
 Wieviele syrische Flüchtlingesind
in die EU und nachDeutschlandge-
langt?
Seit 2011kametwaeine Million Syrer
nachEuropa. Dortbeantragten die
Menschen Asyloder sind als Flüchtlin-
ge registriert. In Deutschland leben
780 000 Syrer;nur in derTürkei und im
Libanon haben sichseit dem Beginn
des Krieges mehrSyrer niedergelassen.
In Deutschland lebten nachAngaben
des Auslandszentralregisters am 30.
Juni 2016 rund 1,3 MillionenMen-
schen, die Schutz bekommenhaben.
Sie sind entweder Flüchtlingenachder
Genfer Flüchtlingskonventionoder er-
halten subsidiären Schutz. In Schweden
lag dieZahl der Syrer 2011 nochbei
20 000;sie is tseither auf160 000gestie-
gen. In allen anderen EU-Ländernist
die Zahl der syrischen Flüchtlingewe-
sentlichgeringer.
 Überwelche Routenflohen die
Flüchtlinge?
Die meistenSyrer ,die sichauf denWeg
nachEuropagemacht haben, nutzten
erst die östliche Mittelmeerroutevon
der Türkei nachGriechenland. Von
dortnahmen sie diewestliche Balkan-
Route. Im Migrationsjahr2015 wurde
die Zahl derer,die überdie östliche Mit-
telmeerroutenachGriechenland ge-

langten, auf 885 000geschätzt.ImJahr
zuvorwarenesnur 51 000 Menschen ge-
wesen. Dochdie Zahl sank später wie-
derrapide. 2016 warenesnur noch
182 000 Flüchtlinge, nochein Jahr spä-
terlediglich42000. Eine signifikante
Zunahme wurde erst wieder 2019 als
Folgeder sichverschlechternden Situa-
tion in Syrien und Afghanistanregis-
trier t. Die Zahl stieg wieder auf 82 000.
Parallel zu den Ankunftszahlen über
das östliche Mittelmeer entwickelte
sichauchder Migrationsstromauf der
westlichen Balkan-Route. Die Zahl
stieg im Jahr 2015 zunächstdramatisch
an, von43000 auf 764 000; sie ging in
den Folgejahren jedochebenso zurück,
von130 000 Menschen im Jahr 2016
über 12 000 im Jahr 2017 und 5000 im
Jahr 2018.Neben Syrernbenutztenvor
allem Afghanen und Iraker diese
Route. Neben der Schließung derwestli-
chen Balkan-Routewardas Flüchtlings-
abkommenzwischen der EU und der
Türkei ,das am 20. März2016 unter-
zeichnetwurde, derwesentliche Grund
für diesenRückgang.
Die zentrale Mittelmeerroutevon
NordafrikanachItalienwarfür syri-
sche Flüchtlingenie vonBedeutung.
Sie wurde und wirdvorallemvonMi-
granten aus Afrikabenutzt. Die höchs-
tenZahlen wurden in den Jahren 2014
bis 2016 mit 171 000, 154 000 und
181 000 Menschenregistriert.
 Gibt es Heimkehrer nachSyrien?
Die Internationale Organisation für Mi-
gration (IOM) gibt dieZahl derRück-
kehrer mit 173 000 an. Sie hat ihrRück-
kehrprogramm aufgrund der prekären
Sicherheitslagejedochausgesetzt.Wie-
derholt haben Gastländerversucht, Sy-
rerzueiner Heimkehr zu bewegen, je-
dochnur mit mäßigem Erfolg. Ausdem
Libanon sind nachAngaben derRegie-
rung in Beirut in den Jahren 2018 und
2019 rund 100 000 Syrer zurückge-
kehrt, mehr als aus jedem anderen
Land. Jordanien gibt für denselbenZeit-
raum dieZahl vonachttausendRück-
kehrer nan.
AusDeutschlandkehrtenetwaacht-
hundertSyrer in ihreHeimat zurück,
ausgestattet mit einerStarthilfevon je-
weils 3500 Euro. Die meistenließen
sich, weil sie Gegner des Assad-Re-
gimes sind, in derRebellenprovinz Idlib
nieder,und sehr viele bereuten, so der
Tenor in Presseberichten, ihre Rück-
kehr nachSyrien.
EinerRückkehr steht neben der Si-
cherheitslageentgegen, dassdas Re-
gime Baschar al Assads solche Bewe-
gungenverhindernwill. So erleichtert
das Dekret Nummer 10vonApril 2018
die EnteignungvonBesitzvonSyrern,
die das Landverlassen haben. DasRe-
gime fühlt sichumso sicherer,jemehr
Gegner das Landverlassen haben.
 In welchen Landesteilen Syriens
lebt es sichhalbwegs sicher?
Werunpolitischist und keine Kritik am
syrischenRegime äußert,kann in vie-
len Landesteilen unbehelligt leben. Das
Leben in der Hauptstadt Damaskusver-
läuftnahezu normal. In neun Jahren
Krieg istdie Abneigunggegendas Re-
gime jedochgewachsen. Diestaatliche
Repression hat ein niegekanntesAus-
maß erreicht.Wer aus diesem Grund
nicht aufvomRegimekontrollierten
Territorium leben will, hatwenigeOp-
tionen. InFragekommenvorallem die
vonden syrischenKurden verwalteten
Regionen imNordostenSyriens mit der
Hauptstadt Qamischli. Da es dortim-
mer wieder zu Anschlägen derTerror-
miliz „IslamischerStaat“kommt, istje-
doch auchdiese Region nicht sicher. Zu-
dem fürchten arabische Syrer,dasssie
vonden Kurden diskriminiert werden
könnten.
DieTürkeiversucht, die Belastung
durch die Flüchtlingeabzubauen, in-
dem sie vielevonihnen in denTeilen in
Nordsyrien ansiedelt, die die türkische
Armee kontrolliert. Sie hat Anfang
2018 die ehemals kurdischeProvinz
Afrin erobert; dortsollen seither
330 000 Syrer angesiedeltworden sein.
Weiter esolcher „Sicherheitszonen“ soll-
ten mit der Operation „Euphrat-
Schild“ im Jahr 2017 sowie der Opera-
tion „Friedensquelle“ im Oktober 2019
geschaffenwerden. DieTürkei warb
auchinternational dafür,auf der Fläche
der „OperationFriedensquelle“, die zu-
vorTeil derkurdischen Selbstverwal-
tungwar, neueStädtefür Rückkehrer
zu bauen,erhielt dafür jedochkeineUn-
terstützung.
 Wiegeht es für die Syrer in der
Türkeiweiter?
Die meistender mindestens 3,6 Millio-
nen Syrer in derTürkeileben seit mehr
als vier Jahren in dem Land.Nur sehr
wenigesind in Flüchtlingslagernunter-
gebracht, die meistenhaben sichinden
großenStädten integriertund Türkis ch
gelernt.Sie haben Arbeit undWohnun-
gengefunden, ihreKindergehen zur
Schule. Fürdie allermeistenkommt
aucheine Rückkehr nachSyrien unter
einemRegime Assad nicht inFrage.
Seit der Erklärung des türkischen Präsi-
denten Recep Tayyip Erdogan, die
Grenze nachEuropa sei für Flüchtlinge
offen, haben sichdortvor allem Afgha-
nen eingefunden.

Die Zitronen und das Recht


Bätzing Vorsitzender der Bischofskonferenz


Bischof aus Limburgfolgt auf den MünchnerKardinal Marx/Aufarbeitung des Missbrauchsskandals imZentrum


Die Tragödiedes



  1. Jahrhunderts


Wieviele Syrervordem Krieggeflohen sind undwo


sienunleben /VonRainerHermann,Ankara


Die Wahl in Israel bringt


abermalskeineklaren


Verhältnisse.Netanjahu


istSieger ohne


Mehrheit.EinePetition


machtihm zudemzu


scha ffen.


VonJochenStahnke,


TelAviv


SEITE 2·MITTWOCH, 4.MÄRZ 2020·NR. 54 FPM Politik FRANKFURTER ALLGEMEINEZEITUNG

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