Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.03.2020

(Darren Dugan) #1
Die Parole inWien lautet,„2015“dür-
fe sichnicht wiederholen. Gemeint
istdamit nicht nur die schiereZahl
an Menschen, dievorfünf Jahren
über die sogenannteBalkan-Route
nachÖsterreichkamen (und in der
Mehrzahl über Österreichnach
Deutschland, Skandinavienund in an-
dereLänderweiterzogen). Sondern
gemeint istdas Bild der Menschen-
massen, die mehr oderweniger unge-
hindertund unkontrolliertGrenzen
überquerten. Im Laufejenes Jahres
entwickeltesichsogar eine Gepflo-
genheit zwischenÄgäis und Alpen,
die Migranten möglichstschnell
durchsLand zur nächstenGrenze zu
befördern, um sie jeweils sokurz wie
möglichimeigenen Land zu haben –
sie wollten ja ohnehinweiter .Wie
aber soll ein solches Szenario jetzt
verhindertwerden?
ÖsterreichsInnenministerKarlNe-
hammer nannteamDienstag„drei Si-
cherheitsnetze“, die imUnterschied
zu damals aufgespannt seien. Das ers-
te sei die Sicherung an der grie-
chischen Grenze zurTürkei. Die euro-
päischenPartner müssten Griechen-
land dabei unterstützen. Das zweite
Netz, sagte Nehammer,sei derGrenz-
schutz inallen Ländernentlang der
Routen. Drittens seien die nationalen
österreichischen Grenzen besserge-
wappnet: Es gebe dortmehr Polizei
mit bessererAusrüstung, die Einsatz-
taktik sei erneuertworden, und der
Assistenzeinsatz des Bundesheeres
zum Grenzschutz sei ebenfallsverlän-
gert worden.
Wasaber,wenn doch einmal viele
Flüchtlingeauf demWegsind,weil
beispielsweise der Druckauf das erste
der vonNehammergenannten „Net-
ze“ zugroß geworden ist?Werden
dann nicht wieder die Interessen je-
des einzelnen Landes dazu führen,
dassdie Routedurch dessen Gebiet
durchlässig wird? Beispielsweise hat
jetzt der serbische Präsident Alexan-
dar Vučić,der in der österreichischen
„KleinenZeitung“ zitiert wurde, sei-
nen Adressaten ausgerichtet:„Wenn
jemand wirklichglauben sollte, aus
Serbien einenParkplatz für 100 000
oder 200 000 Migranten machen zu
können, isterimfalschenFilm. Wir
werden unsereInteressen schützen
und das nicht zulassen.“ Ohnedies be-
finden sichschon jetzt nachZahlen
vonUN-Organisationen schätzungs-
weise mehr als 115 000 Migranten in
denStaaten deswestlichen Balkans
und suchen nachWegen nachNord-
westen. Die ungarischeRegierung
veröffentlichtezudem am Dienstag
Zahlen, die aucheinen erhöhten
Druckauf den ungarischen Grenz-
zaun belegen. Allein in den ersten bei-
den Monaten dieses Jahres habe es
6500 Versuchegegeben, die Grenze il-
legal zu überqueren. 2019 seien es im
gleichenZeitraum 1500gewesen, im
Jahr davor1300.
Die Antwortdes österreichischen
Innenministers lautet,gerade das Ei-
geninteresse jedes Landes werde
dazu führen, dassesseine eigene
Grenze energischschütze, angefan-
genmit Nordmazedonien. „Je mehr
Deutschland und Österreichihre
Grenzen schützen, umsostärkerist
der Anreiz, dassauchsie ihreGren-
zen schützen.“ Mit anderenWorten,
Österreichsetzt wieder auf den „Do-
minoeffekt“, auf den es seit 2016 die
angebliche „Schließung der Balkan-
Route“ zurückführt, das politische
Markenzeichen des damaligen Au-
ßenministers und heutigen Bundes-
kanzlersSebastianKurz.Kurzmach-
te denn auchklar,dassersonsteinen
umgekehrtenDominoeffekt befürch-
tet. Er sagtenacheiner Sitzung der
zuständigen Regierungsmitglieder:
Wenn man zulasse, dassjetzt „Zehn-
tausende Menschen die Europäische
Union stürmen, dannwerden Hun-
derttausende nachkommen“.
Schuld an der Situation sei allein
der türkische PräsidentRecep Tayyip
Erdogan, der diesen„Angriff “gezielt
geplant habe.„Es isteine türkische
Aktion.Wenn wir nachgeben, dann
istdas Europa ohne Grenzennachin-
nen Geschichte.“NebenKurz stand
bei dieser Erklärung derVizekanzler
und Grünen-Vorsitzende Werner
Kogler.Was dieVerantwortung der
türkischenFührung für diese „bösarti-
ge Provokation“ betrifft,stimmteer
ganz mit seinenKoalitionspartnern
vonder ÖVPüberein. Ebenso,was
die Bereitschaftbetrifft, Mittel für
die Unterstützung der Flüchtlingein
der Region bereitzustellen. Aber:
„Geld in die türkische Kriegskasse
kann esvonSeiten der EU nichtge-
ben.“ Die Devise laute: „Menschlich-
keit und Ordnung.“Freilich: SeinVor-
stoß vomVortag, zumindestFrauen
und Kindervonden griechischen In-
seln zuevakuieren, hat er nicht na-
mens derRegierunggemacht, an de-
renSpitze er mitsteht, sondernals
Privatperson, das musste er am Diens-
tagklarstellen. Denn da würde die
ÖVPnicht mitmachen.

A


lexanderDobrindtließkeinen
ZweifelamErnst der Lage. Die
Situation sei „brisant“, die „Poli-
tik“sei „insgesamt alarmiert“.
So sprach der Vorsitzende derCSU-Lan-
desgruppeimBundestag am Dienstag
überdie vonder türkischenRegierung an-
gekündigtenneuen Flüchtlingszuströme
nachEuropa. Das Signal,das die Grünen-
Vorsitzende Annalena Baerbockausge-
sandt habe,Deutschland müsse jetztbei
der AufnahmevonFlüchtlingenvorange-
hen,ist aus Dobrindts Sicht „verantwor-
tungslos“.Dann fügteerhinzu,welche sSi-
gnalandie Flüchtlingeerfür angemessen
hält: Es seifalsch,sichjetzt auf denWeg zu
machen.„Es gibtkeineChance, nach
Deutschland zukommen“,rief der CSU-
Politiker denMigranten zu.
Die Angst in derUnion, dasssicheineSi-
tuationwie im Sommer2015wiederholt,
istgroß. Der damaligeBundesinnenminis-
terThomasdeMaiziè re (CDU) hatte im
Augustangekündigt, es würden 800 000
Flüchtling enach Deutschlandkommen.
Die AfD, die sichgeradegespalten hatte
und in denUmfragenabgestürztwar, kam
mit Hilfedes Flüchtlingsthemaswieder
auf dieBeine.Niemandkönneleugnen,
sagtenun Dobrindt, dassdas seinerzeit
AuswirkungenaufdieEntwicklungder
Parteienlandschaftgehabt habe.Nunwer-
de vonden Menschensehr genau beobach-
tet, ob dasVersprechen,dasssicheine Ent-
wicklung wie 2015nicht wiederhole,einge-
haltenwerde.
Im Bundesinnenministerium weiß man,
dassdie Absicht dergriechischenRegie-
rung, vorerstniemanden insLand zu las-
sen,auchkeine Asylsuchenden,rechtlich
so nicht durchzuhalten ist. Aber darüber
solljetzt ni chtsolaut gesprochenwerden.
Genausowenigwie über dieVereinbarung
zwischenDeutschland und Griechenland,
dassunbegleiteteMinderjährigemit einer
FamilieinDeutschland aus dengrie-
chischenLager nnach Deutschlandgeholt
werden. DieKommunikation seitWochen-
be ginnwarsehrbewusst gewählt.Inder
Union istdie Rede vom„Informationswett-
bewerb“ mitder Türkei: Esgehe darum,
die Hoffnungen der Flüchtling eschneller
zu zerstören ,als Präsident Erdogan sie be-

stärkenkönne. DertürkischePräsident hat-
te angekündigt, dassdie Tore zurEUoffen
stünden. Das müsse schnellrichtig gestellt
werden, heißt es in derUnion.
Aufgar keinenFall, so heißtes, dürften
sich diekommunikativenFehler aus dem
Jahr 2015wiederholen.Die Bundesregie-
rung, so meinenheuteviele, habe nicht
klar gestellt, dassdie humanitäre Nothilfe
für die Flüchtling eimBudapesterBahnhof
eineAusnahmesituationgewesen sei. Es
habe eherSignaleindie Gegenrichtungge-
geben.Merkelließ vonsichund Flüchtlin-
genSelfie smachen. Sie sagte:„Wenn wir
unsnochentschuldigen müssen dafür,
dasswir in Notsituationenein freundliches
Gesichtzeigen, dann istdas nichtmein
Land.“ All daskamauchinder Türkei, in
Syrien, in Iran und im Irak,inAfrik aan.
FlüchtlingeinTrecksauf demWegnach
DeutschlandtrugenFotos vonAngela Mer-
kelwie eine Monstranz vorsich.
DieUnionspolitikerwaren sich auf brei-
terFront einig, dassder Vorschlag Baer-
bocksder falscheWegsei. Siehatteange-
regt, Kontingente anzubieten–und zwar
auchdann ,wenn nicht alle EU-Staaten
mitmachten. Deutschland solle schon ein-
maldie Bereitstellungvon Flüchtlingsun-
terkünftenaktivieren. Dazugebe es ein
„ganz klaresNein“, sagteUnionsfraktions-
chef RalphBrinkhaus.Dann meldete sich
am DienstagMarkusSöder,der bayerische
Mini sterpräsident und CSU-Chef, zu
Wort.„Zunächstmal mussklar die Bot-
schaftgesendet werden, dasssichdie
Grenzsituation nichtgeänderthat, dasses

nicht so ist, wie vielleichtvermittel twur-
de,dieGrenzensindjetztplötzlichoffen,
ohne jedeKontrolle. Das istnicht der
Fall.“Das Jahr 2015dürfe sich nicht wie-
derholen. „Dasheißt: kein Kontrollverlust
an denGrenzen. DieAußengrenzenmüs-
sen gesichertund stabilbleiben.“Kurz dar-
auf erklärte Andrea Lindholzvon der
CSU,die Vorsitzende desInnenausschus-
ses im Bundestag: „Die Bundesregierung
mussdas unmissverständlicheSignal aus-
senden, dassDeutschlandeine Situation
wie 2015 nicht mehrzulassen wird.“Und
sie gingsogar noch einenSchritt weiter:
„Deutschland mussimErnstfall auch
selbst Zurückweisungenvornehmen.“

A

mNachmittag traf sich die Bun-
destagsfraktion, die Lagean
der türkisch-griechischen
Grenze stand weit oben auf
der Tagesordnung. DieKanzlerinwarda-
bei, auchHorst Seehofer,der Bundesin-
nenminister, der höchstseltenkommt.
SchonvorBeginn der Sitzungwardurch-
gesickert,dassSeehofer an die Flüchtlin-
ge das klareSignal sendenwolle: „Es hat
keinen Zweck.“NachAngabenvonTeil-
nehmernsagteSeehofer in der Sitzung,
dasseskeineÖffnung derEU-Außengren-
ze gebe. Falls es zuetwasanderemkom-
me, würden die Staaten ihre Grenzen
schützen. Dasgelteauchfür Deutschland.
DerStreit überdie Zurückweisungan
derGrenze hatte imFrühsommer 2018 die
Koalition in Berlin in eineschwere Krise
gestürzt .Seehofer,erstseiteinigenWo-

chen Innenminister,hatte vonseinem
Haus einenMasterplan Migrationerarbei-
tenlassen, dervorsah, dassFlüchtlinge,
die schon in einem anderen EU-Landregis-
trie rt worden waren, an der Grenze zurück-
gewiesenwerden. Die Kanzle rinwar strikt
dagegenund beharrteauf demDreiklang:
„nicht unilateral, nicht unabgestimmt und
nicht zu LastenDritter“. Die Lageeskalier-
te,schließlichgab es auf einem Europäi-
sche nRat eineEinigung.Statt Zurückwei-
sungen an der Grenze sollteesbilaterale
Rücknahmeabkommengeben.Die wur-
denimInnenministeriu mdann aucherar-
beitet,der Abschluss gelang nur mit Grie-
chenland und Spanien, mit Italienstockte
es.Die Abkommenzeigen aberbislang
kaum Wirkung.Seehofer istbei seiner
Überzeugunggeblieben,dasswirklich hilf-
reichnur Zurückweisungensind.
Merkeläußer te sichinder Fraktionssit-
zunggleich zu Beginnder Asyldebatte. Sie
widersprachSeehofers Zurückweisungs-
vorschlagnicht .Dabeigeht es für sie um
mehr als die Bearbeitungeinesder zahlrei-
chen internationalen undinnenpoliti-
sche nProblemfelder.Esgehtumihr Ver-
mächtnis.Sowie HelmutKohlmit de rWie-
dervereinigung undGerhardSchröder mit
Hartz IV dauerhaftverbunden bleiben
wird,steht schon eineinhalb Jahrevor Mer-
kels politischemEnde fest,dassder Um-
gang mit dengroßenFlüchtlingsströmen
vorallemaus Syrien eines derganz gro-
ßen,wenn nichtdas wichtigste Themaih-
rerKanzlerschaftbleibenwird. Merkelhat
niemals denEindruckerweckt, sie betrach-

te es imNachhinein alsFehler ,die Gren-
zen nichtgeschlossen zu haben. Gleich-
wohl hatte auchsie sehrfrüh gesagt, ein
Szenariowie im Spätsommer2015 undin
derZeit danachdürfe sichnicht wiederho-
len.

W

ie es ihreArt ist, hattesie
nicht sofortmit Verlautba-
rungen auf die Ankündi-
gung des türkischen Präsi-
dentenRecep Tayyip Erdogan, den Flücht-
lingen dieTore nachEuropa zu öffnen,
reagiert. Vielmehr hattesie sichamWo-
chenende „intensiv damit beschäftigt“,
wie sie am Montag nachBeendigung des
Integrationsgipfels imKanzleramt sagte.
In ihrer manchmaletwasgewundenen
Ausdrucksweise machtesie klar,dasssie
verstehe, dassErdogan sich„vonEuropa
mehr erwarte“, und dasssie auchweitere
finanzielle Hilfefür dieTürkeifür denk-
bar halte. Sie habe mit Erdogangespro-
chen erstens darüber,wie man mit Mos-
kauzueinemWaffenstillstand kommen
könne. „Zweitens:Waskönnen wir auch
nochtun, um vielleichtzusätzlichder Tür-
keizuhelfen?“
In der FraktionssitzungamDienstag
gabMerkelnach übereinstimmendenTeil-
nehmerberichten einenumfassenden Ge-
samtbericht zur Lageab. Derrussische Prä-
sident Wladimir Putinhabe kein Interesse
an guten deutsch-türkischen Beziehungen.
Anschließend habesie sichjedoc hnicht
dazugeäußert,was konkret getanwerden
müsse,wenn sicheine Situation wie 2015
wiederholen sollte. Sie lobte jedochdie
griechischenund die bulgarischen Behör-
den für ihrenEinsatzzum Schutz der EU-
Außengrenzen. DiegriechischeRegierung
habe „eine Arbeitgeleis tet, dieganz an-
dersist als2015“ .Man müsse darüber
nachdenken, ob man Bulgarienals Gegen-
leistungfür den Grenzschutznicht wenigs-
tens an denFlughäfen in den Schengen-
Raum aufnehme.
Während dieKanzlerin eingeklemmt ist
zwischen dem Bemühen, nicht mit ihrer Li-
nie in der Flüchtlingspolitik zu brechen,
und dem Bestreben,gleichzeitigeinenZu-
stromwie 2015zuverhindern, haben die
drei Männer,die ihrenSchreibtischim
Kanzleramthabenwollen, längstbegrif-
fen, wiewichtig dasThemafür sieist.
Wenn dieWähler entscheiden, ob sielie-
ber dieKontinuität oderden Bruchmit der
Ära Merkel wollen, wirddie Flüchtlingspo-
lit ik ein entscheidendesKriteriumsein.
Verkürzt gesagt,verspricht Merzden Neu-
anfang,Laschetdie Kontinuität.Der Au-
ßenpolitikerRöttgen hält vieles fürrichtig,
wasMerkelinder Asylpoliti kgemacht hat.
In derUnion scheint sich jedenfallsdie
Einsicht durchgesetzt zu haben, die einAb-
geordnetersoformuliert: „Wennwir jetzt
Zweifel lassen,verlieren wirendgültig das
Vertrauen der Bevölkerung in unsereFä-
higkeit und Haltung zu Sicherheit und Ord-
nung.“

Fürdie beiden jungen Männer,die an die-
sem Mittag die Hauptstraße des grie-
chischen Grenzortes Kastanies entlangge-
hen, endetder TraumvonEuropakurz
hinter dem verlassenen Haus mit der
Nummer 121. Sie sind wie aus dem Nichts
gekommen, aus einerNebenstraßever-
mutlich. Siefallen auf.Undsie kommen
nichtweit.Nachwenigen Minutenrollen
vierPolizistenauf Motorrädernheran.
Ob siegerufenwurden oder zufälligvor-
beikommen, lässt sichnicht sagen. Jeden-
falls geht nun allesrasch. DiePolizisten
halten an und nehmen dieFremdenfest.
Woher siestammten, fragt einer derPoli-
zistenauf Englisch. „Syrien“, sagt einer
der Verhaftete n, während der anderesein
Gesichtverdeckt .Oberdenn nicht wisse,
dassdie Grenzegeschlossen sei, herrscht
der Polizistihn an und fragt, wie die bei-
den es überhauptbis hierhergeschafft hät-
ten. Der Mann imitiertSchwimmbewe-
gungen,waswohl bedeuten soll, sie seien
durch den GrenzflussEvrosgeschwom-
men, an dessen UferKastanies liegt.
Das wäre allerdings schon deshalb selt-
sam,weil beide Männer trockene Klei-
dung tragen undRucksäcke dabeihaben.
Oder sind sie schon seitStunden hier und
haben sichbisherversteckt? Aber warum
gingen sie ausgerechnetmitten auf der
Hauptstraße? Haben sie nicht mitbekom-
men, dassdie Regierung desgriechischen
MinisterpräsidentenKyriakos Mitsotakis
mitgeteilt hat, manwerdealle ir regulären
Migrantenverhaften? Sind sie Opfer der
türkischen Propaganda, diegriechische
Grenze sei offen? Wasauchimmer die
Geschichteder beiden Männer ist, ihrwei-
tererFortgang wirdden Blickender Neu-
gierigen inKastanies, die sichraschum
diese Szenegesammelt haben, jäh entzo-
gen. Nacheinigen Minutenfährtein wei-
ßes Fahrzeug ohneNummernschildvor.
Weresgerufen hat, bleibt ebenso unklar
wie der Grund für das plötzlicheAuftau-
chen derPolizis tenzuvor .Männer in Zivil-
kleidungsteigen aus demWagenund ma-
chen unmissverständlich deutlich, dass
sie nichtfotografiertwerdenwollen. Die
Migrantenwerden in denWagenverfrach-
tetund fortgeschafft.Wohin, istnicht zu
erfahren.
Das istder neueKurs Athens nachdem
Zusammenbruchdes EU-Türkei-Abkom-
mens in dervergangenenWoche. Athen
hat das Asylrecht in Griechenland außer

Kraf tgesetzt, zunächstfür einen Monat.
Anträgewerden nicht mehr angenom-
men.Werdennoch ins Landkommt, soll
entwederwegenillegalen Grenzübertritts
zu einer mehrjährigen Haftstrafeverur-
teilt oder sofortabgeschobenwerden. Ab-
schiebungen dürften freilichunmöglich
sein, zumindestindie Türkei. Ankara
sieht sichschließlich nicht mehrgebun-
den an den Flüchtlingspakt, den die türki-
scheRegierung im März2016 mit der EU
geschlossen hatte.Außerdem gilt dieVer-
pflichtung, dassdie TürkeiirreguläreMi-
granten, deren AsylanträgeinGriechen-
land abgelehnt wurden, zurücknehmen
muss, laut demAbkommen mit der EU
nur für dieÄgäisinseln, nicht aber fürPer-
sonen, die über die Landgrenze eingereist
sind.

Die Lagehat sichentspannt
WenigehundertMeter entferntvonder
Stelle, an der die beiden jungen Männer
festgenommen wurden, liegt dasgeschlos-
senegriechische Grenztor zurTürkei. Da
das Niemandsland an dieserStelle breit
ist, bleibt die türkische Seiteunsichtbar.
VomFlüchtlingshilfswerkder Vereinten
Nationen heißt es aber inoffiziell, die
Lageauf der anderen Seitehabe sichent-

spannt.Demnachsind die Bildervonag-
gressiv wirkenden Männermengen vor
griechischen Grenzbefestigungen, die in
EndlosschleifeinAthener Fernsehsen-
dernlaufen, nichtvondiesemTagoder
nicht vondiesem Grenzabschnitt.Das
Bildmaterial undvorallem die Sprache
dieser Krise sind martialisch.Vonvereitel-
tenDurchbruchsversuchen undgehalte-
nen Grenzabschnitten istdie Rede.
In Kastaniesflimmerninfastallen Ca-
fésdie Fernseher und bringen dasWeltge-
schehen, das sichheutefür einigeStun-
denvorden Haustüren der Menschen
hier abspielt,nocheinmal zu ihnen. So se-
hen die Menschen imFernsehen Hub-
schrauber über ihrem Ortkreisen, die sie
auf ihrenTerrassen und Balkonen zu-
gleichhörenkönnen. Hoher Besuchwird
erwartet:Mitsotakis, der um seine bisher
gutenUmfrag ewerte fürchten mussund
schon seit dem Morgendas Grenzgebiet
inspiziert, erwartet EU-Kommissionsche-
finUrsula vonder Leyen, EU-Ratspräsi-
dent Charles Michel, den europäischen
Parlamentspräsidenten David Sassoli und
Andrej Plenković,den Regierungschef
Kroatiens, das derzeit die EU-Ratspräsi-
dentschaftinnehat. Die sichtbarenSicher-
heitsvorkehrungen sind hoch, und viele
für Laien unsichtbareVorsichtsmaßnah-

menvonDiensten wie dem, derwomög-
lichdie beiden Migranten abgeholt hat,
dürften dazukommen. Im gesamten
Grenzgebietist Militär unterwegs. Weit
ausrückenmüssen die Soldaten nicht,
denn es gibt mehrereKasernen und Mili-
tärstützpunkteinder Gegend. Andersals
Deutschland hat Griechenland nicht den
Luxus, nur an Länder zugrenzen,vonde-
nen keine Gefahr droht.

Die Grenze sorgt für etwas Leben
Als der VIP-Konvoimit reichlichBlau-
licht undPolizei durch die Hauptstraße
zur Grenzerauscht, nehmen es die Leute
gelassen.Viele leben hier ohnehin nicht,
dennKastaniesgeht es nurwenig besser
als anderen halbverwaistenAnsiedlun-
geninder griechischen Grenzprovinz.
Werinder Gegend umherfährt, kommt
durch lauter Orte,die sichnicht entschei-
den zukönnen scheinen, ob sie schonster-
ben wollen oder lieber nochetwas leben
möchten. Viele Häuser sind verfallen
oderverlassen, anderen sieht man an den
zugezogenenRollos an, dasssie nur im
Sommer bewohnt werden vonMenschen,
die längstnachAthen, Thessaloniki oder
ins Auslandgezogen sind. InKastanies
immerhin hat die GrenzeetwasLebenge-
bracht.Die Tavernen und Cafés sind auf
türkische Gäste eingerichtet,die aus der
nahen Großstadt Edirne herüberkom-
men, um in Griechenland zu essen oder
bei meistweitaus besserem und günstige-
remWein als i nder Türkei über ihren Prä-
sidenten Recep Tayyip Erdogan zu
schimpfen.Aber im Momentkommen na-
türlichauchdie Türken nicht, denn die
Grenzen sind für allegeschlossen. Migra-
tionskrisen schaden dem Geschäft.
Bei der Pressekonferenz imKulturzen-
trumvonKastanies spricht Mitsotakis zu-
erst,nachdem ervordem Gebäude derart
viele Händegeschüttelt hat, als sei die
Grenze auchfür das Coronavirus ge-
schlossenworden. Mitsotakis nennt die
Migrationskrise eine „asymmetrische Be-
drohung“, nutzt also eineFormulierung,
die sonstmeistauf die Gefahren desTer-
rorismusgemünzt wird. Esgehe längst
nicht mehr um Flüchtlinge, sondernum
einen offenkundigenVersuchder Türkei,
zur Durchsetzunggeopolitischer Zielever-
zweifelteMenschen auszunutzen. Die
Menschen, die seiteinigenTagenversuch-

ten, ir regulär diegriechische Grenze zu
überschreiten,stammten überdies nicht
aus dem syrischen Kriegsgebiet, sondern
seien längstinder Türkei in Sicherheitge-
wesen.
„Europa wirdsichnicht erpressen las-
sen“, sagteMitsotakis. Zwar sei Europa
bereit, derTürkei bei derVersorgungvon
Flüchtlingen zu helfen, „aber nicht unter
diesenUms tänden. Meine Pflicht istes,
die Souveränität meines Landes zuvertei-
digen.“Ursula vonder Leyensagtezu, Eu-
ropa werdeGriechenland nicht imStich
lassen. Sowerdedie EU-Grenzschutzbe-
hördeFrontex weiter ehundertBeamte
entsenden, zudem sechsPatrouillenboo-
te,zweiHubschrauber,ein Flugzeug und
dreiFahrzeugemit Wärmebildkameras.
Wasdie zusätzlichen Schiffe und Beam-
ten, sofernsie sichimGegensatz zu ihren
griechischenKollegen an dasVölker recht

halten sollten,andem Massenzustromän-
dernsollen, wurde aus ihrenÄußerungen
nicht deutlich.
Aufden griechischen Inseln in derÄgä-
is, dem eigentlichen Schwerpunkt der Kri-
se, lässt sichder Andrang jedenfalls nicht
mit Tränengasstoppen. Ohne auf solche
Fragen einzugehen,kündigtevon der Ley-
en an, dassdie EU Griechenland700 Mil-
lionen EuroanFinanzhilfe zur Verfügung
stellenwerde. Siewarnte davor, die EU in
der Krise zu unterschätzen: „Diejenigen,
die versuchen, EuropasEinheitauf die
Probe zustellen,werden enttäuschtwer-
den.Wirwerdenstandhalten, und unsere
Einigkeit wirdsichdurchsetzen.“Vonder
Leyenund Charles Michelreistenvon Kas-
tanies aus an die bulgarische Grenze zur
Türkei weiter,wosie vonBulgariens Mi-
nisterpräsidentBojkoBorissowerwartet
wurden. Dann wurde es wiederruhig in
Kastanies.Das Weltgeschehen istweiter-
gezogen, die Grenze bleibt. Geschlossen.

Symbolfigur: Ein Flüchtling am Hauptbahnhof München im September 2015 mit einemFoto Merkels FotoAFP

Wiener


Netze


Waspassiertauf der


Balkan-Route?


VonStephan


Löwenstein, Wien


Bildungswelten
Thesen für dieZukunft: Wiemusseine
emanzipatorische und bürgerliche
Bildungspolitik für die Gesellschaftim


  1. Jahrhundertaussehen?


Sie is twieder da


Morgen


Unterschätzt uns nicht


An dergriechischen Grenze zurTürkei demonstrierenAthen und die EU Einigkeit / VonMichaelMartens, Kastanies


Krisenmanagement: Michel, Mitsotakis undvonder Leyenander Grenze Fotodpa

Die Schl acht um Merkels


Flüchtlingspolitik schien


vorüber.Dochder


türkische Präsident lässt


siewiederaufleben.


VonHelene Bubrowski


und Eckart Lohse, Berlin


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik MITTWOCH, 4.MÄRZ2020·NR.54·SEITE 3

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