Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.03.2020

(Darren Dugan) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Geisteswissenschaften MITTWOCH,4.MÄRZ2020·NR.54·SEITEN3


D


ie zwanziger Jahre
des zwanzigsten
Jahrhunderts las-
sen sich–im Gegen-
satz zu denvorange-
gangenen Dekaden
–recht treffend
durch kunst- und
kulturgeschichtliche Epochenbezeichnun-
genbeschreiben: Begriffewie Verismus,
MagischerRealismus oderNeue Sachlich-
keit bezeichnen Haltungen undWerke,
die vor1920 kaum wahrnehmbarwaren
und nach1930 ihrenZenit bereits über-
schritten hatten. Jeder dieser Begriffe
wurde in der ersten Hälfte der zwanziger
Jahregeprägt und als Bezeichnung eines
neuenKunststilsakzeptiert.UmdenBe-
ginn der neuen Epocheverkünden zukön-
nen, mussteman denvorangegangenen
Stil jedochfür toterklären. So unter-
schiedliche Akteuredes Kulturbetriebs
wie derKunstpublizistund KritikerWil-
helm Hausenstein, der Kunsthistoriker
WilhelmWorringer oder der Maler und
Grafiker GeorgeGrosz riefen zwischen
Märzund November des Jahres 1920 da-
her „das Ende des Expressionismus“ aus.
Hausenstein, der imVorjahr nochein
Büchlein „Über Expressionismus in der
Malerei“vorgelegthatte, proklamierteim
März1920 in seinemAufs atz „DieKunst
in diesemAugenblick“ in derZeitschrift
„Der neue Merkur“ als einer der Ersten
das Ende des zuvor nochgepriesenenAus-
druc ksstils: „Heutestehen wirrastend und
fragen,wasergebracht hat.Heute–denn
heuteist er zu Ende.“Fürviele seinerZeit-
genossen, Mitstreiter und Freundewar
Hausensteins Behauptung ein Schock.
Denn siekameben nichtvoneinem der
Gestrigen, die den Expressionismusohne-
hin schon alsUnkunstabgelehnt hatten,
sondernvon einem leidenschaftlichen
Wegbegleiter der jungenKunst.„Er is tun-
ser Heute. Er istunserTag–unsreFreude
undunserSchmerz. Er istunsere lebendi-
ge Leidenschaft.“Das hatteHausenstein
nochEnde 1918über den Expressionis-
musgeschrieben, aber auch: „Der Flügel
hat durchgeschwungen; dasPositiv eder
Zukunftliegt offenbar in einer neuen und
frommen Bescheidung auf dieNatur.“
Die Künstler,Sammlerund Vorkämpfer
desExpressionismuswarenirritiertund
entsetzt.ImAugus t1919 erst warimBerli-
ner Kronprinzenpalais dieNeue Abteilung
der Nationalgalerie eröffnetworden, in
der –mit HauptwerkenvonErich Heckel,
Erns tLudwig Kirchner,KarlSchmidt-Rott-
luff,Franz Marcund OskarKokoschka –
der Expressionismusals Kunstder jungen
Republik inthronisiertund gefeiertwurde
(F.A.Z.vom 31. Juli2019).Und nun sollte
der neue,gerade erst offiziellanerkannte
Stil schon Geschicht esein?„SchreibenSie
mir dochein Wort der Aufklärung über
Hausensteins seltsame Wandlung“: Mit
dieser Bittewandtesichder Frankfurter
Sammler undKunstpublizistWalter Mül-
ler-Wulckowan denbefreundeten Maler
RichardSeewald in München.
„Ichkann Hausensteins Standpunkt nur
zu sehrverstehen“, antwortete Seewald.
„Dassder ganze so heißgeglaubteEx-
pressionismus,der Schul- und Programm-
expressionismus,unter gehen wirdund
muss, istfür michkeine neue Erkenntnis.“
Seewald berichtete, dassauchder Kunst-
historikerWilhelmWorringer das Ende
der Epocheverkündet habe.Mitseinerstil-
psychologischen Dissertation„Abstrakti-
on undEinfühlung“ hatteWorringer 1907
ein Buchvorgelegt, das dieKünstler des
BlauenReiter szur Programmschriftihrer
Kunstauffassung erhoben hatten. Am 19.
Oktober 1920warWorringer eingeladen,
vorder Münchner Ortsgruppe der Deut-
schen Goethe-GesellschafteinenVortrag
über „KünstlerischeZeitfragen“ zu halten,
und erverkündete dortdas „Ende des Ex-
pressionismus“.„Wie kamdas alles und
kamsoschnell?“ ,fragteererstaunt:„Nur
mit leiserStimme möchteman davonspre-
chen. WieamBette eines Kranken.“
In denAugenvon Hausenstein, Worrin-
gerund anderen Beobachternder zeitge-
nössischenKunsthattesich dasPathos des
Expressionismus längsterschöpft. Der


Kult desUnmittelbarenund Unverfälsch-
ten, wie er nochimManifestder Künstler-
gemeinschaft„Brücke“von 1906gefordert
worden war, hattesichinden ungezählten
Wiederholungen dieser Attitüde abge-
nutzt.Grobe Leinwände, auf denen die
Farbe an ein Schlachtfeld erinnert, „auf
demfinger -und handgroße Bäche eines
blutigenRot, knallendenGelb und gifti-
genGrün einenKampfbis aufsMesser mit-
einander führen“, wie es der Oldenburger
Sammler ErnstBeyersdorff 1908faszi-
niertbeschrieben hatte, konnten nach
1919 keinen Schockmehr erzeugen.Abge-
nutzt hattesichauchdas Suchen und Ent-
deckenvermeintlichunverbrauchterVor-
läufer und Ahnherrendes Expressionis-
mus, diewahlweise in derAusdruckskraft
gotischer Plastik,inBauernmalerei, Kin-

derkunstoder der sogenannten „Neger-
plastik“gefundenworden waren.
Der Affrontgegendie ästhetischenTra-
ditionslinien des wilhelminischenKaiser-
reichshattesichmitdessenZusammen-
bruc herledigt.Die Avantgardevonda-
malswar1920 lautWorringer in dieRe-
trospektivegeraten: „Man sah den Expres-
sionismus auf einmalvonhinten, sah ihm
auf denRücken –und da sah er auf ein-
mal wie einegroßeTorschlusspanik der
an sichselbstverzweifelndenKunstaus.“
Ausdem Aufbruchder Vorkriegszeitwar
nach demEndedes Weltkriegs einManie-
rismus derAvantgardegeworden.
Wiekonnteesalsoweiter gehen,wenn
der Expressionismus–wie Worringerfest-
stellte–seineLuftwurzeln nurmehr in den
leerenRaum ausstreckte, in dem erkeine

„lebendigenNährkräfte“mehr fand? Die
Antwortformulierte nochimselbenJahr
derMalerund Grafiker GeorgeGrosz: Ge-
borenals GeorgEhrenfried Groß,hatteer
seinenNamen währen ddes Weltkrieges
ausAblehnung desdeutschen Nationalis-
musanglisiert. Gut zehn Jahre jüngerals
die Malerkollegender „Brücke“, machteer
die Greuel der Schlachtfelder und Kriegs-
versehrten zu seinen frühen Bildmotiven.
EkstatischeAusdrucksmalereikamfür ihn
nichtlänger inFrage. In dem imNovember
1920 verfassten Manifest„Zu meinen neu-
en Bildern“ erklärteer: „Derexpressionisti-
sche Anarchismus muss aufhören.“Andes-
senStelle setzteerdie Konstruktion einer
neuenWirklichkeit:„Ichversuche wieder
ein absolutrealistischesWeltbild zugeben.
Farbe drängeich zurück.Linie wird unindi-

viduell-photographischgezogen,konstru-
iertwird, um Plastik zugeben. Wieder Stabi-
lität,Aufbau, Zweckmäßigkeit–z.B.Sport,
Ingenieur,Maschine, dochnicht mehr dyna-
mische, futuristischeRomantik.“
Seine 1920 entstandenen Bilderwie
„Der neueMensch“ sah Grosz als„Trai-
nings-Arbeiten“ auf demWegzueinem
neuenStil, dessen Entwicklung er noch
nicht absehenkonnte.Als Richard Seewald
in der Münchner GalerieGoltz im Oktober
1920 eines dieserWerkeentdeckte,erkann-
te er in demAquarell, das heute in derNeu-
en GalerieinNew York hängt,die Zeichen
der neuenZeit:„EinBlatt vonGrosz in der
letztenAusstellungvonGoltz ‚Der Diabolo-
spieler‘, ein Mannaus Cylindernund Ku-
geln zusammengesetzt mit einerZahnrad-
maschinerieinder Brust, in einemgenau
perspektivischkonstruiertenZimmer (man
nenntdas heutewohl Verismus) istfür
michder absolutadäquateAusdruckder
Zeit un dihres geistigenStrebens.“
Paul Ferdinand Schmidt erwarb als Di-
rektor desStadtmuseums Dresden zwi-
schen 1919und 1924 als einer der ersten
Museumsdirektoren Beispiele des neuen
Stils, und erkatalogisierte auchdessen
Merkmale: „dieresoluteStrengedes Bild-
aufbaus und der Erfassung der wirkli-
chen ErscheinungimRaum; überkorrek-
te und darum peinlichnüchterne,javer-
zerrteDarstellungdes Perspektivischen
und Modellierten derKörper; eine pene-
tranteGenauigkeit der Detailbildung, die
beständig an Ironiestreift, und nicht zu-
letzt diekalteLeidenschaftfür die Exakt-
heit des Klischees“. GeorgeGrosz, Otto
Dix,RudolfSchlichter,GeorgScholz,
Karl Hubbuch und Otto Griebelwaren
für Schmidt die Meisterder neuen Rich-
tung, für die er den Begriff des deutschen
Verismusprägte. RAINER STAMM

Wenn er jemals einen guten Gedanken in seinem so leer aussehendenKopf gehabt hat, dann lässterihn nicht sehen: „Der Diabolospieler“vonGeorgeGrosz.

Der Vortrag „über das Europäische in
der Romantik“, den der in London
lehrende LiteraturwissenschaftlerRü-
diger GörnerkürzlichimFrankfurter
Goethehaus hielt,begann in Goslar.
Dortstanden die GeschwisterDoro-
thyund WilliamWordsworth den har-
tenWintervon1798/99 durch.Eigent-
lichwollten sie Goethe inWeimar be-
suchen.Stattdessenstecktensie fest,
am Fußedes Harz, undWilliam be-
gann mit seinen Arbeiten an dem
Langgedicht „The Prelude“.Von
Wordsworth ging es mit Görner zu
Novalis, dannvonE.T.A.Hoffmann
zu Walter Scott, zu Schiller undFich-
te,Byron, Coleridgeund Carlyle,
Schleiermacher und den Schlegels,
schließlich zuKeats und wieder zu-
rückzuNovalis, zuFichte –und Goe-
the. ImVorausgriff auf die für 2021
geplanteEröffnung des Deutsche Ro-
mantik-Museums macht das Freie
Deutsche Hochstiftderzeit in einer
ganzen Serie vonVeranstaltungen
den „Aufbruchindie Romantik“ zum
Thema.
Bei Görnerkamen auchAlessan-
droManzoni, Victor Hugo und
ClaudeFauriel, HenrichSteffens und
Lorenz Okenvor, ebensodie romanti-
sierendenRomantikforschervonMa-
dame deStaël und HeinrichHeine
über Ricarda Huchund GeorgBran-
des bis zu Carl Schmitt. Es schien, als
würden imVortragmehr Personenge-
nannt als Verben gebraucht.Was
deutlichwurde:Romantiker schrei-
ben vorallem an und über,mit undge-
genandereRomantiker.
Der Referent hatteesdarauf abge-
sehen, ein Bild der vielschichtigen
und dynamischen Beziehungen zu
vermitteln, in denen sichsoetwas
wie einegesamteuropäische Intellek-
tualität herausbildete.Exemplarisch
sprachervon einer „romantischen Er-
fahrung“ im deutsch-britischen Ge-
sprächder Geister. BesondereAuf-
merksamkeit widmete er der Span-
nung zwischen einem „wissenschafts-
poetischen Interesse“, das aufsGan-
ze geht, und dem Eingedenken der
Endlichkeit.Von derromantischen
Ironie der Deutschen unterschied
Görner dabei den „englischenUnwil-
len, die Dingeernst zu nehmen“. Als
Kronzeugen der spöttischenÜberle-
genheit der Insulanerrief er Thomas
Love Peacockauf, der in seinemRo-
man „NightmareAbbey“ die deut-
scheRomantik persifliert. „Die“ deut-
scheRomantik? Später zeigteGörner
sichskeptisch, sprachvom regiona-
len PluralismusdeutscherRomanti-
ken, der dochnur wieder das mikro-
kosmischePendant zu dem ist,waser
als europäischeRomantik erörterte.
Am Beispiel der sichmausernden
Geschichtsforschung, die sichihrer
poetisch-schöpferischenKomponen-
te schon langevor Hayden White
sehr deutlichbewusst war, wurde das
problematischeVerhältnis zur eige-
nen Endlichkeit besondersfasslich
dargestellt.E.T.A.Hoffmann und
Schiller,aufsSchärfste aber Fichte be-
standen auf derUnentbehrlichkeit ei-
ner durch Vorstellungskraftgeleite-
tenErgänzung des historisch Gewuss-
ten. Dagegen erscheint derVaterdes
historischenRomans,Walter Scott,
mit seinem diesbezüglichkritischen
Essa y„On the Supernatural inFicti-
tiou sComposition“ alsVorvater ei-
nes positivistischen Historismus. Zwi-
schen frei schwebenderPhantasie,
die sichinsichselbstzuverlieren Ge-
fahr läuft, undFaktentreue, die sich
an die Dingezuverlieren droht,
schwingt dieRomantik hin und her.
Am Ende desVortrags erschien die
Romantikals Epoche des produkti-
venWiderspruchs, der Subjektivität,
die sichvon Geschichteinspirieren
lässt,inIdentitätssucht zuversinken
droht und dann dochwieder über
sichselbsthinausstrebt–eine Epo-
che, diegenauso sehr das Allgemeine
suchte, wie sie das Besondereehrte.
DassGörnergerade in diesen Mo-
menten das Europäische auchimepo-
chenübergreifenden Sinne sieht,
zeigt sichklarer nacheinem Blickin
sein jüngstimTectum-Verlag erschie-
nenes Manifest „Europa wagen!“ Dar-
in heißt es, Europa sei „bedeutend in
seinen krassenWidersprüchen und
immerwieder überraschendenPoten-
tialen“. In derRomantikkamdiese
Widersprüchlichkeit zuerst zum
Selbstbewusstsein. Damit darfsie tat-
sächlichals europäische Epoche par
excellencegelten undweistüber sich
hinaus in unsereGegenwart.
Indem Görner selbstdieseWider-
sprüche nur nachvollzog und nicht
im Ansatz aufzuhebengedachte, wur-
de seinVortragzur LecturePerfor-
mance, der oftnicht leicht zufolgen
war. Es verwundertnicht, dassGör-
nersÜberlegungen zum Denkpausen
erzwingenden Gedankenstrich, als
demromantischen Interpunktionszei-
chen schlechthin, beim Publikum be-
sonderes Interessefanden. In derTat
wirdmancher Anwesende sichsolche
Pausengewünscht haben. Ob denZu-
hörernaber zu viel zugemutetwur-
de? Eher nicht.Imbestenromanti-
schenVertrauen auf die Kraftder Sub-
jektivität darfund mussvon jedem
Leser undZuhörer auchein eigener
Beitrag zumVerstehen gefordertwer-
den. MAX STANGE

Versprochen–gebrochen?Unterdiesem
Mottowirdgerndie EinhaltungvonWahl-
versprechen unter dieLupe genommen.
In Weimar haben Historikerund Sozialwis-
senschaftler unlängstgleicheine ganze
Epoche aufden Prüfstand gestell t. „Gebro-
chene Versprechen–Moderne als histori-
sche Erfahrung“ lauteteder Titeleiner Ta-
gung, dievonder Stiftung Gedenkstätten
Buchenwald und Mittelbau-Dora, dem
HamburgerInstitut für Sozialforschung
und der Bundeszentrale für politische Bil-
dungveranstaltet wurde. DerStrauß der
Themenwarbunt und nur sehr losegebun-
den. DasSpektrumreicht evon derRevolu-
tion auf Haiti über dieKonjunkturverläufe
im Nachkriegseuropa bis zur Mentalität
der „Generation Y“,vonder Infrastruktur-
politik über die Geldschöpfung bis zur Ge-
schichte derUmweltbewegungen.Kunst
und Architektur blieben–trotz der Bau-
haus-Stadt alsTagungsort–ausgespart.
So anregendetliche derVorträge auch
waren, ihr eigenesVersprechen hat die
Veranstaltung nicht eingehalten.Wasdie
Modernewemversprochen hat, jawas
die Moderne eigentlichist,obesnur eine
gibt oder mehrere, auf dieseFragen blieb
die Tagung Antwortenschuldig.Aber im-
merhin erfuhr man,wo der Grund dafür
lag. NämlichimTagungsthema selbst,ge-


nauergesagt, im Begriff der Moderne,
dessen UnschärfenWolfgang Knöbl
(Hamburg) in einem begriff sgeschichtli-
chen Abriss freilegte.
Von„modernen“Zeiten, Produktions-
methoden oder Lebensweisen wirdzwar
schon langegesprochen, aber die substan-
tivierte „Moderne“dientezunächstnur
als gelegentliches Etikettfür Kunstströ-
mungen.Zu einer sozialwissenschaftli-
chen Epochenbezeichnung wurde sie
Knöblzufolgeerstvor etwafünfzig Jah-
ren, als sichSozialwissenschaftlervom
Klassenschema abzuwenden begannen
und nachanderengroßformatigenKon-
zeptender Zeitdiagnose suchten.
Der Substantivierung des Adjektivs
„modern“ lag, so Knöbl, nichtetwadie
Notwendigkeit zugrunde, eine zweifels-
frei bestehende Epoche zu bezeichnen.
Vielmehr wurde „die Moderne“ durch die
Prägung des Begriff serstkonstruiert. He-
terogene politische,gesellschaftliche,kul-
turelleund technische Phänomenever-
schmolzen auf dieseWeise zu einem at-
traktivenForschungsgegenstand, der zu-
gleichder politischen Standortbestim-
mung diente. Denn „die Moderne“war
vonAnfangankeine neutrale Beschrei-
bungskategorie, sondernein Fahnen-
wort,unter dem mangeschichtspolitisch

Flaggezeigenkonnte. Mankonnte„die
Moderne“gegenvermeintlichreaktionä-
re Tendenzen inStellung bringen oder
umgekehrtihredunklen, destruktiven Sei-
tenentlarven. Angesichts der mangeln-
denTrennschärfe und der normativen
Aufladung zog Knöbl dieTragfähigkeit
analytischer Kraftdes Moderne-Begriffs
in Zweifel.Statt danachzufragen,was
„die Moderne“ istoder versprochen hat,
solle man, so seine Empfehlung, lieber
die Strategien untersuchen, die mit dem
Begriff verfolgt werden.
Ein Feld, in dem die Ambivalenzendes
Begriffszutag etreten, wirddurch die Fra-
ge nachder politischen Modernität des
Nationalsozialismus eröffnet, dieNorbert
Frei (Jena)stellte. Die vieldiskutierte The-
se vomNationalsozialismus alsradikali-
sierterFormeiner wissenschaftlich-kapi-
talistischen Moderne, in der zum Beispiel
Gentechnik und Reproduktionsmedizin
die Logik der Eugenik-und Euthanasie-
prog ramme des „DrittenReiches“fort-
setzten,teilteFreizwarnicht .Dennoch
machteerdie modernen Zügedes Natio-
nalsozialismus amKonzeptder „Volksge-
meinschaft“ deutlich, in dem dasfort-
schrittliche Aufstiegsversprechen einer
Leistungsgesellschaftjenseitsständischer
Schranken mit einerrassistischen und an-

tisemitischen Ausgrenzungs- und Ver-
nichtungspolitikverschmolzen sei.Frei
mochteimNationalsozialismus und im
Stalinismuskeine –wenn auchpathologi-
schen–Formen der Moderne sehen,
wohl aber Systeme, die deren destrukti-
vesPotential zur Entfaltung brachten.Wo
aber liegt da derUnterschied?
In der Abwesenheit demokratischer
Kontrollmechanismen, meinteFrei, ohne
aber dieKonsequenz zu ziehen, dann die
Demokratie zur eigentlichen Essenz der
Moderne zu erklären. Das hättefreilich
auchbedeutet,deren Geschichteschon
mit der attischenPolis beginnen zu las-
sen. Die Zweifel am deskriptivenPotenti-
al desModer ne-Begriffsnährteder Histo-
rikerselbst, als erresümierte:„Ohne nor-
mativeVorstellungenvonModernekom-
men wir nicht aus.“
Dasseseine geschichtspädagogische
Beißhemmunggegenüber dem positiv auf-
geladenen Moderne-Begriff gibt, trat
deutlichzutage, alsVolkhardKnigge, Di-
rektor derStiftung Gedenkstätten Bu-
chenwald und Mittelbau-Dora, nachFreis
Vortrag fragte:„Wie retten wir die guten
Geisterder Moderne?“Werdie Aufgabe
einer wissenschaftlichenTagung in der
Beschreibung, Analyseund Erklärung
vonFakten undZusammenhängen sieht,

mussteeinen solchenRettungsaufruf er-
staunlichfinden.
ZumnormativenKern „der Moderne“
und der ihr zugeschriebenenVersprechen
stieß Jan PhilippReemtsma (Hamburg)
vor, indem er den Gewaltbegriff im Euro-
pa und Amerikades zwanzigstenJahrhun-
derts untersuchte. Gewalt wurde in den
Kriegen undVernichtungsaktionen die-
ser Epochezwarmassenhaftverübt,doch
zugleichwurde sie immer mehr zum Skan-
dalon, dasRechtfertigungsdruckerzeug-
te.Die Legitimation bestand –vom Gulag
bis zumAtombombenabwurf–darin, sie
zur Geburtshelferin einer besseren,ge-
waltlosenWelt imZeichen der klassenlo-
sen Gesellschaftoder derwestlichen De-
mokratie zu erklären. Selbstdie National-
sozialisten beriefen sichauf einen Zivilisa-
tionsauftrag, um denVernichtungskrieg
in Osteuropa propagandistischzuverbrä-
men. ImteleologischenFortschrittsver-
ständnis der „Moderne“ und ihrer Gewalt-
legitimation sahReemtsma eine säkulari-
sierte Fortsetzung der Theodizee, die
einstzuerklärenversprach, wie sichdie
Existenz Gottes mit dem Bösen in der
Welt verträgt. Die Theodizeehat ihrVer-
sprechen nichtgehalten. Ihregeschichts-
philosophischen Nachfolgekonstruktio-
nen auchnicht. WOLFGANGKRISCHKE

Poetik


und–


EineRomantiktheorie


Dialektik der Abklärung


Zu viel versprochen: EineTagung zur Kritik des Begrif fs der Moderneverstrickt sichimAnspruchdes eigenen Projekts


Epilog 1920


Foto Neue Galerie

/VGBild-Kuns

t2020

Metaphysik latenter Antithesen:Wieschnell dasNeue

alt aussieht.Vor hundertJahrenverkündeten

Kunstkritiker,Kunsthistorikerund Künstler

das Ende des Expressionismus.
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