Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.03.2020

(Darren Dugan) #1

Bomben auf Basel


und Zürich


Wieschon mehrfach während des
Kriegsverirren sichauchjetzt wieder
alliierte Bomber in die Schweiz. Ge-
trof fenwerden Basel und Zürich. Bei-
de Städtewaren in denVorjahren
mehrmals insVisier geraten. In Zü-
rich gibt es fünfTote,als eine land-
wirtschaftliche Schule bombardiert
wird. In Basel trifft es denGüterbahn-
hof. An diesemTagwirdvor allem
das Wetter für den Irrtum verantwort-
lichgemacht.Die meistender über
Süddeutschland eingesetzten alliier-
tenBomberkehren deshalb unver-
richteterDingezurück. Einigeversu-
chen aber,Ausweichziele zufinden,
waszudem folgenschweren Irrtum
führt. Die Pilotenund Navigatoren
werden in Großbritannien vorein
Kriegsgerichtgestellt.Das stellt Fahr-
lässigkeitfest,spricht die Angeklag-
tenaber frei. Insgesamt kommen
durch irrtümliche Bombenangriffe
zwischen 1940 und 1945 84 Men-
schen in der Schweiz ums Leben.


Anerkennung für


baltischeStaaten


Litauen, Lettland und Estlandgehör-
tennebenPolen zu den Opferndes
Hitler-Stalin-Pakts. Die Sowjetunion
verleibte sich die dreiStaaten 1940ge-
mäß demgeheimen Zusatzprotokoll
der VereinbarungvomAugust
als Sowjetrepubliken ein.Auch nach
Kriegsende soll dieserStatus wieder
gelten. Die amerikanischeRegierung
teilt nun mit, dasssichihreRechtsa uf-
fassung nichtgeänderthabe. Die Ge-
sandten der dreiStaaten würdenvom
Außenministerium weiter anerkannt.
Daran habe auch dieKonferenzvon
Jaltanichtsgeändert. In den Jahren
bis zum Ende der Sowjetunionkann
der Westen de factonichts für die bal-
tischenStaaten tun. Die amerikani-
scheRegierungringtsichaberzueini-
gensymbolischen Gesten durch.So
werden dieRadioprogramme in den
Landessprachen der dreiStaaten in
den achtziger JahrenvomSenderRa-
dio Liberty,der für die Sowjetunion
zuständig ist,zum SenderRadio Frei-
es Europa, der in sowjetischdominier-
te Länder außerhalb der UdSSR sen-
det, transferiert.


„Fortschritte“ in Italien


Sowohl die Alliiertenals auchdie
Deutschen meldenFrontverschiebun-
genimRaumRavenna. Dievonden
Alliiertengemeldeten„Fortschritte“
sind allerdings nicht sehrgroß. Das
spiegelt ungefähr den aktuellenStel-
lenwert des italienischen Kriegs-
schauplatzes wider.Noch1943war
Italien der wichtigste Schauplatz für
Briten und Amerikanergewesen. Die
Landungen in Sizilien und später auf
dem italienischenFestland wurden
gegenüber einem misstrauischenSta-
lin als „zweiteFront“ gegenDeutsch-
land bezeichnet. Im Rahmen derVor-
bereitung dergroßen Landeoperati-
on in derNormandie im Sommer
1944 verschoben sichjedochdie Ge-
wichte. Es wurden Soldaten aus Ita-
lien abgezogen. Dementsprechend
bliebengroße Durchbrüche in Italien
aus. Vielmehrgestaltetesichder alli-
ierte Vormarsc hsehr zäh. pes.


Die FDP will ihr politisches Profil auch
mit Köpfenverbreitern, die früher in an-
derenParteien ihrepolitische Heimathat-
ten. Der FDP-Partei- und -Fraktionsvorsit-
zende Christian LindnerstellteamDiens-
tagals neuestesMitglied seinerPartei
den früheren SPD-Mittelstandsbeauftrag-
tenHarald Christvor.Chris thattekurz
zuvor in LindnersBüroimBerliner FDP-
Hauptquartier seinen Aufnahmeantrag
abgegeben. Der 48 Jahre alteUnterneh-
mer,der ausWormsstammt und eine
Kommunikationsagentur führt, sagtean-
schließend,erwolle „kämpferischund
entschlossen“ in der FDP mitwirkenund
dafür „alleRessourcen einsetzen“, die er
zur Verfügung habe. Lindner hingegen
lobtedas neueste Mit glied seinerPartei
als „einen der profiliertesten Wirtschafts-
politikerinDeutschland“, der die „politi-
sche und persönliche Bandbreite“ der
FDP erweiter nwerde.
Die FDP hat schon früher denVersuch
gemacht, Mitglieder aus anderen Parteien
zu sichzuholen, um damitAufmerksam-
keit aufPersonen undPositionen zu len-
ken. Im Jahr 2007gabessogar einenVer-
suchder beiden FDP-Politiker Andreas

Pinkwartund PhilippRösler,den damali-
genCDU-BundestagsabgeordnetenFried-
rich Merzfür die FDP zugewinnen; Merz
folgteallerdings der Einladung nicht.
Lindnerwarzum Jahresanfang erfolgrei-
cher;erpräsentierte auf dem Dreikönigs-
tref fender FDP im Januar den früheren
SPD-Landessozialministerund Chef der
Bundesanstalt für Ar-
beit Florian Gerster
als neues FDP-Mit-
glied; nun folgt die-
sem Übertritt eines
früherenSPD-Funkti-
onsträgersein zweiter
ähnlicher Schritt.
WieGerster war
Christursprünglichin
der rheinland-pfälzi-
schen SPD zu Hause; später wurde er je-
dochauchinder Hamburgerund der Ber-
liner SPD aktiv.Wiederholtstand er als
Kandidat für höhereFührungspositionen
in Aussicht ;inHamburgwar er einstals
möglicherKandidat für das Amt des Ers-
tenBürgermeisters im Gespräch; im
Bund holteihn der Kanzlerkandidat
Frank-Walter Steinmeier 2009 in sein

Schattenkabinett als Anwärter auf das
Ressortdes Wirtschaftsministers in einer
vonder SPDgeführtenBundesregierung.
Ähnlichwechselvoll wie die Liste seiner
politischenNominierungen und Hoffnun-
genist die Folgeseiner unternehmeri-
schenTätigkeiten.
Lindner hat in der oppositionellen
FDPgegenwärtigkeine Ämter oder höhe-
re Anwartschaftenzuvergeben,Funktio-
nen aber lassen sichschon einrichten.
Christsoll nachdem Willen des FDP-Vor-
sitzenden eine Arbeitsgruppe leiten, die
dem nächstenFDP-Bundesparteitag im
MaiVorschlägeunterbreiten wird, wie
„dasAufstiegsversprechen Soziale Markt-
wirtschaft“ in der Gegenwart erneuert
werden kann.
Lindner sagte, die Einbindung Christs
in die FDP solle auch„eine Einladung an
andere“ sein, „es ihmgleichzutun“. Die
FDP brauche solche Beispiele, „um uns in-
haltlichweiterzuentwickeln“. DerVorsit-
zende nannteweiter eForen, in denen
Christkünftigtätig seinwerde, etwaden
BundesfachausschussWirtschaftder FDP
und auchdas „Wirtschaftsforum“ derPar-
tei. Der höchstrangigeWirtschaftspoliti-

kerimParteigefügeder FDP,der für die-
ses Politikfeld imParteipräsidium und in
der Bundestagsfraktion zuständig eMicha-
el Theurer,fehlteamDienstagbei der offi-
ziellen Präsentation der neuenVerstär-
kungskraft.
Christbeteuerte bei seinem ersten Auf-
tritt als FDP-Mitglied, erwolle die sozialli-
beraleStrömung, für
die er persönlichste-
he, in der FDPverstär-
ken. Ergabauchan,
er habe schon kurz
nachseinemAustritt
aus der SPDvordem
Jahreswechsel an ein
Engagementbei den
Freien Demokratenge-
dacht, habe aber eine
gewisseFristverstreichen lassenwollen.
Auch die Ereignisse in Thüringen,wo vor
drei Wochen ein FDP-Kandidat mitStim-
men der AfD zum Ministerpräsidentenge-
wählt wurde, hätten ihn abwarten lassen
und „nachdenklichgemacht“. Dann hät-
tenihn aber die „Klarheit und Entschlos-
senheitvonLindner überzeugt“und dazu
gebracht, den Eintritt zuvollziehen.

Foto ddp

elo. BERLIN.Der am 25. April auf ei-
nem Sonderparteitag zu wählende
CDU-Vorsitzende wirdsichbereits
nacheiner Amtszeitvonetwas mehr als
sieben Monaten wieder zurWahl stel-
len müssen. Das geschieht dann im
Zuge der Vorstandswahlen, die sat-
zungsgemäß alle zwei Jahrestattfinden,
auf demParteitag inStuttgart. Aller-
dingsvereinbartendie drei bisher be-
kannten Bewerber um dieNachfolge
der ausscheidendenVorsitzendenAnne-
gret Kramp-Karrenbauer am Montag-
abend bei einemTreffeninder Berliner
Parteizentrale, dassdie beiden im April
unterlegenenKandidaten im Dezember
nicht wieder antreten würden. Das wur-
de in CDU-Kreisen bestätigt.
Falls es im April zuweiterenNach-
wahlenkommt,werden auchdie Bewer-
ber,die aus diesen erfolgreichhervorge-
gangen sind, im Dezember wieder antre-
tenmüssen. Daskann nachderzeitiger
Lagegeschehen,wenn der nordrhein-
westfälis cheMinisterpräsident Armin
Laschet, derstellvertretender Bundes-
vorsitzender ist, dieWahl gewinnt.Ge-
plant ist, dassdann Bundesgesundheits-
ministerJens Spahn für den freigewor-
denen Stellvertreterplatz kandidiert.
Bisher sind außer derKandidatur La-
schets diejenigen des einstigenFrakti-
onsvorsitzenden im BundestagFried-
rich Merzund desVorsitzenden desAus-
wärtigen Ausschusses, NorbertRött-
gen, bekannt.Aus demKonrad-Ade-

nauer-Hauswarzuhören, dasszehn
weiter eCDU-Mitglieder sichumden
Parteivorsitz bewürben. Diese wurden
bisher allerdings nicht nominiert. Trotz
der Vereinbarung zwischen Merz,Rött-
genund Laschet, bei einerWahlnieder-
lagenicht abermals zu kandidieren,
droht der CDU ein instabiles halbes
Jahr mitweiteren Führungsdebatten,
falls der im AprilgewählteVorsitzende
und auchdie CDU bis zum Jahresende
unter schlechtenUmfrag ewertenzulei-
den hätten.
In dem mehr als einstündigen Ge-
spräch, an dem auchKramp-Karrenbau-
er,Generalsekretär Paul Ziemiak und
Bundesgeschäftsführer Stefan Henne-
wig teilnahmen,vereinbartendie drei
Bewerber dasweiter eVorgehen bis zum
Sonderparteitag. Geplant vonSeiten
der CDU sind „CDU live“-Talksmit den
Kandidaten und zwei zentrale, digitale
sogenannte Townhalls mitallen dreiBe-
werbern, hieß es aus demKonrad-Ade-
nauer-Haus. Darüber hinaus sei beab-
sichtigt, den Mitgliederndie Möglich-
keit zu geben, sichmit „Kandidaten-Fra-
gebögen“ an die Bewerber zurichten.
Nic ht vorgesehen sind dagegengemein-
sameAuftrittevor Landesverbänden.
Als im Herbst2018 dieNachfolgeder
Parteivorsitzenden Angela Merkelzure-
geln war, warendie drei Bewerber auf
acht Regionalkonferenzen jeweils zu
dritt aufgetretenund hattensichder Par-
teibasisgestellt.

E


igentlichsoll der Thüringer
Landtag an diesem Mittwochei-
nen Ministerpräsidenten wäh-
len, doch dann platzteamDiens-
tagdie Nachrichtindie Vorbereitungen,
dass sichein Abgeordneterder CDU-Frak-
tion mit dem Coronavirus infizierthaben
könnte. Der Mann aus dem Saale-Orla-
Kreis,wo am Montag der ersteCorona-
Fall imFreistaat gemeldetwurde,stehe
unter Quarantäne, sagteeine Sprecher
der CDU-Fraktion. DerAbgeordnete sei
mit dem Betroffenen in Italien im Skiur-
laubgewesen. Dem Thüringer Gesund-
heitsministerium zufolgezeigteerkeine
Symptome. Erst am Abend gabesEntwar-
nung: Eine Infektion wurde nachAnga-
ben des Laborsdes Thüringer Landesam-
tesfür Verbraucherschutz nicht nachge-
wiesen.Wäredas Testergebnispositivaus-
gefallen, hättewohl diegesamteCDU-
Fraktion, an deren Sitzung derAbgeord-
nete am Montagteilgenommen hatte, in
Quarantänegemusst.
Unabhängig davonwies der neue Thü-
ringer CDU-Fraktionschef Mario Voigt
am DienstagForderungen desVorsitzen-
den der JungenUnion, TilmanKuban, zu-
rück, wonachdie Abgeordneten der CDU
bei derWahl denPlenarsaalverlassen soll-
ten, um deutlich zu machen, dasssie Bodo
Ramelownicht wählen.Abgeordnete sei-

en nichtgewählt, „um sichaus derVerant-
wortung zu stehlen“,sagteVoigt dem
MDR.Ramelowstellt sichabermals zur
Wahl, nachdemeram5.Februar im drit-
tenWahlgang knappgegenden FDP-Poli-
tiker ThomasKemmerichverloren hatte.
Kemmerichwar dreiTage später untergro-
ßem innerparteilichen und öffentlichen
Druckzurückgetreten, weil er mitStim-
men der AfDgewählt worden war. Als Ge-
genkandidat zuRamelowstelltedie AfD-
Fraktion nun–andersals beim letzten
Mal,als sie einen parteilosen Zählkandida-
tennominierte–ihren Vorsitzenden
BjörnHöcke auf. Die AfDwerde„auf kei-
nen Fall BodoRamelowvon den Linken“
wählen, sagteHöcke.
Die FDP-Fraktion wiederumkündigte
am Dienstag an,weder Ramelownoch
Höcke zu wählen undwährend derWahl
denPlenarsaal zu verlassen, um daszudo-
kumentieren.„Wir lehnen beideKandida-
tenab“, sagteFraktionssprecher Thomas
Reiter .Zudemwerdemit demVerhalten
klar,dassdie Liberalen nicht fürRame-
lowgestimmt haben und die ihmfehlen-
den Stimmen zur absoluten Mehrheit des-
halb nur aus der CDUgekommen sein

können. Das sei „ein schönerNebenef-
fekt“, soReiter .Die Ankündigung dürfte
als Racheander CDU-Fraktion zuverste-
hen sein, aus der mehrereAbgeordnete
Kemmerichgedrängt hatten, am 5.Febru-
ar gegenRamelowzukandidieren, und
ihn im drittenWahlgang auchmutmaß-
lichfasteinstimmiggewählt hatten, sich
dann aber nachdessen überraschendem
Wahlsieg und der überbordenden Kritik
daran maximalvonihm distanzierten.
Um gewählt zu sein, istinden ersten
beidenWahlgängen die absoluteMehr-
heit der 90Abgeordnetennötig, also min-
destens 46Stimmen.Rot-Rot-Grün hat zu-
sammen 42Abgeordnete,die AfD hat 22.
Damithingees all ein vonden 21 Abgeord-
netender CDU ab, obRamelowimersten
Wahlganggewählt wird. Die Linkehat
stetshervorgehoben, Ramelownicht
nocheinmal in dreiWahlgängeschicken
zu wollen.Ramelowselbstsagte, ergehe
„völlig zuversichtlich“ in dieWahl. „Aber
wir haben es nicht allein in der Hand“,
sagteLinken-Chefin Susanne Hennig-
Wellsow. „Wir guckenseit Tagenalle in
eine Glaskugel.“Ramelowsoll lediglich
für eineÜbergangszeit bis April 2021ge-

wählt werden, dann soll es eineNeuwahl
geben. So hatten es Linke, SPD und Grü-
ne mit der CDUvereinbart. Die CDU
fürchtetangesichtsverheerenderUmfra-
gewerteeine sofortigeNeuwahl und hat
sichdeshalb mitRot-Rot-Grün auf eine
bewusst nichtTolerierunggenannteinfor-
melleKooperation für eine begrenzte
Zeit verständigt,wasdie Wahl Ramelows
als Übergangsregierungschef beinhaltet.
Die Union hat zwar angekündigt,Rame-
low„als Fraktion“ nicht mitwählen zu
können. EinzelneAbgeordnete verwie-
sen immer wieder darauf, dassdie Wahl
geheim und sie in ihrem Mandat frei sei-
en. Bereits am 5.Februar hatteesmut-
maßlichaus denFraktionenvonCDU
und FDP zweiStimmen fürRamelowund
eine Enthaltunggegeben.
SollteRamelowdie absoluteMehrheit
im ersten Wahlgangverfehlen,wolltedie
Linkebisher dieWahl abbrechen und so-
fort einen Antrag aufAuflösung des Land-
tags stellen. Dafür sind mindestens 30Ab-
geordnete nötig, die Linke, SPD und Grü-
ne zusammen haben.Zustimmen müssten
dem Antrag dann allerdings mindestens
60 Abgeordnete,dieHürdeistalsonoch
höher als bei derWahl desRegierungs-
chefs. AfD, CDU und FDP haben sichge-
geneine Neuwahl ausgesprochen. Da
aber Höcke weiter im Rennen bleiben
dürfte, würdewohl auchRamelowinei-
nen zweitenWahlganggehen, da sonst
Höcke als Alleinkandidat in einem dritten
Wahlganggewählt werden könnte.
Verfehlt Ramelowauchimzweiten
Wahlgang die absoluteMehrheit,kommt
es wie am 5.Februar abermals zu einem
drittenWahlgang. In diesem gilt der Kan-
didat alsgewählt, der die meistenStim-
men auf sichvereint.Zudemkönnen spon-
tanweiter eKandidaten in dasRennen ein-
steigen, so wievorvier Wochen Thomas
Kemmerichvon der FDP.Sowohl CDU als
auchFDP haben jedochangekündigt,
auchimdritten Wahlgangkeinen eigenen
Bewerber aufstellen zu wollen. Sofern
CDU und FDP–die dazu in den Plenar-
saal zurückkehren müsste–dann nicht für
Höcke stimmen,wäre Ramelowmit den
42 Stimmen seinerrot-rot-grünen Minder-
heitskoalitiongewählt.Auf die CDU-Stim-
menkäme es nicht mehr an.

Harald Christ

Foto Marcus

Reichmann

mwe. BERLIN.Esist nur einekurze
Szene auf derStrategiekonferenz der
LinksparteiamWochenende inKassel.
EineTeilnehmerin sprichtwährend ei-
ner Diskussion zur Energiepolitik der
Linken. Sie sagt dabei den Satz: „Ener-
giewende istauchnötig nach’ner Revo-
lution.Undauchwenn wir das eine Pro-
zent derReichen erschossen haben, ist
es immer nochso, dasswir heizenwol-
len, wirwollen unsfortbewegen. Na ja,
is’so!“ DieVersammlungsleiterin unter-
bricht die jungeFrau, weil derenRede-
zeit abgelaufen ist. Der Parteivorsitzen-
de Bernd Riexinger,der auf der Bühne
sitzt,reagiertnur mit einem einzigen
Satz:„Ichmöcht enur sagen:Wirerschie-
ßen sie nicht, wir setzen sie schon für
nützliche Arbeit ein.“ Der Saalreagiert
mit Beifall und Lachen.
Die „gesellschaftlich nützliche Ar-
beit“ istein Begriff aus demUniversum
sozialistischer Theorie, auchdie SED
setzte auf dieseverpflichtende Arbeit.
Die Partei betrachte„die gewissenhafte,
ehrliche undgesellschaftlichnützliche
Arbeit als Herzstück der sozialistischen
Lebensweise“, heißt es etwaim Pro-
gramm der SED von1976.Auch im
Strafvollzug derStalin-Zeit spieltedie
Idee der Besserung undUmerziehung
der Inhaftiertendurch „gesellschaftlich
nützliche Arbeit“ einegroße Rolle.
DerParteisprecher der Linkensagte
auf AnfragedieserZeitung, die Bemer-
kung derRednerin sei „rhetoris ch ge-

meint“gewesen und „kein ernsthafter
Vorschlag“. Riexinger habedarauf „mit
einemWitz etwasunglücklichreagiert“.
Riexinger selbstreagierte auf denVideo-
ausschnitt derKonferenz per Twitter:
„DerKommentar der Genossinwarunak-
zeptabel, wenn aucherkennbarironisch.
MeineReaktion darauf hättesehr viel un-
missverständlicher seinmüssen.“
Das Feindbild derReichen wirdinder
Linkengepflegt.Umdie Reichenweni-
gerreichzumachen, wirdeine „kräftige
Umverteilungvonoben nachunten “ver-
folgt, wie es in einemPapier der Linken-
Fraktion heißt.Vorgeschlagen wirdeine
Vermögensteuer vonfünf Prozent für
Vermögen oberhalb einer Million Euro,
eineReichensteuer von60Prozent ab
260 000 EuroEinkommen und 75 Pro-
zent auf Einkommen oberhalbvonei-
ner Million Euro. Zudem will diePartei
eine Einkommensteuer von53Prozent
ab 70000 EuroEinkommen im Jahr.
Dochbei Steuernbleibt es nicht.ImBer-
liner BezirkSpandau hat die LinkeEnde
Februar beantragt, einenReichtumsbe-
richtzuerstellen. Begründung: Die
Mehrheit der Bürgerempfinde den
Reichtum als „ungerechtverteilt“. Des-
halb sollten Maßnahmen für eine „sozi-
al gerechtereVerteilungvonReichtum“
im Bezirkbenanntwerden. Dasreichs te
eine Prozent der Deutschen, das pro
Kopf 3,75 Millionen Eurobesitzt, um-
fasstlaut der Linken übrigens 690 000
Menschen.

1945


EineStimme zuwenig: BodoRamelowam5.Februar im ErfurterLandtag FotoAFP

„GorchFock“wird


später fertig


Die Sanierung des Segelschulschiffs
„Gorch Fock“verzögertsichummin-
destens einweiteres halbesJahr.Das
hat das Verteidigungsministerium
eingestanden. Die Barkder Marine
soll Ende Mai 2021 übergebenwer-
den, nachrund sechs JahrenRepara-
turzeit.Der neue Eigentümer derRe-
paratur-Werft,der SchiffsbauerLürs-
sen,teilteamDienstagmit, es sei
eine „umfassende Bestandsaufnah-
me durchgeführt“worden und man
habe Arbeiten dervorherigenWerft
korrigiert. Weiter heißt es: „In der
Summe erfolgteandem Schiffüber
viele Monatekein nennenswerter
Baufortschritt.“Zu den Kosten mach-
te die Werftkeine Angaben. pca.

Rüge für Türkis-Grün
Die „türkis-grüne“ Regierung in
Österreichunter Bundeskanzler Se-
bastianKurz hat in einemStreit mit
der Opposition über den Ibiza-Unter-
suchungsausschussvor demVerfas-
sungsgerichtshof inWien eine Nieder-
lageerlitten.ÖVPund Grüne hatten
denUntersuchungsgegenstand stark
auf Themen eingeengt, die potentiell
vorallem die frühereRegierungspar-
teiFPÖ betreffen. Die sozialdemokra-
tische SPÖ und die liberalenNeos,
die als Minderheit den Ausschuss
durchgesetzt haben, möchten darüber
hinausFragen untersuchen, die auch
für die ÖVPunangenehm werden
könnten. Dievonder Koalition im Ge-
schäftsordnungsausschussdurchge-
setzt eEinengungverstoße gegendie
Verfassung, „wenn siegege nden Wil-
len der Minderheit erfolgt“, rügte das
Gericht. löw.

WolfgangHoffmann-Riem 80


Er wareine Säule des Ersten Senats. Die
Entscheidungen, an denen Wolfgang
Hoffmann-Riem federführend beteiligt
war, warenoft Wegmarken–sei es auf
demFeld derVersammlungs- und Mei-
nungsfreiheit, der Online-Durchsuchung
oder derRundfunkordnung. Der in Ham-
burgund BerkeleyausgebildeteJuris tver-
trat eine liberale Linie, ohne aber das
Ganze aus denAugenzuverlieren.Kon-
sequent trat er für das Demonstrations-
rech tauchvon Rechtsradikalen ein. Der
HamburgerStaatsrechtslehrer,einstMit-
glied der SPD, wurde 1995 aufVorschlag
der fast vergessenenStatt-Partei in der
Hansestadt Justizsenator.Vier Jahrespä-
terwurde Hoffmann-Riem aufVorschlag
der SPDNachfolgervonDieter Grimm
am Bundesverfassungsgericht. Hier ent-
schied er mit über die akustischeWohn-
raumüberwachung, dieRasterfahndung
und die Pressefreiheit. Obwohl er nicht
Vorsitzenderdes Ersten Senats war, präg-
te er dessenRechtsprechung,etwa als er
aus dem allgemeinen Persönlichkeits-
rech tdas „Grundrecht auf Gewährleis-
tung derVertraulichkeit und Integritätin-
formationstechnischer Systeme“ ableite-
te.Den Roman „Esra“vonMaxim Biller
wollteer, andersals die Senatsmehrheit,
nicht verbieten. Obwohl auf Wirkung
Wert legend, hielt sichHoffmann-Riem
als Richter öffentlich zurück–es war
eineAusnahme, als er 2002vomdamali-
genHamburgerInnensenator Schill Klar-
heit über Drogengerüchte forderte.
Zusammen unter anderem mit Andreas


Voßkuhle rief der innovativeStaats-
rech tslehrer eine „NeueVerwaltungs-
rech tswissenschaft“ aus. An diesem Mitt-
woch wird Wolfgang Hoffmann-Riem
80 Jahrealt.(Mü.)

Franz Löschnak 80
Werglaubt, dieZerrissenheit der Sozial-
demokratie zwischen „Refugees Wel-
come“ und Grenzschützernsei eine neue
Sache, denkönnteFranz Löschnakeines
Besseren belehren. Der SPÖ-Politiker
warösterreichischer Innenminister in
der Zeit, in der der EiserneVorhang fiel
und Migrationsbewegungen inganz neu-
er Dimension in Europa stattfanden.
Löschnakstammte aus Wien-Favoriten
undhatteein Gespür dafür,wie in dertra-
ditionellenSPÖ-Klientel über dieses The-
ma gesprochen wurde.UnterseinerÄgi-
de wurden Ausländergesetzeverschärft.
Linkekritisiertenihn scharf, JörgHaider
nannteihn den besten Mann imKabi-
nett .Löschnak wirddas Kompliment
zweifelhaftgefunden haben. Einengro-
ßen Schattenwarfen dievoniranischen
Agenten inWien verübten Morde an drei
kurdischen Oppositionellen; dieTatver-
dächtigenkonnten unbehelligt das Land
verlassen;Wien wichdem Druckaus Te-
heran und erfreutesichspäter guter Be-
ziehungen dorthin. Löschnak,der an die-
sem Mittwoch80wird, machteeine klas-
sischeKarriereimMagistrat des „Roten
Wiens“, ehe ihn Bruno Kreisky 1977 in
die Regierung holte. Er dientedortals
Staatssekretär und MinisterimBundes-
kanzleramt,von1989 bis 1995 als Innen-
minister. (löw.)

Nurfür einhalbesJahr


CDU-Vorstand wirdimDezember abermalsgewählt


Qual der Nichtwahl


Neumitglieder mit Vorgeschichte


Zumzweiten Mal wirbt die FDP der SPD öffentlichkeitswirksam Personal ab / VonJohannesLeithäuser, Berlin


„Ein Prozent erschießen“


Die Linksparteiund ihr Chef scherzen überReiche


Wichtiges inKürze


Personalien


DiePolizei hat am Dienstag zwölf
Wohnungen mutmaßlicherRechtsex-
tremisteninSchleswig-Holstein, Nie-
dersachsen, Brandenburgund Hessen
durchsucht. Die zwölfVerdächtigen
sollensichimJuli 2019 mitweiteren
Beteiligten in Bad Segebergzuder
Gruppierung„Aryan Circle Germa-
ny“zusammengeschlossen haben,
wie dieStaatsanwaltschaftFlensburg
mitteilte, ihnen wirddie Bildungei-
ner kriminellenVereinigung vorge-
worfen. Festnahmengabeskeine. Die
rech tsextremistische Gruppe hatte
den Angaben zufolgerassistischmoti-
vierte Straftatengeplant,Körperver-
letzungen und Sachbeschädigungen
sowieStraftaten nachdem Waffenge-
setz.KonkreteAnschlägeseien aber
nichtgeplan tgewesen .Bei de nDurch-
suchungen wurden Computer,USB-
Sticks und Handysbeschlagnahmt.
Die Tatverdächtigen sind zwischen 19
und 57 Jahrealt.Die Behördenwaren
auf „Aryan Circle Germany“ über In-
ternetrechercheaufmerksamgewor-
den. Bei einem der Beschuldigten soll
es si ch nachInformationen dieserZei-
tun gumBerndT. handeln, einen äu-
ßerst gewaltbereitenNeonazi.T. war
langeinKassel aktiv,ergilt als Grün-
der desrech tsextremistischenVereins
„Sturm18“, der 2015verbotenwurde.
In Bad Segebergversuchteer, „Aryan
Circle Germany“ zuetablieren. Die
Ermittler haben denVerdacht, dass
„Aryan Circle Germany“ dieFolgeor-
ganisationvon„Sturm18“ is t. moja.

DIE LETZTEN
KRIEGSWOCHEN

4. MÄRZ


An diesem Mittwochsoll


der LandtaginErfurt


abermalseinen


Ministerpräsidenten


bestimmen. DieFDP


willaus demSaal gehen


–und in derCDU gabes


einenCorona-Verdacht.


VonStefanLocke,


Dresden


Florian Gerster

Razzia bei


mutmaßlichen


Neonazis


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik MITTWOCH, 4.MÄRZ2020·NR.54·SEITE 5

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