Frankfurter Allgemeine Zeitung - 04.03.2020

(Darren Dugan) #1
Der Vorspielabend hattenochnicht ein-
mal begonnen, als ichmir sicherwar, des-
sen dramatischen Höhepunkt schon hin-
termir zu haben: EinPaar hattesichvor
michindie Zuschauerreihen des kleinen
Saals derFrankfurterMusikhochschule
gesetzt, die Mützengerade erst abgenom-
men, und ihmstand eine widerborstige
Strähne schrägvomHinterkopf, wie es wi-
derborstigeSträhnengern so tun. Sie hat-
te es bemerkt und fürsErste versucht, mit
bloßer Hand das Haar zurichten. Eswoll-
te sichnicht richten lassen, und sieverfiel
auf einenTrick, den siewomöglichJahr-
zehnte zuvor bei ihren Kindernange-
wandt hatte, als diese nochganz klein
und regelmäßig eisverschmiertwaren um
den Mund: Siefeucht eteihreHand mit
Spucke an, und prompt gelang es ihr,die
Strähne zum Liegen zu bewegen. Das
Konzertkonnte beginnen.Waskonnte
nochkommen? Klaviersonaten Beetho-
vens standen auf dem Programm, ein
Klassenvorspiel.
Sitzt man imZuschauerraum auf der
rechten Seite, sieht man dieKünstler im
Spiegel des klavierlackschwarzen Türrah-

mens am Bühnenzugang schon, bevorsie
sichein letztes Malgestrafft haben, Hal-
tung eingenommen, die Konzentration
oder das Lächeln aufgesetzt, mit denen
sie kur zdarauf insRampenlicht treten
werden. Ichhättezudem Zeitpunkt noch
nicht sagenkönnen, wieweit es meinVer-
ständnisvonBeethovenbereichernwür-
de, zu sehen,wie sievoneinem Bein aufs
anderewechseln oder mit ein, zwei
schnellen Schritten auf die Bühne zuei-
len, um dann plötzlichwie ratlos innezu-
halten. Man sieht sie sichnocheinmal
schütteln, denKopf wenden, sieht, wie
sie denKörper einmal nochihrer Nervosi-
tätüberlassen, bevorsie sichfassen und
die wenigen Schrittezum Flügelgehen.
AufdiesemWegscheinen sichdie einen
regelrecht zu schleppen, ehervomUnaus-
weichlichengezogen alsvonder Vorfreu-
de aufseigene Spiel, anderesetzen eine
Entschlossenheit in ihren Gang, alsgelte
es, das Instrumentzubezwingen.
Hätteich an einemAbend mit Chopins
Nocturnes anderes erlebt? Bei Bach, bei
Brahms? Ein hochgewachsener junger
Mann schafft es, getragenvonspürbarer
Sympathie derKommilitonen im Publi-

kum, zum Flügelfast zu schlendern.Kurz
darauf zeigt sich, dassseineForm des
Selbstbewusstseins der Beethoven-Sona-
te nicht unbedingt guttut.Einer zierli-
chen jungen Dame misslingt auf ihrem
Weg, den Flügel schon mit bloßem Blick

zu töte n. Jetzt müssen die Hände her.Sie
greift, sie schlägt, siekämpft,und nur Mo-
mentenachdem sie ihrWerk begonnen
hat, beginnt ihre Haut an den bloßenAr-
men zartzuschimmern.
Eine andereschaut beim Spiel immer
wieder in den oberen Bühnenwinkel, als
sähe sie dorteine Erscheinung, der sie
sichfür ihrTunverantwortenmüsse–ob
tief gläubig oder ungläubig,vermag ich
nicht zu deuten.Wieder eine anderetupft
in den leisen Momenten ihrer Sonatedie
Tasten undflüstertdabei, als pflegesie un-
ter zärtlichenTrostworteneine Verlet-
zung.

Werdie Musik der Großen spielt,stellt
sicheinerKunst, diegrößer istals er und
dochdurch ihn erst werden soll. Man
kann, sokommt es mir an diesemAbend
vor, ein solches Kräfteverhältnis auf die
leichteSchulter nehmen oder als zuvör-
derst sportliche Herausforderung, man
kann andächtigwerden oder selbstverges-
sen. Daniel Barenboim spielt in dieser Sai-
son die zweiunddreißig Klaviersonaten
Beethovens in achtKonzertenimBerli-
ner Pierre-Boulez-Saal,vonEnde August
an wirdIgor Levit mit diesem Programm
im Kammermusiksaal der Philharmonie
zu hörensein.Die Schlüssigkeitderkünst-
lerischen Annäherung, das Erlebnis, wie
ein einzelnerPianistdas Individuelleje-
der der Sonaten mit dem sieVerbinden-
den balanciert, dasAufeinandertreffen
musikalischerPersönlichkeit mit musika-
lischer Charakteristik macht solcheKon-
zertreihen bestimmt zu einem Erlebnis.
Wasesaber heißt, sichdiesemWerk zu
stellen, estechnischbewältigen und dann
auchnochmit Leben füllen zu müssen,
habe ichbeim Hochschul-Vorspiel mit
MusikernimWerden aufsschönste hören
und sehenkönnen.

BEGEGNUNGEN
MITBEETHOVEN

N

achder RevolutionvomOkto-
ber 1917 haben die Sieger
„nichteinmal die bürgerli-
chen Zeitungenverboten“. Zwei Jahre
später erfuhren das dieZeitungsleser
in denVereinigtenStaatenaus erster
Hand beziehungsweise aus erstem
Mund–dem vonLenin, dereinem
amerikanischen Journalistensein Kon-
zepteinerRevolution zum Mitschrei-
ben durchden Klassenfeind in dieFe-
der diktierte. Für einen ähnlichen An-
satz integrativer Dialektik hat Joachim
Gauck,Nachlassverwalter derRevolu-
tion vomNovember 1989,den Begriff
der erweitertenToleranz nach rechts
geprägt.Die ExpansionvonLeninsTo-
leranzkamanihreGrenze, als die bür-
gerliche nLeitartikler nicht davonab-
ließen, seinen Bürgerkriegsgegnern
Munition zu liefern.Der dialektische
Umschlagwardie Folge: „Nachdem
die Ausbeuter ihrenWiderstandver-
stärkten,sindwir an diesystematische
Unterdrückung dieses Widersta nds
gegangen.“ Mit den Zitatenerläutert
die Marxistisch-Leninistische Partei
Deutschlands (MLPD) LeninsWeis-
heit.IhrePressepolitikbefindetsich
nochinder Phase der These. Obwohl
die Partei seit 38 Jahren die „systemati-
sche und beharrliche Kleinarbeit“ zur
Vorbereitung derRevolutionverrich-
tet, mit der sie sichinihrem Programm
beauftragt hat, sinddie bürgerlichen
Zeitungen nochnicht verboten. So
konnte die„WestdeutscheAllgemeine
Zeitung“vom17. Februar 2020 insRat-
hausvonGelsenkirchen geliefert wer-
den,woOberbürgermeisterFrank Ba-
ranowski si ezur Hand nahm. Man hät-
te ja vermutet,den Sozialdemokraten,
der über diestädtische Altschuldenlast
von663 Millionen EuroKlagezufüh-
renpflegt, interessiertennur die Bör-
sennachrichten–da der Sportteil die-
ser Tage keineerfreuliche Lektürebie-
tet. Aber derStadtvaterliestauchden
Lokalteil und muss dortauf die Mel-
dunggestoßen sein,dassdie MLPD
vordem Sitz ihresZentralkomiteesin
Gelsenkirchen-Horst ein Lenin-Denk-
mal errichtenwill. JusteinenTagnach
Erscheinendes Artikels wurde die seit
zwei MonatenbeimReferat fürBau-
ordnung liegende Ankündigungdes
Bauvorhabens an dieUntere Denkmal-
behördeweiter geleitet. Manbraucht
kein Marxistund nicht einmal Hegelia-
nerzusein,umdas nicht füreinenZu-
fall zu halten. Nach nur zweiTagenBe-
arbeitungszeiterging ein Erlass,der
die Aufstellung der ausder Erbmasse
der Sowjetuniongeborgenen Statueun-
tersagt.DieBegründungzeigt,dass
der Feind seine dialektische Lektion
gelernt hat:Dem Denkmalstehtein
Denkmal imWeg–denn das Gebäu-
de, in demdas ZK arbeitet, alsRathaus
der einstselbständigenStadt Horst er-
richtet, is tschon ein Denkmal,und das
Standbild des Arbeiterführersdroht
den Bürgerndie Si chtauf dasMonu-
ment ihrer untergegangenenVerwal-
tungzunehmen.Undzwarnicht etwa
deshalb,weil der Bronze-Lenin zwan-
zig Stockwerke hochwäre. Nein, da Le-
nin der Mannwar, dereine blühende
Stadt wie Gelsenkirchen in eineWüste-
nei verwandelnwollte, „wird der Bli ck
des Betrachtersnicht mehrrespektive
nicht mehr uneingeschränktauf das
Baudenkmalgerichtet sein“.Aber das
Hausgehört der MLPD, und einRekla-
meverbotfür Hauseigentümerwäre
einerevolutionäre Maßnahme,wie sie
anfangs nicht einmal Lenin ergriff.

Lenin imWesten


VonPatric kBahners

J


ane Austen verfilmt man nur dann,
wenn man der Sache wirklichet-
wasNeues hinzuzufügen hat, sonst
kann man esgleichlassen. DieRo-
mane sind überschaubar in der Anzahl,
die Fangemeinde istriesig und schautge-
nau hin. So wie nun auchbei „Emma“.
Gut,die Lattehängtmit de rletztenVerfil-
mungvon1996 niedrig, in der Gwyneth
Paltrowund Toni Colette(sie wardas Bes-
te daran) die Hauptrollen übernahmen.
DieserFilmkam ohne eine einzigevisuel-
le Idee aus,Weitwinkelobjektivewaren
anscheinendgeradekeineverfügbar,was
blöd ist,wenn manweitläufigeLandgüter
durchschweifen möchte. Die Leutehatten
alle irgendwas an, und das führte rätsel-
hafterweise zu einer Nominierung für
den Kostüm-Oscar.Dabeikonnteman an
diesemFilm sehen, wie man JaneAusten
gerade nichtverfilmt, nämlichohne Kon-
zeptund Gefühl dafür,wie man mit Klei-
dung Charakter erzählenkann, weshalb
es dann aussah wie in einer besonders
sparsamenFernsehversion. All daskonn-
te AngLees Adaptionvon„Sinnund Sinn-
lichkeit“ aus demVorjahr viel besser–sie
istbis heute der GoldstandardinSachen
Austen.
Die „Emma“-RegisseurinAutumn de
Wilde isteine amerikanischePorträtfoto-
grafin, die bislang hauptsächlichMusikvi-

deosgedreht hat.Nun führte sie bei ih-
remerstenSpielfilmRegie und suchte
sichals Einstand gleichJane Austens
schwierigstenRomanmitderwiderspens-
tigstenHeldin aus. Das Drehbuchliefer te
ihr die neuseeländische Schriftstellerin
Eleanor Catton, die nicht nur die jüngste
Booker-Preisträgerin der Geschichteist,
sondernimJahr 2013 auchnochmit dem
dickstenRoman bishergewann, „Die Ge-
stirne“ heißt er.Mit ihm hat sie bewiesen,
dasssie ausufernde historische Settings
in den Griffbekommt, und diesesVerspre-
chen löstsie grandios ein.
Nunkann manAusten brav wegver fil-
men, dann bekommt man eine nettero-
mantischeKomödie.Autumn deWilde
macht aber allesganz anders.Undzwar
so anders, dassman zunächstins Zwei-
feln kommt, ob das gutgehenkann. Jede
Einstellung istbis ins letzteBlümchen
durchkomponiert, und derFilmist reich
an Blümchen. Jedes Kleid, das Emma
(Anya Taylor-Joy) trägt, bekommt seinen
spektakulärenAuftritt.Gerne wirdins
Karikatureskeüberzeichnet, die Handrei-
chung des Dienersals komisch-steifes Bal-
lett inszeniert,etwa,wenn der zugemp-
findlicheVaterWoodhouse (Bill Nighy)
sichabends amKamin mitWandschir-
men umstellen lässt.Diese Geschehnisse
sind aber mehr als nurRunning Gags. Die
Wandschirmeteilen denRaum auf und
grenzenPersonenvoneinander ab oder er-
möglichen ihnen Privatsphäre. DieKostü-
me vonAlexandra Byrne–die man aus
den Elizabeth-Filmen mit CateBlanchett
kennenkönnteoder aus denAvengers-Fil-
men der letztenZeit –sind dezidiertnicht
romantisch, die Kräusellockenwenig
schmeichelhaft. Das Make-upgerätsoun-
sichtbar,dassesschon wieder auffällt.
Die Landschaftumdie Landsitze istweit,

die Libanonzedernsind groß, wie es sich
gehört, und beim ersten Schneeflöckchen
geraten alle inPanik,wie man denn nun
am bestennachHausekommt.Das neun-
zehnteJahrhundertleibt und lebt in die-
sem Filminall seinerAbsonderlichkeit.
Die Geschichteist eing eweihtenAus-
ten-Lesernohnehinbekannt:Emma
Woodhouse,die schöne,reiche, ziemlich
verwöhnteHeldin des1815 erschiene-
nenRomansvonJane Austen, hältihre
eigene Menschenkenntnis für unbestech-
lich, und das istschon dererste Fehler.
Die Geschichte beginnt mitder Hoch-
zeitihrerGouvernanteund Vertrauten
MissTaylor (GemmaWhelan),nun Mrs.
Weston, und Emmaglaubtfest daran,
die Ehe derbeidengestiftetzuhaben.
Derartmotiviertmacht sie sichnun ans
Werk,die junge Harriet Smith (Mia
Goth), einMädchen unklarer Herkunft,
lukrativzuverkuppe ln. Harriet istSchü-
lerineinesnahegelegenenMädchenpen-
sionats fürmittlerebis höhereTöch ter,
die dort auf Heiratund Gesellschaftvor-
bereitet werdensollen. DieseTöcht er pa-
radierenregelmäßig im Gänsemarsch
durch denFilm,alle angetan mitroten
Umhängen und Schutenhütchen, wobei
die Ähnlichkeit zu denFrauen aus Mar-
garet Atwoods „Reportder Magd“mit Si-
cherheitkein Zufall is t.
Im Folgenden tretendreiFamilien und
diverseweiter eBewohner desfiktiven
Dörfchens Highburyauf: Ein leicht über-
forderterVater–Austenist Expertin für
überforderte,genervte, sarkastischeVä-
ter–,eine alteJungfer, die nicht aufhören
kann zureden, ein eitler Pfarrer, ein erst
mysteriöser,dann sehrcharmanterAdop-
tivsohn aus London, eine halbtaubeWit-
we,eine musikbegabteWaise und einet-
waslinkischer,aber tüchtigerPächter.

Die Handlung hangelt sichdurch eineRei-
he an Begegnungen, abendliche Gesell-
schaften, Bälle undgelegentliche kleinere
Unfälle, bei denen dasPersonal aufeinan-
dertrifft,was nie ohneReibungenvonstat-
tengeht.Der Humor beiAusten besteht
auchweniger in Situationskomik,er
schlägt sicheher in der Sprache nieder,in
genauer,zugespitzter Beschreibung und
lakonischen Kommentaren.Filmt man
einfachdie Handlung ab, bleibt viel auf
der Strecke.DeWilde hingegen hat sich
große Mühegegeben, den ironischen Ges-
tus vonAustens Tonfilmischumzuset-
zen.Vorallemgelingt ihr das mit Blicken
und kleinen Gesten. Eine mit zitternder
HandgehalteneTeetasse, ein nervöserFä-
cher,ein gekünsteltes Kichernentfalten
in ihrenstatischen, bis ins Letztedurch-
komponiertenBilderndie gewünschte
Wirkung.
UndEmma? Die bisherigenVerfilmun-
gengeben sichmeistgroße Mühe, die
Hauptfigur etwaszuentschärfen, weil
manromantischeKomödien ja ungern
mit einer nur mittelsympathischen Prot-
agonistin besetzt–die Zuschauerin soll
sichjabitteidentifizieren. DeWildes
Emma hingegen will ihrem Publikum
nichtgefallen. Sie istein verzogenes Pro-
dukt ihrer sozialen Schicht, das Empathie
erst mühsam lernen muss–ein Problem,
das in ebenjener sozialen Schicht in Eng-
land bis heuteanzudauernscheint.Doch
je mehr Emma auftaut, desto wärmer
wirdauchdem Filmums Herz, ohne dass
er dieKontrolle über seine peniblen Bild-
kompositionen aufgibt.AmEnde be-
kommt natürlichjedesTöpfchen sein pas-
sendes Deckelchen: die musikbegabte
Waise, Harriet aus dem Mädchenpensio-
nat, der eitle Pfarrerund natürlichauch
Emma. ANDREADIENER

Wenn Pianisten au fBewährung rausko mmen


Beobachtungenwährend einesSonatenabendsan derFrankfurterMusikhochschule / VonFridtjofKüchemann


Erst schlossdie eine Schule.Nurvor-
übergehend, und heute könntedie
Metropolitan School in Berlin-Mitte
vielleicht schon wieder öffnen, aber
die Nachrichtmacht eschneller die
Runde, als dieVernunftsie einholen
konnte. In der Elternschaftsoll es je-
mandengeben, derKontakt zu einer
mit dem Corona-Virus infiziertenPer-
son hatte. In der Schule selbstgibt es
aber Berichten zufolgekeinenVer-
dachtsfall. Die Schulleitung handelte
hier zunächsteigenmächtig; eine Be-
scheinigung vomGesundheitsamt,
die wegender Schulpflicht erforder-
lichist,soll aufAufforderung der Ber-
liner Bildungsverwaltung nun nachge-
reicht werden. Dakonnteman noch
denken, diese eine Schulewarviel-
leichtetwasüberbesorgt,wenn nicht
leichthysterisch, womöglichist es
garein Fehlalarm?
DochwenigeStunden späterkam
die Meldungvonder zweiten Schule.
Die Senatsverwaltung für Gesund-
heit empfahl der Bildungsverwal-
tung, die Emanuel-Lasker-Oberschu-
le in Berlin-Friedrichshain bis auf
weiteres zu schließen. Esgebe einen
positivgetesteten Corona-Fall. Dies-
mal traf es eine öffentliche Schule.
Sie wurde umgehendgeschlossen.
Unddamitwaresnoch nichtvor-
bei. Esverging kein Tag, und schon
kamdie dritteSchule: Auchdie be-
nachbarte Modersohn-Grundschule
schlossgestern ihrePforten –denn
sie arbeitet eng mit der Emanuel-Las-
ker-Oberschule zusammen,weil aus
beiden Schulen eine Gemeinschafts-
schulewerden soll. „Hunderte Famili-
en imAusnahmezustand“, titelteder
„Tagesspiegel“ sofortaufgeregt on-
line, und man durftesichfragen,was
wohl derNormalzustand ist,wenn
drei vorübergehendgeschlossenevon
insgesamt mehr als siebenhundert ge-
öffnetenallgemeinbildenden Schu-
len schon denAusnahmezustand dar-
stellen. Soweit entfernt istdas von
der digitalenPanik nicht mehr,mit
der NutzerFotosvon leeren Super-
marktregalen posten, als stünde
Deutschlandkurzvorm Untergang –
ungeachtet der Tatsache, dassdie Re-
gale am nächstenTag wiedergefüllt
sind.
Unddoch: In der Hauptstadt geht
nochimmer das meiste seinen norma-
len Gang.Ausder Bildungsverwal-
tungverlautet, an einigen Schulen
gebe es„Abklärungsfälle“, fürweite-
re Schließungen sehe man derzeit je-
dochkeineVeranlassung.Auchdie
Museen und Theater zeigen sichent-
spannt–und ihre Besucher ebenso.
„Wir versuchen natürlich,Ruhe zu
bewahren“, sagt MarkusFarr, Presse-
referent derStaatlichen Museen zu
Berlin. Er schätze sichselbstals ängst-
lichein, wisse aber um dieUmsicht
der Verantwortlichen. Mitarbeiter sei-
en über präventiveMaßnahmeninfor-
miert, die Generaldirektionstimme
sichmit den übergeordnetenBehör-
den ab, „um auf mögliche Eventuali-
täte nvorbereitet zu sein“. Es liefen
alle Einrichtungen der Staatlichen
Museen imNormalbetrieb.Notfall-
pläne und Checklistenwürden über-
prüftund aktualisiert, eine Schlie-
ßung der Museen sei derzeit aber
kein Thema. Zwargebe esvereinzelt
StornierungenvonReisegruppen, ins-
gesamt sei jedochkein Rückgang der
Besucherzahlen zu beobachten.
Auch an wichtigen Berliner Thea-
tern wie der Schaubühne bleibt man
gelassen. Das Publikumkomme un-
verändert. Die üblichen Präventiv-
maßnahmen zur besseren Hygiene
seien ergriffenworden. Ansonstenbe-
obachteman „wachsam die Entwick-
lung“ undstehe in engemAustausch
mit der Senatsverwaltung fürKultur
und Europa.
Ein ähnliches Bild liefertder Rund-
funkchor Berlin.Wo gesungen wird,
fliegt mitunter Spucke,was dieAus-
breitung desVirusbegünstigenkönn-
te.Aber das istzurzeitwohl doch
nochzuhypothetisch: Der Chorbe-
trieb laufeganz normalweiter ,solan-
ge nichtsRelevantesvorliege.
Undwie sieht es im Kino aus? Ge-
hörtesnicht zu den Orten, die man
wegender zu erwartenden Ansamm-
lungvonMenschen in diesenTagen
unbedingt meiden sollte? In der Pres-
sestelle des KinobetreibersUCI, der
in Berlin viele Spielstätten hat, ist
stundenlang niemand zu erreichen.
Unterdessen hat die Charitéeine Un-
tersuchungsstelle fürPatienten mit
Corona-Symptomen eröffnet. Auf
der Straße und in den öffentlichen
Verkehrsmitteln trägtkaum jemand
einen Mundschutz. Soll man ja auch
nicht,warnun immer wieder zu hö-
ren, sonstgehen denen, die sie wirk-
lichbrauchen, die Schutzmittel aus,
operierenden Ärzten zum Beispiel.
Für Großveranstaltungen sieht es
dagegen nicht gut aus–erstwurde
die InternationaleTourismus-Börse
Berlin (ITB) abgesagt, dann das klei-
nereBerlinTravel Festival –und nun
das Ausfür die Leipziger Buchmesse.
Dochdie BerlinerKultur trotzt dem
Virus–noch. HANNAH BETHKE


Siehat esnichtnötig,unsz uge fallen


Der Pritzker-Preis, der „Nobelpreis
der Architektur“,geht an die Architek-
tinnen YvonneFarrell und Shelley
McNamara. Bekannt wurde das Duo
aus Irland mit preisgekrönten Schul-
undUniversitätsgebäuden. Sie sind al-
lesa mt große Maschinen zurFreiset-
zung sozialer Energien:Wenn etwa
ihr Bau für dieWirtschaftsfakultät
der Mailänder Bocconi-Universität
wie ein spektakulärerFelsvorsprung
aus Betonindie Stadt hineinragt,
dann nicht nur,weil sichdas Sonnen-
licht so schön auf den Volumina
bricht, sondernweil darunter ein öf-
fentlicher Platz entsteht, auf dem man
sichgernaufhält.Der Bau lüftetden
Talar und macht den privaten Grund
unter der elitären Privatuniversität
zum öffentlichenRaum. So bildetdie
fast beunruhigend plastische Architek-
tur nicht nur diegewaltigen Kräfte
der Marktwirtschaftab, sondernver-
sucht auchnoch, für mehr soziale Ak-
zeptanz zu sorgen. Der Preis wirdim
Mai übergeben. F.A.Z.

Der Chor


singtnoch


BerlinsKultur und


die Angstvor Corona


Eine Neuverfilmung


derwiderspenstigen


„Emma“–ganz nach


JaneAustens Humor.


Heiraten,wozu heiraten? Emma
(Anya Taylor-Joy) undNachbar
George Knightley(Johnny
Flynn) diskutieren diese
FrageimGrünen aus.
Foto UPI

Betonhilft


Pritzker-Preis an


Farrell und McNamara


FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MITTWOCH,4.MÄRZ 2020·NR.54·SEITE 9
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