Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

E


s sieht aus wie Kleinkunst, es hört
sich so an, und es riecht sogar wie
Kleinkunst. Im einst für Punk -
konzerte berühmten Klub SO 36
im Berliner Stadtteil Kreuzberg steht eine
Frau auf der Bühne und singt ein Lied
zur Gitarre. Der Saal ist ein Schlauch, in
dem 550 Menschen Platz haben. Er ist
mit überwiegend jungen Zuschauern ge-
füllt, mit Alkoholdunst und Menschen-
schweiß. Das Lied der Sängerin Dota
Kehr handelt von der poetischen Ver -
sifftheit des Berliner öffentlichen Nah -
verkehrs. Als sie fertig ist, setzt sie sich
auf eine Bierbank am rechten Rand der
Bühne – und sehr gemächlich erhebt sich
einer der vier Männer, die dort wie Fuß-
baller auf der Ersatzbank warten. Der
Mann ist eher schmächtig und geht zum
Mikrofon, das unter einer Discokugel auf-
gebaut ist.
Marc-Uwe Kling trägt eine Schieber-
mütze, wie fast immer, er begrüßt die Zu-
schauer mit einem nasalen Hallo und war-
tet nicht bis zum Ende des Applauses, bis
er zu sprechen beginnt. Kling hält ein paar
Manuskriptblätter in der rechten Hand
und liest mit großer Ruhe und ohne zwi-
schendurch aufzublicken vor, was dort ge-
schrieben steht. Als er zum ersten Mal
den Namen »Peter Arbeitsloser« sagt,
hört man Klatschen und Gelächter, Ar-
beitsloser ist eine bekannte Figur des
Kling-Universums. Kling akzentuiert bei
aller Sanftheit scharf und deutlich. Ein
bisschen so, als wäre er über die Begriffs-
stutzigkeit der Welt amüsiert. Nach etwa
zehn Minuten verzieht er sich zurück auf
die Bierbank, der Saal tobt. »Ich habe
über 1000 Auftritte hinter mir«, wird der
Künstler später sagen. »Irgendwann kriegt
man ein Gefühl für Timing.«
»Die Lesedüne« heißt das Kollektiv,
mit dem Marc-Uwe Kling seit 15 Jahren
bis zu zweimal pro Monat in Kreuzber -
ger Klubs auftritt. Einige der Gefährtin -
nen und Gefährten, mit denen er sich auf
der Bühne präsentiert, haben es zu Be-
kanntheit und zu Buch- oder Songver -
öffentlichungen gebracht, der aus Frei -
burg stammende Sebastian Lehmann
zum Beispiel oder die Berliner Sängerin
Kehr. Kling ist seit 2005, als die »Lese -
düne« sich die Verbreitung von »system-
relevantem Humor« (Eigenwerbung) zur
Aufgabe machte, zu einem sagenhaft er-
folgreichen Medienphänomen geworden.
Er hat Millionen Bücher und Hörbücher
verkauft, er hat als Vorlesekünstler Men-
schenmassen in großen Sälen und auf
Festivalbühnen begeistert, der US-Fern-
sehsender HBO will eine Serie aus einem
seiner Romanstoffe machen – und nun ist
Kling auch noch für einen Kinofilm mit-
verantwortlich.
Der Film »Die Känguru-Chroniken«,
für den Kling das Drehbuch verfasst hat,


beruht auf vier Büchern, in denen ein
mäßig erfolgreicher Kreuzberger Klein-
künstler namens Marc-Uwe Kling sich mit
seinem ihm eines Tages unverhofft zuge-
laufenen WG-Mitbewohner, einem kom-
munistischen Känguru, zankt. Gemeinsam
diskutieren die beiden über die Ungerech-
tigkeit der kapitalistischen Gesellschafts-
ordnung und erleben allerhand Abenteuer,
zum Beispiel an einem Badesee, am Flug-
hafen und an einer Kinokasse. Die vier
Bücher heißen »Die Känguru-Chroniken«,
»Das Känguru-Manifest«, »Die Känguru-
Offenbarung« und »Die Känguru-Apokry-
phen« und wurden von 2009 an erst lang-
sam und dann triumphal zu Buchhits und
Hörbuchbestsellern.

Auf der Bühne und in den Hörbuch -
versionen spricht der Autor Kling sowohl
die Rolle des Marc-Uwe als auch – mit
schnarrender, leicht erhöhter Stimme – die
des Kängurus. In der Filmversion, die am


  1. März anläuft, spielt der Schauspieler
    Dimitrij Schaad den Kleinkünstler Marc-
    Uwe. Kling gibt mit seiner Stimme nur das
    Zetern des Kängurus vor, das von einem
    menschengroßen, mithilfe von viel Trick-
    technik ziemlich realistisch hergerichteten
    Stofftier dargestellt wird.
    Kling hat eine grundsätzliche Abnei-
    gung gegen Interviews, seit vielen Jahren
    hat er keines mehr gegeben – und auch
    auf den Termin mit dem SPIEGELlässt er


sich erst nach langem Zögern ein. Es soll
eigentlich nur ein »zwangloses Reden«
über die Arbeit werden, dann sind es aber
doch zwei Treffen, einmal am Rand des
»Lese düne«-Auftritts in der Garderobe
des SO 36 und ein paar Wochen später
noch mal im Büro der Filmproduktions-
firma. Bei beiden Terminen gibt es Mo-
mente, in denen Kling sich selbst mit lustig
theatralischem Augenreiben zu versichern
scheint, dass alles wirklich passiert, was
ihm gerade widerfährt.
»Das ist ja nicht vorhersehbar gewesen«,
sagt Kling über seinen Erfolg. »Natürlich
hätte ich das vorher nie geglaubt, wenn es
mir jemand erzählt hätte. Ich hielt das alles
eher für eine Nischengeschichte.«

Tatsächlich ist Kling mit seinen »Kän-
guru«-Storys etwas geglückt, was satirisch
ambitionierten Schriftstellern oder politi-
schen Kabarettisten äußerst selten gelingt.
Er bringt sein mehrheitlich junges Publi-
kum dazu, sich mit gesellschaftskritischen
Fragen zu beschäftigen, lachend nachzu-
grübeln zum Beispiel über die Macht von
Amazon und Google, die Tradition deut-
scher Obrigkeitshörigkeit und den Sinn
und Unsinn der Börsenspekulation. Er ani-
miert Leser und Zuhörer dazu, Fragen zu
stellen über den Umgang deutscher Politi-
ker mit Rechtsextremen – eines der popu-
lärsten Kapitel der »Känguru«-Bücher
handelt von ein paar nicht sehr cleveren
rechten Schlägern, die vom Verfassungs-
schutz unterwandert sind. Das kommt
auch im Film vor.
Das Känguru ist als Gründer einer als
»Asoziales Netzwerk« firmierenden Klas-
senkampforganisation, deren Guerilleros
nachts in Konzernbüros eindringen und
dort größtmögliches Chaos anrichten,

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 111


Kultur

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Szene aus »Die Känguru-Chroniken«: Zetern im Dienst der Weltrevolution

»Ich hielt all das,
was ich mache, immer
eher für eine
Nischen geschichte.«
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