Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

K


aiserslautern« existiert seit 1938
und besteht aus hellem Holz. Die
Stiftskirche, die Pfalzgalerie, die
Fruchthalle. Alles ist da, liebevoll
und detailgetreu. Keine Spur allerdings
von der Shoppingmall von 2015, vom
neuen Fritz-Walter-Stadion von 2006.
So lange scheint nicht mehr weitergebaut
worden zu sein.
»Kaiserslautern« ist ein hölzernes Mo-
dell, das unbeachtet in einer Ecke des Rat-
hauses von Kaiserslautern steht. Niemand
braucht es mehr, die Stadt wird heute am
Rechner geplant. Den Staub erkennt nur,
wer sich dicht über die winzigen Straßen
und Klötzchen der Häuser beugt. Auf den
Tangenten und Plätzen und Dächern der
Stadt. Überall liegt Staub.
Die Erzählungen der Deutschen über
die gegenwärtigen gesellschaftlichen Ver-
werfungen in der Bundesrepublik kreisen
fast immer um die Metropole und das
Dorf – und den wachsenden Gegensatz
zwischen diesen beiden Polen. Hier die
urbane Vorhut der Globalisierung, da die
ländliche Reserve des Ressentiments. Hier
das bunte Nebeneinander, da die Rechts-
populisten.
Eine Mittelstadt wie Kaiserslautern
kommt in diesen Erzählungen nicht vor?
Dabei leben knapp 30 Prozent der Bevöl-
kerung in sogenannten Mittelstädten, Ten-
denz steigend. Es gibt davon 624 in der
Bundesrepublik, mit Einwohnerzahlen
zwischen 20 000 bis 100 000 Menschen.
Doch die Mittelstadt ist Metapher für gar
nichts. Sie taugt nicht zur Projektionsflä-
che. Es liegt Staub auf ihr.
Der Journalist Christian Baron, 34, hat
nun eine autobiografische Erzählung über
dieses unsichtbare Zentrum des Landes
geschrieben: »Ein Mann seiner Klasse«,
einer der Überraschungserfolge des Win-
ters. Es geht um die Kindheit des Autors,
um den Suff und die Gewalt des Vaters,
das Leben in der Unterschicht, seinen eige -
nen unwahrscheinlichen Bildungsaufstieg –
und um eine deutsche Mittelstadt.


Christian Baron: »Ein Mann seiner Klasse«. Claassen;
288 Seiten; 20 Euro.


»Kaiserslautern«, schreibt Baron, »ist
eine abgehängte Stadt. Keine 100 000 Ein-
wohner zählt dieser Ort, dem die hohe Ar-
beitslosigkeit zugesetzt hat.« Wer seinen
Abschluss in der Tasche habe, der ziehe
»fort und kommt später hin und wieder
zu Besuch ins Kinderzimmer. Alle anderen
müssen und wollen für immer hierbleiben
in einem Provinznest«.
Barons Vater war Möbelpacker, Um-
zugshelfer. Ein Leben am Minimum, aber
fast nie arbeitslos – kein Bewohner der Ba-
racken im wirklich üblen Viertel der Stadt.
Baron beschreibt seinen Vater als Mann
seiner Klasse, der Arbeiterklasse. War er
auch ein Kind seiner Stadt?
Der Sohn hat die größtmögliche Distanz
zwischen sich und Kaiserslautern gelegt.
Schrieb erst für die örtliche »Rheinpfalz«
und ist heute Redakteur bei der Wochen-
zeitung »Freitag« in Berlin, wo er auch
lebt. Sein Buch ist eine doppelte Flucht -
geschichte, aus der Unterschicht und aus
der Mittelstadt. Aber auch die Geschichte
einer erzählenden Rückkehr.
Vorbilder für dieses erkundende Schrei-
ben kommen aus Frankreich. Der junge
Autor Èdouard Louis (»Das Ende von
Eddy«) berichtet aus einem vergleich -
baren Milieu, in einem Dorf in der Picar-
die. Zuvor schon fragte der Soziologe
Didier Eribon in »Rückkehr nach Reims«
danach, wie die klassenbewussten Pro -
letarier seiner Familie zu Wählern des
rechtsextremen Front National werden
konnten.
Baron wirbt um Verständnis für das Mi-
lieu, dem er entkommen ist. Seit 15 Jahren
lebt er nicht mehr in Kaiserslautern, seit
fünf Jahren ist er in Berlin. Aber die Mit-
telstadt besuche er »alle paar Monate sehr
gerne«. Mit dem Zug sind es von Berlin
sechs Stunden.

Einerseits würde es Baron »als persön-
liche Niederlage empfinden, wenn ich dort
leben müsste. Ich wollte da immer raus«.
Andererseits trägt er in Berlin-Friedrichs-
hain einen Kapuzenpulli vom 1. FC Kai-
serslautern. Aufschrift: »Wir sind Betze«.
Ganz so wie sein Vater es ihm eingeschärft
habe: »Verliere bloß nie deinen Stolz!«
Dazu gehört auch die Rückkehr nach
Kaiserslautern. In der Fußgängerzone deu-
tet er im Vorbeigehen auf eine Kneipe:
»Da war mein Vater immer gerne saufen.«
Seine erste Lesung nach der Premiere
in Berlin hat er bei »Thalia«, der größten
Buchhandlung der Stadt. Die Anfrage sei
schon gekommen, »bevor das Buch so
durch die Decke ging«, sagt Baron, das
Buch ist in der aktuellen SPIEGEL-Best -
sellerliste auf Platz 17.

Die Veranstaltung ist ausverkauft, 125
Menschen sind gekommen. Unter das
übliche Lesungspublikum, grau meliertes
Bildungsbürgertum, haben sich aber auch
Bekannte und Verwandte gemischt, Schul-
freunde von früher. Es ist ein Defilee aus
Menschen, die im Buch vorkommen – und
sei es nur am Rande: »Kensche misch
noch?« Baron erwähnt beiläufig Bourdieu
und Marx, weil er mal Soziologie studiert
hat in Trier. Er zitiert Gedichte seiner Mut-
ter und trägt Dialoge so vor, wie man sie
nicht lesen kann – auf Pfälzisch. Beim Sig-
nieren danach bittet ein älteres Ehepaar
den Autor um den Vermerk, dass dies ihre
erste Lesung überhaupt war. Niemand
wirft ihm vor, das Nest zu beschmutzen.
Die Leute kennen ihre Stadt.
Es ist eine seltsame Sache mit dem Stolz.
Er funktioniert wie ein Schlüssel.
Wenn man sich ein paar Tage in Kai-
serslautern umschaut, begegnet man ihm
überall. Sogar ganz unten, dort, wo der
Vater von Christian Baron nie hinwollte.
Bei den »Baracklern« vom Kalkofen. Das
Viertel ist berüchtigt. Ein winziger Brenn-
punkt, im Grunde nur ein langer Straßen-
zug. Elend wie unter dem Brennglas.
Seit mehreren Generationen ist hier ein
entwurzeltes Lumpenproletariat unterge-
bracht. Anstelle der ursprünglichen Bara-

114 DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020


Kultur

Rückkehr nach


Kaiserslautern


LiteraturEin Drittel der Deutschen lebt in den sogenannten Mittelstädten.


Der Autor Christian Baron erzählt in seinem Debütroman vom
Aufwachsen in einer dieser Städte – die kulturell so gut wie unsichtbar sind.

Eine seltsame Sache
mit dem Stolz. In
Kaiserslautern begegnet
man ihm überall.
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