Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 125


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Ror Wolf, 87
Dass man Schriftsteller wird, um die Welt neu zusammen-
zusetzen, das war ihm von Anfang an klar. Ror Wolf, der
1932 im thüringischen Saalfeld als Richard Georg Wolf
geboren wurde und 1953 die DDR verließ, um in Frankfurt
am Main unter anderem bei Adorno und Horkheimer zu
studieren, glaubte an die Macht der Worte. In seinem fan-
tastischen Wörterbuch »Raoul Tranchirers Enzyklopädie
für unerschrockene Leser« beschreibt er unter dem Begriff
»Aussehen«, wie ein kerngesunder Herr namens O. von
seinen Freunden, die ihm im Scherz das Aussehen eines Tod -
kranken attestieren, tatsächlich ins Grab gebracht wird.
Berühmt wurde Wolf mit seinen Fußballcollagen, -gedichten
und -hörspielen. Er war ein besessener Sammler von
Stimmen der Fans, Trainer, Spieler, Kommentatoren, er
nahm alles auf, durfte in die Kabine seines Lieblingsklubs
Eintracht Frankfurt und fügte alles zu seinem neuen Spiel
zusammen. Die Georg-Büchner-Preisträgerin Brigitte Kro-
nauer vermutete in seinem Gehirn einen »hervorragend
funktionierenden Verwandlungsapparat, der aus Stroh und
Dreck automatisch Gold fabriziert und aus Verneinung
Melodie«. Jetzt hat der Verwandlungsapparat seine Arbeit
eingestellt. Ror Wolf starb am 17. Februar in Mainz. VW

Andrew Weatherall, 56
Er war ein Genie des Übergangs. Eigentlich ein Fan von
Rock und Soul, legte er früh Acid House auf, als diese
Musik und die dazugehörige Droge Ecstasy 1988 Großbri-
tannien eroberten. Dann gelang es ihm, den Geist dieses
wilden Sounds in begnadeten Remixen einzufangen. Aus
eher biederen Songs von Primal Scream machte er durch-
gedrehte Dancefloor-Epen, die die Band kaum wieder -
erkannte. Statt simpler Rockklänge gab es auf einmal Soul -
bläser und die Stimme von Peter Fonda zu hören: »We
wanna be free! And we wanna get loaded and we wanna
have a good time!« Es wurde das Motto der Rave-Bewe-
gung. Weatherall produzierte das »Screamadelica«-Album
von Primal Scream und versöhnte eine Generation Rock-
hörer mit den neuen Klängen der Dancefloors. Zu seinen
Remixen gehören Meisterwerke wie seine Version von
»Soon« von My Bloody Valentine. Als DJ zog er durch die
Welt, für seine lustige, bescheidene und menschenfreund -
liche Art wurde er überall geliebt. Andrew Weatherall starb
am 17. Februar in London an einer Lungenembolie. RAP

Sonja Ziemann, 94
Die Schauspielerin begann
ihre Kinokarriere Anfang der
Vierzigerjahre, als Reichs-
propagandaminister Joseph
Goebbels den Deutschen
leichte Unterhaltung verord-
nete, um sie von den Här-
ten des Kriegs abzulenken.
Ihr Gesicht, das voller Le -
benslust und Unschuld
zu strahlen schien, wurde in
den Fünfzigern dann zur
perfekten Projektionsfläche
einer Nation, die möglichst
schnell die Gräuel des Holo-
causts vergessen und sich
in bessere Welten hinein-
träumen wollte. »Schwarz-
waldmädel« (1950) und
»Grün ist die Heide« (1951)
waren sensationelle Kassen-
schlager. Sonja Ziemann,
der mehr als 20 Jahre ältere
Rudolf Prack und sehr viel
unversehrte Natur – diese
Mischung war das Erfolgs -
rezept jener Zeit. Später war
die Schauspielerin auch an
der Seite von Hollywood-
stars wie Richard Widmark
zu sehen und wagte sich in
einer Verfilmung der Bio-
grafie des Marquis de Sade
sogar an den Rand der Ver-
worfenheit – in Erinnerung
jedoch bleibt sie als die Frau,
die den Deutschen das Ge -
fühl gab, doch nicht so furcht -

bar zu sein, wie der Rest
der Welt dachte. Sonja Zie-
mann starb am 17. Februar
in München. LOB

Santu Mofokeng, 63
Sein Handwerk lernte er
während des blutigen
Kampfs um Freiheit in sei-
nem Heimatland. Das
Wichtigste, so der südafri -

kanische Fotograf, sei nicht
das, was man sehe, sondern
was man beim Anblick
eines Bildes fühle. Und weil
es Santu Mofokeng gelang,
die Betrachter seiner Foto-
grafien emotional zu berüh-
ren, gilt er als Poet unter
den Reportagefotografen.
Mofokeng wurde im Town-
ship Soweto geboren, sein
Vater starb, als er vier Jahre
alt war, seine Mutter arbei-
tete als Dienstmädchen. Mit
17 Jahren bekam er seine

erste Kamera geschenkt. Ab
1985 gehörte Mofokeng
der Agentur Afrapix an, die
sich der Dokumentation der
Anti-Apartheid-Bewegung
widmete. Er fotografierte
die Polizeigewalt auf Sowe-
tos Straßen, Minenarbeiter-
streiks, Alltagsszenen im
Township, später auch Land -
schaften. Seine oft melan-
cholischen, immer vielschich -
tigen Bilder in Schwarz-
Weiß sprechen für sich, sie
erzählen Geschichten. Mit
Stipendien reiste er unter
anderem in die USA und
nach Deutschland, 2002
nahm er an der Documenta
in Kassel teil, 2009 erhielt
er den renommierten
niederländischen Prinz-
Claus-Preis. Vor einigen
Jahren wurde bei ihm eine
unheilbare Hirnkrankheit
diagnostiziert. Im Septem-
ber 2019 kam beim deut-
schen Steidl-Verlag die Edi-
tion seines Lebenswerks
mit 551 Fotos heraus. Vom
Rollstuhl aus hatte der
Künstler, solange es ging,
daran mit gearbeitet. Santu
Mofokeng starb am 26. Ja -
nuar in Johannesburg. KS

ANITA SCHIFFER-FUCHS / SZ PHOTO

BARBARA ZANON / GETTY IMAGES

ARTHUR GRIMM / UNITED ARCHIVE
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