Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

Stoltenberg, 60, hat ein anstrengendes
Wochenende hinter sich. Auf der Münchner
Sicherheitskonferenz hat sich ein Abgrund
zwischen den sicherheitspolitischen Welt-
sichten der USA und Europas aufgetan.
Nun beschwört der norwegische Nato-
Gene ralsekretär im Interview die Einigkeit
der Allianz gegenüber Russlands neuen
Atomwaffen, der Klimakrise und der
schwierigen Lage im Nahen Osten.


SPIEGEL:Herr Generalsekretär, 1947 ha-
ben Wissenschaftler, die an der Entwick-
lung der ersten Atombombe beteiligt wa-
ren, die Weltuntergangsuhr erfunden. Wis-
sen Sie, wie spät es darauf ist?
Stoltenberg:Ich glaube, es ist ziemlich
kurz vor zwölf.
SPIEGEL:Richtig. Die »Doomsday Clock«
wurde jüngst sogar auf 100 Sekunden vor
Mitternacht gestellt – so kurz vor zwölf
stand sie noch nie. Halten Sie das für ge-
rechtfertigt?
Stoltenberg:Es ist schwierig, das zu mes-
sen. Klar ist nur, dass wir alles tun müssen,
um einen bewaffneten Konflikt zu verhin-
dern. Genau dafür gibt es die Nato: Ihre

Hauptaufgabe ist es nicht, Krieg zu führen,
sondern ihn zu verhindern. Das ist uns in
den vergangenen 70 Jahren ganz gut ge-
lungen. In unsicheren Zeiten, wie wir sie
heute sehen, ist es umso wichtiger, dass es
starke multilaterale Institutionen wie die
Nato gibt.
SPIEGEL:Russland hat in letzter Zeit neue,
nuklearfähige Marschflugkörper, Raketen
und hochmoderne Hyperschallwaffen ein-
geführt. Auf diesem Gebiet ist Moskau
dem Westen inzwischen weit überlegen.
Wie bedrohlich ist das Ungleichgewicht?
Stoltenberg:Die neuen russischen Rake-
ten sind hochgefährlich. Sie sind mobil,
leicht zu verstecken, können europäische
Städte mit extrem kurzer Vorwarnzeit er-
reichen. Das senkt nicht nur die Schwelle
für den Einsatz von Atomwaffen, es er-
höht auch das Risiko von Missverständ-
nissen.
SPIEGEL:Die Nato will keine neuen Atom-
raketen in Europa aufbauen, zumindest
nicht an Land. Aber das US-Militär hat
nun kleinere Atomsprengköpfe auf U-Boo-
ten stationiert und plant seegestützte atom-
waffenfähige Marschflugkörper.

Stoltenberg:Wir werden es Russland
nicht gleichtun. Unsere Abschreckung
muss aber weiterhin glaubwürdig sein, und
das bedeutet, dass wir uns neuen Gege-
benheiten anpassen müssen – in diesem
Fall den neuen russischen Waffen. Zudem
wollen wir Abrüstung und Rüstungskon-
trolle stärken.
SPIEGEL:Die Russen geben dafür Milliar-
den aus und nehmen erhebliche Risiken
in Kauf. Warum das alles?
Stoltenberg:Wir sehen nur, dass Russland
dies tut. Über Motive möchte ich nicht spe-
kulieren.
SPIEGEL:Das US-Verteidigungsministe -
rium hat dazu eine Theorie: Die russische
Regierung könnte einen Erstschlag mit tak-
tischen Atomwaffen in Europa erwägen,
da sie wohl annimmt, die USA würden aus
Angst vor einem Atomkrieg nicht mit ih-
ren großen strategischen Raketen zurück-
schlagen. Was denken Sie: Würde US-Prä-
sident Donald Trump New York aufs Spiel
setzen, um Tallinn zu verteidigen?
Stoltenberg:Die Nato will Konflikte ver-
hindern. Und sie basiert auf einer Garantie
einer für alle, alle für einen. Wird ein Ver-
bündeter angegriffen, reagieren alle gemein-
sam. Das ist die Grundlage einer glaubwür-
digen Abschreckung. Zweitens vergrößern
die USA ihre Militärpräsenz in Europa. Bes-
ser könnten sie kaum zeigen, dass sie sich
ihren europäischen Verbündeten verpflich-
tet fühlen. Und drittens besitzt die Nato
eine nukleare Abschreckung in Europa.
SPIEGEL:Bei der Münchner Sicherheits-
konferenz hat Frankreichs Präsident Em-
manuel Macron aber den Eindruck er-
weckt, dass auf die USA kein Verlass mehr
sei und Europa über eine eigene nukleare
Abschreckung nachdenken sollte.
Stoltenberg:Die französische Atomstreit-
macht, sowie die britische, hat schon für
sich genommen Abschreckungspotenzial,
sie trägt bedeutend zu unserer Sicherheit
bei. Aber noch mal: Wir haben bereits eine
nukleare Verteidigung in Europa – die der
Nato. Wir haben gemeinsame Führungs-
strukturen, gemeinsame Nukleardoktri-
nen und gemeinsame Übungen. Alles seit
Jahrzehnten erprobt und bewährt.
SPIEGEL:Helfen denn Macrons Vorschlä-
ge, oder wird er eine Art zweiter Trump
in der Nato?
Stoltenberg:Der französische Präsident
hat uns zu einer Debatte eingeladen, und
die haben wir jetzt.
SPIEGEL:Nicht jede Debatte stärkt die
Glaubwürdigkeit militärischer Allianzen.
Stoltenberg:Ich beschreibe nur, was wir
haben: eine solide, bewährte nukleare Ab-
schreckung. Sie wird von 28 Verbündeten
gemeinsam betrieben, und wir treffen ge-
meinsam die Entscheidungen.
SPIEGEL:Der 29. Verbündete, Frankreich,
ist allerdings weiterhin nicht Mitglied der
nuklearen Planungsgruppe der Nato.

32 DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020

Deutschland

»Russlands neue Raketen


sind hochgefährlich«


VerteidigungNato-Generalsekretär Jens Stoltenberg über Moskaus
neues Arsenal, die Forderungen von Frankreichs
Präsident Macron und das Temperament von US-Präsident Trump

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL
Bündnischef Stoltenberg: »Einer für alle, alle für einen«
Free download pdf