Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

Berlin: »Die Partei hat es nicht geschafft,
die eigene Geschichte klar aufzuarbeiten.«
Auch Stephan Hilsberg findet, dass die
Linke anders mit ihrer Geschichte um -
gehen müsse. Hilsberg war Bürgerrechtler
in der DDR, Mitgründer der sozialdemo-
kratischen SDP. Noch vor gut fünf Jahren
demonstrierte er mit anderen vor dem
Thüringer Landtag gegen die Linke.
»Eine solche Partei gehört nicht an die
Macht«, sagte Hilsberg damals. Heute
sieht er das anders: »Die AfD hat die poli-
tische Landschaft durcheinandergewirbelt.
Unter diesen Umständen ist mir als Minis-
terpräsident Ramelow viel lieber als je-
mand von Höckes Gnaden.« Der frühere
Bundespräsident Joachim Gauck, DDR-
Bürgerrechtler, hat seine Haltung sehr ähn-
lich gewandelt.
Auch Bürgerrechtler können keine Ab-
solution erteilen. Doch ihr Urteil hat Ge-
wicht, wenn es um die Vergangenheit geht.
Häufiger aber geht es heute ohnehin um
die linke Gegenwart: um Antisemitismus,
Splittergruppen, politische Gewalt.
Silvester in der linken Hochburg Leip-
zig-Connewitz. »Haut ab, ihr Schweine!«,
ruft jemand. Rauch liegt in der Luft. Rake-
ten werden gezündet, Polizisten angegrif-
fen. Einer bleibt regungslos liegen, wird
in Sicherheit gebracht. So ist es auf einem
Video zu sehen.
Connewitz, dieses Symbol für linke Ra-
dikalität, liegt in Juliane Nagels Wahlkreis.
Sie ist Linken-Abgeordnete im sächsischen
Landtag. »Es kann sein, dass ich auch ein
Baustein bin, der Bündnisse mit anderen
Parteien erschwert«, sagt sie. Die Linke
solle mit Gruppen kooperieren, die mit
zivilem Ungehorsam, Besetzungen oder
Blockaden arbeiten, findet sie.
Sie hält es für möglich, dass auch mal
einer in ihr Projektbüro komme, der
Gewalt gegen Menschen verteidige. Aber
denen sagt sie: »Es ist nicht links, die Un-
versehrtheit einer Person anzugreifen. Es
ist menschenverachtend.«
Doch es bleibt eine Restunsicherheit.
Oft klingt sie in Gesprächen mit Linken
etwa so: Spinner und Radikale gebe es
natürlich. Aber die hätten nichts zu sagen,
seien wenige, alt oder bedeutungslos.
Der Bundesverfassungsschutz, der die
Linke als Ganzes beobachtet hatte, hörte
nach 2011 damit auf. Die Beobachtung von
Bundestagsabgeordneten, auch von Leu-
ten wie Gysi oder Pau, endete nach öffent-
licher Kritik und einer Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts 2014.
Einige kleinere Gruppen beobachtet der
Geheimdienst immer noch: Cuba Sì, Kom-
munistische Plattform, Geraer/Sozialisti-
scher Dialog, Marxistisches Forum, Anti-
kapitalistische Linke, Sozialistische Linke,
Marx21. Nicht alle sind von der Partei an-
erkannt. Die, die es sind, stellten auf dem
vorigen Parteitag 12 von 580 Delegierten,


rund zwei Prozent. Zusammen haben sie
laut den Verfassungsschützern keine 5000
Mitglieder.
Die Berichte der Behörden sind über
die Jahre kurz geworden, pflichtschuldig.
Nicht immer wird aus ihnen klar, was an
Gruppen »offen extremistisch« sein soll:
Wenn etwa die Sozialistische Linke, der
viele Gewerkschafter wie Parteichef Bernd
Riexinger nahestehen, den Kapitalismus
überwinden will, bewegt sie sich damit
nicht außerhalb des Grundgesetzes.
»Die Linke hat sich der Demokratie der
Bundesrepublik angenähert«, sagt der
Politologe Steffen Kailitz von der TU

Dresden. Es gebe extremistische Gruppen
in der Partei, sie schienen aber weitgehend
marginalisiert.
Der Extremismustheoretiker Eckhard
Jesse ist ein Vater des »Hufeisenmodells«.
Das Hufeisenmodell beschreibt Politik als
demokratisch in der Mitte und zunehmend
extremer in Richtung der Ränder links und
rechts. Es ist einflussreich, wenn auch wis-
senschaftlich umstritten. Jesse fällt ein
schärferes Urteil als Kailitz. Auch er be-
scheinigt der Linken eine Deradikalisie-
rung, sagt aber: »Abgrenzung von extre-
mistischen Gruppen ist gar kein Thema.«
Tatsächlich tut sich die Linke mit Ab-
grenzung schwer. »Man muss eine Partei
nach denen bewerten, die in verantwort -
licher Funktion sind«, sagt Sahra Wagen-
knecht. Sie war selbst die bekannteste Ver-
treterin einer beobachteten Gruppe, der
Kommunistischen Plattform. Heute teile
sie viele von deren Positionen nicht mehr.
Auch Heike Hänsel stand auf der Bühne,
als auf dem Parteitag für Venezuela de-

monstriert wurde. Auf die Frage, ob alle
autoritären Systeme problematisch seien,
sagt sie heute, das sei ihr zu einfach. Sie
wurde als Arbeitskreisleiterin Außenpoli-
tik der Bundestagsfraktion wiedergewählt.
Mit ihr im Fraktionsvorstand sitzen An-
drej Hunko und Hubertus Zdebel. Hunko
reiste 2015 mit Hilfsgütern in die separa-
tistische Ostukraine – über Russland, zum
Entsetzen der Ukraine. Zdebel steht
Marx21 nahe, wie seine Fraktionskollegin-
nen Christine Buchholz und Nicole Gohlke.
Und wie Janine Wissler, Fraktionsvorsit-
zende in Hessen, gehandelt als neue Par-
teivorsitzende. Sie glauben, echter sozia-
listischer Wandel könne nur von unten
kommen, aus Bewegungen, nicht aus dem
politischen System. Der Verfassungsschutz
beschreibt Marx21 als trotzkistisch.
»Man muss schon genau schauen, wie
sich die einzelnen Leute äußern und ver-
halten«, sagt dazu der Politologe Kailitz.
Abgeordnete mit den Positionen von
Marx21 wie Wissler und Gohlke sitzen seit
Jahren in den Parlamenten. Manche Ideen
ihrer Plattform lassen sich mit der bundes-
republikanischen Demokratie verbinden,
andere können aber auch umschlagen in
revolutionäre Systemablehnung, in den
Wunsch nach der »Zerschlagung des bür-
gerlichen Staatsapparats«, die der Verfas-
sungsschutz 2014 und 2015 noch als Ziel
der Gruppe anführte.
So schwer die genaue Einordnung von
Gruppen wie Marx21 ist, so eindeutig be-
lasten sie aber das Vertrauensverhältnis
auf Bewährung zwischen Linken und Bun-
desrepublik. Die Linke akzeptiert gewisses
Misstrauen, verspricht aber, dass die Mitte
hält, trotz allem. Dafür gewähren die
anderen Parteien vor allem des linken
Spektrums einen Vertrauensvorschuss.
Und gehen zunehmend Bündnisse mit den
Linken ein. Die CDU in Kommunen, die
FDP im Bundestag, SPD und Grüne in den
Ländern.
Koalitionen bedeuten Macht. Macht
kann verführen. Macht kann man miss-
brauchen. »Es war ein Wagnis«, sagt Gott-
fried Timm über die erste rot-rote Koali -
tion 1998 in Mecklenburg-Vorpommern.
Timm (SPD) war ihr Innenminister. »Aber
die PDS hat sich in unserer Koalition nie
gegen die Demokratie gestellt.«
Die Linke und ihre Vorgängerinnen to-
lerierten Regierungen in Sachsen-Anhalt,
regierten in Mecklenburg-Vorpommern
mit, in Brandenburg, Berlin, Thüringen
und Bremen. Die totale Wende blieb über-
all aus. Wo sie Macht bekam, hat die Linke
das Vertrauen bisher nicht enttäuscht. Eine
Garantie für die Zukunft ist das nicht. Ein
Hinweis auf fortgeschrittene Bundes -
republikanisierung schon.
Kevin Hagen, Michael Liedtke,
Jonas Schaible

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 37


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Solidarität für einen Autokraten

»Man muss eine Partei
nach denen bewerten,
die in verantwortlicher
Funktion sind.«
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