Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

ben eine Baustelle von 1998 bis 2011. Es
war auch alles geplant und genehmigt, aber
die Finanzierung stand auf tönernen Füßen.
Deshalb dauerte es so lange mit dem Bau.
SPIEGEL: Im Ausland spottet man bereits
über die »German Technophobia«, die
Angst vor dem Fortschritt. Die Elbvertie-
fung etwa hängt am Schierlingswasser -
fenchel, Stuttgart 21 am Juchtenkäfer.
Hofreiter:Stuttgart 21 ist einfach nur pla-
nerischer Riesenmist, bei dem sich die Bahn
verzockt hat. Auch verkehrspolitisch völlig
unsinnig. Jetzt bleibt nichts anderes übrig,
als es durchzuziehen. Der Juchtenkäfer war
da nur eine Posse. Nur weil manche das
Recht missbrauchen, darf man aber ja nicht
den Artenschutz abschaffen. Der muss
selbstverständlich durchgesetzt werden.
SPIEGEL: Sie sagen, in gespaltenen Gesell-
schaften lässt sich ökologische Politik nicht
verwirklichen. Was meinen Sie?
Hofreiter:Ach, es nervt mich immer, wenn
denjenigen, die weniger verdienen, unter-
stellt wird, nicht am Klima- und Um -
weltschutz interessiert zu sein. Das ist im
Zweifel den Geringverdienern genauso
wurscht oder eben nicht wurscht wie den
Reichen. Ich komme selbst aus einer Ar-
beiterfamilie. Klar ist aber, dass ein CO²-
Preis so gestaltet werden muss, dass er für
alle verträglich ist, sonst wird es schwierig
mit dem CO²-Preis als marktwirtschaft -
lichem Instrument. Die ökologisch-soziale
Transformation muss gerecht vonstatten-
gehen.
SPIEGEL: Vergrätzen Sie jetzt einen Teil
Ihrer Wähler, wenn Sie gegen die Umwelt-
verbände und deren Klagelust wettern
und sich immer wirtschaftsfreundlicher
zeigen?
Hofreiter:Es darf kein Gegeneinander
sein. Ich will beides miteinander versöh-
nen. Ökologie und Ökonomie sind kein
Widerspruch, im Gegenteil. Umweltschutz
und ökonomisch sinnvolle Investitionen
gehören zusammen. Es gibt Bereiche in
unserem Land, die sind ökologisch wert-
voll, die müssen besonders erhalten und
geschützt werden: Moore, Wälder. Der
Hambacher Forst zum Beispiel ist ein rich-
tiger Wald, der sollte komplett weggerodet
werden, um Braunkohle rauszuholen. Das
ist doppelt schädlich: für den Arten- und
für den Klimaschutz. Aber die Tesla-Fa-
brik in Brandenburg wird nicht in einen
wertvollen Wald gesetzt, da muss nichts
besonders geschützt werden.
SPIEGEL: Tesla ist eine Automarke für die
Besserverdienenden. Macht das den Fall
leichter oder schwerer?
Hofreiter:Klar, Tesla ist wie Porsche.
Aber wenn jemand schon einen Ober -
klassewagen fahren muss, dann doch
bitte Null-Emissions-Oberklasse. Da den-
ke ich pragmatisch.


Interview: Julia Amalia Heyer

W


enn sie das alles lesen müssten,
wären die Forscher der Uni Ho-
henheim wohl längst verzweifelt.
Seit mehr als zehn Jahren analysieren sie
die Wahlprogramme deutscher und öster-
reichischer Parteien, mehr als 700 sind es
bisher mit geschätzt über 18 Millionen
Wörtern. Dabei hilft ihnen eine Software,
die Texte nach Suchbegriffen durchforstet
und Verständlichkeitsformeln berechnet.
Politiker wollen in den
Programmen über ihre
Ziele informieren, um
Wähler von sich zu über-
zeugen. Aber gelingt ih-
nen das? Die Kommuni -
kationswissenschaftler sa-
gen: eher schlecht. Denn
für viele Laien, so Frank
Brettschneider, der Leiter
der Studie, seien die Tex-
te »schwer zu verstehen«.
Gerade hat er mit seinem
Team die Programme zur
Hamburger Bürgerschafts-
wahl am 23. Februar un-
tersucht.
Darin fand die Such -
maschine nicht nur Band-
wurmsätze mit bis zu 101 Wörtern, son-
dern viele Fremdwörter, englische Begriffe
und Fachvokabeln wie »Evokationsrecht«,
»photokatalytisch« oder »CheckIn/Be-Out-
Verfahren«. Selbst der AfD, die auf ein
»Deutschengrundrecht« pocht, rutschte
»Upskirting« und »light fidelity« durch.
Besonders viel Englisch verwende die
FDP, sagt Brettschneider. So wollen die
Liberalen laut Programm das »Once-Only-
Prinzip im Verwaltungshandeln«, eine
Standortpolitik mit »Regulatory Sandbo-
xes«, mehr »Educational Data Mining«
und »Cops4you« an Schulen. Ampeln nen-
nen sie »Fußgänger-Lichtzeichenanlagen«.
Das grüne »Zukunftsprogramm« ist mit
143 Seiten das längste. Die Ökopartei,
die in Hamburg mit der SPD regiert, geht
offenbar davon aus, dass ihre Anhänger
schon wissen, was eine »Diversity-Main-
streaming-Strategie« für die Verwaltung
bedeutet, was ein »Aquiferspeicher« ist
und ein »Live-Concert-Account«. Erwach-

sene und Kinder in der Jugendarbeit wol-
len sie »empowern«.
Die SPD wiederum kündigt eine »Kli-
maroadshow« an und verspricht, mit ihr
werde Hamburg zur »Active City«. Soll
das dynamischer klingen als »aktive
Stadt«?
»Politiker wollen modern wirken und
zeigen: Wir haben die angesagte Sprache
drauf«, sagt Brettschneider. Manchmal
könne es sinnvoll sein, einen Fachbegriff
zu nennen, doch der müsse dann gut er-
klärt werden. Das sei häufig nicht der Fall.
»Politiker haben sich Transparenz und
Bürgernähe auf die Fahne geschrieben,
doch mit ihren Wahlprogrammen schlie-
ßen sie bestimmte Wähler aus.«
»Sollen wir die Zero-Waste-App der
Stadtreinigung denn Null-Müll-App nen-
nen oder Auto-Teilung sagen statt Car -
sharing?«, fragt Lars Balcke, Sprecher der
Hamburger SPD. Viele Begriffe hätten sich
eingebürgert oder müssten genannt wer-
den, damit klar sei, um was es gehe. Er
räumt ein, dass die Langfassung des SPD-
Wahlprogramms mit fast
100 Seiten, die auf Be-
schlüssen der Gremien ba-
siere, eher etwas für »sehr
Interessierte« sei. Deshalb
gebe es noch eine Kurz -
fassung in einfacher und
»leichter« Sprache. Das
haben auch die Grünen.
FDP-Geschäftsführer
Alexander Fröhlich von
Elmbach sagt, jedes FDP-
Mitglied könne auch
sprachliche Änderungen
am Wahlprogramm bean-
tragen. »Das, was unsere
Mitglieder verstehen, die
ja aus verschiedenen Le-
bensbereichen kommen,
müsste auch der Wähler verstehen.« Ein
Lektorat überprüfe die Lesbarkeit.
Unklar formulieren aber kann man auch
ohne Fremdwörter. So will die SPD den
Schnellbuszuschlag »perspektivisch vollstän-
dig abschaffen«. Wann genau, bitte? Oder:
»Wir werden zukünftig auch die Gehwege
in das städtische Erhaltungsmanagement
einbeziehen.« Vager geht es kaum. Die Grü-
nen wollen, dass Erzieherinnen und Erzie-
her in Ausbildung »regelhaft« vergütet wer-
den und Mindestlöhne auf »armutsfestem
Niveau«. Was das heißt, wissen nur Insider.
Auf der Hohenheimer-Skala von 0
(schwer verständlich) bis 20 (leicht ver-
ständlich) erreichen die Hamburger Wahl-
programme gerade mal 7,8 Punkte. Noch
schwerer verständlich sind laut Brett-
schneider Antwortschreiben auf Bauan -
träge, Doktorarbeiten von Politologen,
Banken-AGB und der Berliner Koalitions -
vertrag. Annette Großbongardt

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 39


Cops4you


empowern


SpracheWissenschaftler haben
die Wahlprogramme der
Parteien untersucht. Ihr Ergebnis:
Die vielen Fremdwörter darin
versteht der Normalwähler kaum.

Quelle: Wahlprogramm-Check 2020 Hamburg

51 980

32 568

31 792

24 885

20 968

14 095

Werben um Wähler
Wörterzahl der Wahlprogramme zur
Bürgerschaftswahl in Hamburg

CDU

SPD

Grüne

FDP

AfD

Linke
Free download pdf