Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

D


er erste Tag an der Berufsschule
in Hamburg-Hammerbrook soll-
te für Halima Șahin ein besonde-
rer, ein irgendwie feierlicher wer-
den: nicht nur der erste Tag an der neuen
Schule, sondern auch der erste Tag, an
dem sie in der Schule einen Gesichtsschlei-
er, den sogenannten Nikab, tragen wollte.
Tatsächlich aber war es der erste von
vielen Tagen, an denen die 16-Jährige
zwar zur Schule ging, aber nichts lernte.
Die Schule bat sie, den Schleier abzulegen,
Halima weigerte sich. Die Schulleitung ver-
bot ihr, am gemeinsamen Unterricht teil-
zunehmen. Es folgte ein Rechtsstreit zwi-
schen Schulbehörde und Halimas Familie –
den die Familie gewann. Anfang Februar
entschied das Hamburgische Oberverwal-
tungsgericht (OVG), die Religionsfreiheit
gebiete es, dass Halima im Nikab unter-
richtet werden darf.
Halima Șahin möchte ihren richtigen
Namen nicht nennen. In ihrer Schule weiß
jeder, wer sie ist – sie ist die Einzige mit
Gesichtsschleier. Aber zur öffentlichen Fi-
gur will sie nicht werden. »Sie versteht
sich nicht als Greta Thunberg des Islam«,
sagt ihr Anwalt Alexander Heyers.
Ihre Beweggründe einmal erklären, das
möchte sie aber doch, deshalb hat sie
einem Treffen zugestimmt. Der Anwalt
und ihre Mutter begleiten sie. Die Frauen
tragen bodenlange schwarze Gewänder,
Handschuhe, Nikab und Chimar. Der Chi-
mar ist ein Schleier, der weit über den
Oberkörper fällt, fest am Kopf anliegt und
weder Haaransatz noch Hals freilässt.


Der Nikab, oft aus leichtem Chiffon -
crêpe, bedeckt Mund, Wangen und Stirn
und wird am Hinterkopf zusammengebun-
den. So bleibt nur ein schmaler Spalt für
die Augen. Wenn eine der beiden Frauen
während des Gesprächs etwas trinkt, hebt
sie den Gesichtsschleier an einer Seite et-
was an und führt das Glas darunter an den
Mund.
Der Fall von Halima Șahin ist nicht der
erste, in dem eine Nikab-Trägerin Schulen
und Universitäten in Deutschland heraus-
fordert. Aber nach dem Urteil des OVG
ist klar, dass Bildungsinstitutionen sich auf
Gesetze stützen müssen, wenn sie den
Vollschleier verbieten wollen. Mehrere
Bundesländer kündigten nun an, solche
Gesetze erlassen zu wollen, unter anderem
Schleswig-Holstein. Dort stimmten die
mitregierenden Grünen allerdings erst
nach langer Debatte einem Nikab-Verbot
in Schulen zu.
Im Islam wird jede Form der Verschleie-
rung, auch das einfache Kopftuch, mit der
Vorstellung begründet, die Haare von
Frauen seien aufreizend und sollten des-
halb bedeckt werden.
»Es gibt viele Beweise, dass Frauen
einen Gesichtsschleier tragen sollen«, be-

hauptet Halima Șahin. Ihre Stimme klingt
selbstbewusst, sie gestikuliert viel. Ihre
Mutter pflichtet ihr bei: »Allah hat die
Menschen erschaffen, er weiß am besten,
was gut für uns ist.« Im Koran gibt es ei-
nige wenige Stellen, in denen es darum
geht, wie Musliminnen sich sittsam ver-
halten und kleiden sollen. Dort wird auch
ein Gesichtsschleier erwähnt. Halima und
ihre Mutter verstehen diese Aussagen –
anders als die Mehrheit der Muslime – so,
dass von ihnen ein Tragen des Nikabs ver-
langt werde.
Halima Șahins Mutter ist 47 Jahre alt
und in Deutschland geboren. Sie konver-
tierte zum Islam, nachdem sie sich in einen
Germanistikstudenten aus Ägypten ver-
liebt hatte. Die beiden heirateten, beka-
men zwei Kinder – Halima und ihren Bru-
der – und ließen sich irgendwann wieder
scheiden. Inzwischen ist die Mutter mit ei-
nen anderen Mann verheiratet, auch er ist
Muslim. Er arbeitet als Händler, die Mutter
kümmert sich um die Kinder.
Șahins Mutter sagt über sich selbst, sie
sei nicht strenggläubig, sondern praktizie-
re ihren Glauben in einigen Bereichen ein-
fach »mehr« als andere Muslime. Aber sie
bewegt sich in einem eindeutig religiös-ra-
dikalen Milieu. Im Dezember, so erzählt
sie, habe sie mit ihrem Sohn an einer Pau-
schalpilgerreise nach Mekka teilgenom-
men, die der in der Szene prominente Sa-
lafist Marcel Krass organisiert hatte. Wenn
sie eine Moschee besuche, was selten vor-
komme, gehe sie in die Taqwa-Moschee
in Hamburg-Harburg. Dort treffen sich

40 DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020


Deutschland

HARTMUT MÜLLER-STAUFFENBERG / ACTION PRESS

»Denken die, ich bin
blöd, weil ich dafür
kämpfe, mich
verschleiern zu dürfen?«

»Irgendwie nackt«


BildungEin Gericht hat entschieden, dass eine 16-Jährige voll verschleiert zur Schule gehen darf.
Mehrere Bundesländer wollen nun ihre Gesetze ändern. Warum besteht das Mädchen auf dem Nikab?
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