Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

Reporter


44 DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020


Gefühle

Sind unsere Toten bald für


immer bei uns, Frau Zeim?


SPIEGEL:In Südkorea haben Programmie-
rer gerade ein verstorbenes Mädchen virtu-
ell wiederauferstehen lassen: Die Mutter
konnte ihr Kind mit einem VR-Headset
sehen, mit ihm sprechen, spielen, es mit
speziellen Handschuhen sogar berühren.
Hilft das, die Trauer zu bewältigen?
Zeim:Es ist ein Menschheitstraum, der da
wahr wird – Dinge rückgängig machen zu
können, per Knopfdruck. Das ist super,
und es wünscht sich wohl jeder, der einen
Menschen verloren hat. Aber ich muss ein
bisschen zur Spielverderberin werden.
SPIEGEL:Warum?
Zeim:Trauer ist vielschichtig. Man kann
ihr nicht mit einer rein technischen Lösung
begegnen. Das Mädchen aus Korea wäre
heute elf Jahre alt. Mithilfe von Fotos, Vi-
deos und Tonaufnahmen wird es im Alter
von sieben Jahren konserviert. Dass die
Mutter ihre Tochter, in diesem Stadium
festgehalten, jederzeit wiedersehen könn-
te, kann den Schmerz reaktivieren. Zum
Heilungsprozess trägt es meiner Ansicht
nach nicht bei. Es hat einen Sinn, dass sich
unsere Erinnerungen verändern.
SPIEGEL:Worin liegt die Gefahr?
Zeim:Dass sich der Trauernde weigert, die
neue Realität anzunehmen, weil er in der
Vergangenheit leben kann. Ich kann mir so-
gar vorstellen, dass man davon körperliche
Symptome kriegt: Die Virtual Reality ist ja
inzwischen so gut, dass Gehirn und Herz
gar nicht verstehen, dass das nicht echt ist.
SPIEGEL:Könnte die Technik helfen, den
Schmerz zu lindern?
Zeim:Im Rahmen einer begleiteten thera-
peutischen Maßnahme vielleicht. Wenn
der Trauernde ungeklärte Fragen stellen
kann, wenn er sich verabschieden kann,
um abzuschließen. Aber zu Hause im
Heimkino noch mal das tote Kind anfas-
sen – das finde ich schwierig.
SPIEGEL:Wird die virtuelle Realität unsere
Trauerkultur verändern?
Zeim:Ja, weil sie unsere Vorstellung von
der Endlichkeit verändern kann. Es gibt
künftig vielleicht einen Platz, an dem der
Körper beerdigt ist – und es gibt den Geist
auf Festplatte oder in der Cloud, mit dem
man sich austauschen kann. DIA

Anemone Zeim, 38, ist Inhaberin der
Trauerberatung und Erinnerungswerkstatt
Vergiss Mein Nie in Hamburg.

Pjotr Fjodorowitsch Taratuta, 71:
Das bin ich, als junger Soldat, 22 Jah-
re alt. Ich war damals, als Ukrainer,
Leutnant der sowjetischen Flugab-
wehr, seit etwa einem Jahr waren wir
in der Tschechoslowakei stationiert.
An jenem Tag fuhren wir zum Trup-
penübungsplatz in Kežmarok in der
Nordslowakei. Zielscheiben sollten
für uns von Flugzeugen abgeworfen
oder über den Himmel gezogen wer-
den. Wir fuhren mit zwei oder drei
Lastkraftwagen hin, man sieht die
Schnauze von einem davon im Bild:
ein Sil-157, drei Achsen, Sechs-Zylin-
der-Maschine. Auf der Ladefläche
standen an dem Tag keine Flugab-
wehrkanonen, aber für die Bevölke-
rung waren wir auch ohne die Kano-
nen ein Blickfang. Vor allem Kinder
rannten auf uns zu, wo immer wir
anhielten. Der Prager Frühling lag
nur zwei Jahre zurück, aber die Men-
schen begegneten uns erstaunlich

freundlich. Ich habe damals den
Einsatz des Warschauer Pakts nicht
hinterfragt und meinen eigenen
Einsatz auch nicht, ich war jung und
habe nur Befehle ausgeführt.
Als wir in einem Dorf nahe Vysoké
Tatry Rast machten, kamen mehrere
Kinder auf uns zu. Ein Mädchen
fragte, ob wir ein Foto machen könn-
ten; ein Kamerad drückte auf den
Aus löser. Ich spreche Tschechisch, wir
werden uns kurz unterhalten haben,
aber ich weiß nicht mal mehr, wie
das Mädchen hieß. Ihre Mutter gab
uns Wasser. Mein eigener Sohn wur-
de in Prag geboren, im Jahr darauf.
Noch ein Jahr später verließen wir
das Land. Heute ist die Sowjetunion
längst zerfallen, die ukrai nische
Armee auf den Hund gekommen,
Russland hat uns die Krim weg -
genommen. Ich versuche, über Poli-
tik nicht nachzudenken. Ich sehe
nicht einmal mehr fern.
Aufgezeichnet von Timofey Neshitov

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Familienalbum

Völkerfreund-


schaft, 1970

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