Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1
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A


ls sie kamen, um sie zu holen, wehrte sie sich nicht,
das berichten ihre Retter Wochen später. Sie tat freund-
lich; sie stieg bereitwillig in den Korb, den die Leute
vom Tierheim in Spruce Pine, North Carolina, für den Trans-
port mitgebracht hatten, sie schien froh, dass sie endlich je-
mand gefunden hatte: eine einsame Hauskatze, Felis silvestris
catus, kurzes Fell, weiß an Brust und Gesicht, schwarz am
Rücken und an den Ohren – als hätte ihr jemand ein Cape
über die Schultern gelegt. Die Fahrt ins Tierheim dauerte
45 Minuten. Es war Heiligabend.
Ihre Finder nannten sie Perdita, so wie die schwarz-weiße
Heldin aus dem Disneyfilm »101 Dalmatiner«. Schon kurze
Zeit später sollte sie berühmt sein: als Perdita, »die schlimms-
te Katze der Welt«. Im Internet wurde Perdita zum Star. Das
Fernsehen berichtete, Zeitungen auf der ganzen Welt schrie-
ben über sie, sogar ein Re-
dakteur der »Zeit« machte
sich Gedanken über die
Katze aus Spruce Pine.
Perditas Leben, darüber
gibt der Zustand ihrer
Zähne Aufschluss, begann
vor etwa vier Jahren. Sie
lebte in einem dünn be -
siedelten Waldgebiet in ei-
nem Haus bei einem alten
Mann, der sie geliebt ha-
ben muss, da sind sich die
Mitarbeiterinnen des Tier-
heims sicher. Doch der alte
Mann verstarb ein paar
Wochen vor Weihnachten,
und Perdita blieb zurück,
allein in einem leeren
Haus, ohne Strom und
ohne Heizung. Es wurde langsam kalt. Schließlich erbarmten
sich die Nachbarn und riefen bei der Tierrettung an.
Das Heim der Tierrettung von Mitchell County liegt am
Highway 19E am westlichen Ende von Spruce Pine, rund
2000 Einwohner, bekannt für seine Quarzminen, für die
Forellenfischerei am North Toe River und das dazugehörige
Forellenfestival. Im Sommer ist das Städtchen überlaufen,
wenn die Alien-Konferenz für Ufo-Enthusiasten stattfindet,
aber um die Weihnachtszeit ist es normalerweise eher ruhig,
das gilt auch für das Tierheim. Doch das änderte sich, als
Perdita kam.
Die ersten 72 Stunden verbrachte sie in Quarantäne. Sie
benahm sich unauffällig. Bis sie in den Raum für adoptions -
fähige Tiere umzog, so erinnert sich Amber Lowery, die
Leiterin der Tierrettung. Kaum war Perdita in Gesellschaft,
fing sie an zu schlagen, am liebsten Babykatzen, berichtet
Lowery. Sie fauchte alles an, was sich bewegte. Offenbar steck-
te etwas Hinterhältiges in ihr: Sie tat, als wollte sie gestreichelt
werden, aber dann, wenn sie genug hatte, schlug sie mit ihrer
Pranke zu.
Auf den Arm nehmen ließ sie sich nicht. Sobald ein anderes
Tier es wagte, vor ihrem Käfig zu spielen, fuhr sie die Krallen


aus und langte durch die Gitterstäbe. Lowery fand auch ihren
Blick bemerkenswert, ein beunruhigendes Starren aus eis-
grauen Katzenaugen.
Die Mitarbeiter des Tierheims fragten sich, ob Perdita et-
was fehle. Sie riefen den Tierarzt. Der kam zu dem Ergebnis:
Mit Perdita sei alles in Ordnung, »sie ist einfach ein Idiot«.
Amber Lowery hat jahrelange Erfahrung mit der Vermitt-
lung von Tieren. Sie ahnte, dass Perdita ein besonders schwe-
rer Fall sein könnte. Sie gab eine Adoptionsanzeige auf. Doch
niemand wollte Perdita haben.
Lowery startete einen zweiten Versuch. Diesmal entschied
sie sich, Perditas Eigenheiten zum Verkaufsargument zu ma-
chen. Sie schrieb: »Treffen Sie Perdita, nichts für Menschen
mit schwachen Nerven. Sie mag: Ihnen in die Seele zu starren,
bis Sie das Gefühl haben, nie wieder froh sein zu können.
Sie hasst: Hunde, Kinder, die Dixie Chicks, Weihnachten
und zu guter Letzt ... Umarmungen.« Perdita sei Single. Sie
sei bereit, auf sozial inkompetente Weise mit einer sozial
inkompetenten Person umzugehen. Die Anzeige postete
Lowery auf Facebook.
Das Internet liebt »Cat-Content«. Es gibt millionenfach
angeklickte Videos von Katzen, die singen, die Klavier spie-
len, High five geben oder Hüte tragen. Und natürlich gab es
»Grumpy Cat« aus Arizona, die mit ihrem mürrischen Ge-
sichtsausdruck vor acht Jahren unfreiwillig zu Weltruhm kam.
Mehr als 200 Adoptionsanträge gingen nach dem Facebook-
Post ein, innerhalb weniger
Tage. Das Telefon in dem
kleinen Tierheim klingelte
pausenlos, der E-Mail-
Eingang verstopfte, es mel -
deten sich Menschen aus
der ganzen Welt, aus In-
dien, Großbritannien und
Deutschland. Spendengel-
der flossen, mehr als 1300
Dollar kamen bisher zusam-
men. Die globale Internet-
gemeinde hatte sich in eine
neurotische Katze verliebt.
Eine Frau schrieb: »Ich
will sie.«
Ein Mann schrieb: »Ihr
könnt sie per Post nach
Russland schicken – zu mir
nach Hause.«
»Sie braucht mich«, schrieb ein anderer.
Lowery hatte mit ihrer Mischung aus Humor und Ehrlich-
keit einen Nerv getroffen.
Es kostete sie und ihr Team mehrere Tage, um Perditas
plötzlichen Ruhm zu verwalten und aus den zahlreichen
Bewerbungen einen passenden Besitzer für Perdita auszu-
wählen.
Am 1. Februar war es endlich so weit: Perdita stieg in ein
schwarzes Körbchen mit einer gelben Gummibanane darin –
freiwillig und mit verhältnismäßig wenig Knurren und
Schlagen. Joe und Betty, die neuen Besitzer, fuhren mit ihr
in Richtung Tennessee. Was für die beiden sprach: Sie hatten
keine Kinder. Sie boten ein ruhiges, ereignisloses Leben. Und
sie hatten auf ihrem Grundstück eine Art Katzenimperium
geschaffen, mit Kratzbäumen und einem Katzenteich. Auf
Perdita wartete ein eigenes Zimmer.
Ihren Ruhm hat Perdita inzwischen hinter sich gelassen.
Sie lebt unauffällig unter neuem Namen, ihre neuen Besitzer
haben sie Noel getauft.
Im Tierheim von Spruce Pine aber verkaufen sie weiterhin
Merchandise-Artikel: T-Shirts und Kaffeebecher, bedruckt
mit einer schlimmen Katze. Dialika Neufeld

»Einfach ein Idiot«


Wie eine neurotische Katze aus North Carolina
zum Weltstar wurde

Ein Post und seine Geschichte

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