Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 47


Reporter

G


anz weit draußen, im Südosten
Londons, haben sie Julian As -
sange bereits an einen Baum ge-
knüpft. Sein Bildnis hängt, über-
schrieben mit dem Wort »Protest!«, an der
Einfahrt zum Belmarsh Prison, einer weit-
läufigen rotbraunen Trutzburg nicht weit
von der Themse. Das ist der Terroristen-
knast Ihrer Majestät.
Die beiden Islamisten, die 2013 auf
offener Straße einen Soldaten nieder -
metzelten, saßen hier, der Rassist und Bom-
benbauer David Copeland. Hassprediger,
Dschihad-Werber, Serienmörder. Und jetzt
eben auch: Julian Assange, 48 Jahre alt,
Hacker und Aufdecker staatlicher Kriegs-
verbrechen – verurteilt wegen des Versto-
ßes gegen britische Kautionsauflagen.
Am kommenden Montag werden sie
im Woolwich Crown Court, gleich gegen-
über von Belmarsh, erneut über ihn zu
Gericht sitzen. Und in diesem Prozess
wird es zu allererst um die Frage gehen,
ob der Australier Assange auch den Rest
seines Lebens in einem Hochsicherheits-
gefängnis wird verbringen müssen – dann
allerdings in einem amerikanischen.
Nach einer jahrelangen juristischen
Verfolgungsjagd wollen die USA den
Gründer und jahrelangen Frontmann der
Enthüllungsplattform WikiLeaks selbst
vor Gericht stellen. Sie führen 18 An -
klagepunkte an. Nach jetzigem Stand dro-
hen ihm bis zu 175 Jahre Gefängnis. Aber
niemand glaubt, dass sich die Amerikaner
damit zufriedengeben würden. Es gibt In-
dizien dafür, dass auf Assange weitere,
noch geheim gehaltene Anklagepunkte
warten. Und dafür, dass nicht nur er ir-
gendwann abgeurteilt werden soll, son-
dern auch etliche Mitstreiter und Unter-
stützer.
Hätten die USA mit ihrem beispiellosen
Vorgehen im Fall Assange Erfolg, dann
stünden all jene bereits mit einem Bein im
Gefängnis, die geheime staatliche Doku-
mente entgegennehmen, auswerten und
veröffentlichen – selbst dann, wenn diese
Dokumente schwerste Menschenrechts-
verletzungen und von Regierungen gedul-
dete Verbrechen belegen.
Die US-Regierung will, dass ihre dunk-
len Geheimnisse im Dunklen bleiben.
Daher weist dieser am Montag begin-
nende Auslieferungsprozess, der sich wo-


möglich über Jahre hinziehen wird, weit
über die Person Julian Assange hinaus.
Mit ihm auf der Anklagebank sitzen un-
sichtbar alle bisherigen und potenziellen
Whistle blower und alle Investigativjour-
nalisten, die es als ihre Aufgabe sehen, die
Mächtigen zu kontrollieren. Letztlich geht
es um eine für das Funktionieren jeder De-
mokratie fundamentale Frage: Was wäre,
wenn sich die Urheber staatlicher Verbre-
chen gegen jede Form von Strafverfolgung
immunisieren könnten, indem sie die Auf-
klärer dieser Verbrechen ein für alle Mal
mundtot machen?
Ist das dann noch Demokratie?
Was ihren Wächtern drohen könnte,
wenn sie sich künftig mit den Falschen
anlegen, das zeigt die Hatz auf Julian As-
sange, auch wenn es sich bei ihm um eine
hoch kontroverse Persönlichkeit handelt.
Eine Jagd, in der die Verfolger elementare
Grundrechte wiederholt mit Füßen traten,

an der sich gleichwohl mehrere Staaten,
die sich Rechtsstaaten nennen, beteiligten.
Diese Jagd ist noch längst nicht zu Ende.
Sie beginnt spätestens am 5. April 2010,
um 10.44 Uhr amerikanischer Ostküsten-
zeit. Da erscheint auf der Internetseite
Wikileaks.org unter dem Titel »Collateral
Murder« ein in seiner Kurzfassung 18-mi-
nütiges Video, das wie kein anderes Do-
kument die Sicht auf den US-Krieg im Irak
beeinflussen wird. Der Film erinnert an
ein herkömmliches Computerkriegsspiel
aus der Ego-Shooter-Perspektive. Er zeigt,
wie zwei US-amerikanische Helikopter -
besatzungen, über Bagdad schwebend, Zi-
vilisten und Journalisten erschießen, die
sie fälschlicherweise für feindliche Kom-
battanten halten.
Ins Feuer gerät auch der Fahrer eines
Transporters, der seine Kinder abgeholt hat,
nun aber den Verwundeten zu Hilfe eilt.
»Selbst schuld, wenn er Kinder mit aufs
Schlachtfeld bringt«, kommentiert einer der
US-Soldaten in der Langfassung ungerührt.

Das Video löst einen weltweiten Auf-
schrei aus.
Und es begründet den Ruhm eines früh
ergrauten Mannes, der praktisch über
Nacht zur Ikone des Antiimperialismus
und des Antiamerikanismus wird.
Julian Assange ist zu diesem Zeitpunkt
38 Jahre alt und genießt in der globalen
Hackerszene bereits Kultstatus. Nach
einer unsteten Kindheit und Jugend auf
permanenter Wanderschaft hat er in der
virtuellen Welt einen Fixpunkt gefunden.
Praktisch mit Beginn der globalen Vernet-
zung hat er sich auf die Hintertüren und
Schlupflöcher des Internets spezialisiert,
als »Mad Professor« oder »Mendax« (Lüg-
ner) dringt er in Netzwerke ein, kostet sei-
ne Macht aus, hat Spaß dabei.
Später sagt Assange: »Wenn du viel
schlauer bist als die Leute um dich herum,
entwickelst du ein enormes Ego – und du
bekommst das Gefühl, dass sich jedes Pro-
blem mit etwas Nachdenken lösen lässt.«
Seine entscheidende Idee hatte er 2006.
Was, wenn man eine Plattform gründen
würde, die die Geheimnisse der Mächtigen
mithilfe von Hackern und Whistleblowern
bloßstellt? Die Anonymität garantiert und
damit Strafverfolgung erschwert? Könnte
das nicht, so Assange, »der mächtigste Ge-
heimdienst der Welt werden, ein Geheim-
dienst des Volkes«? Es ist ein Gedanke wie
maßgeschneidert für eine Zeit, in der tota-
le Transparenz für viele zum Fetisch wer-
den wird. Assange lässt die Idee unter der
Webadresse Wikileaks.org registrieren.
In den Jahren danach veröffentlicht Wi-
kiLeaks Belege für US-Drohnenattacken
im Jemen, die Unterdrückung von Tibe-
tern oder Erschießungskommandos der ke-
nianischen Polizei. Allesamt erschütternde
Dokumente staatlicher Willkür. Millionen
Dokumente werden noch folgen.
Daneben allerdings publiziert Assange
auch die frühe Drehbuchversion eines In-
diana-Jones-Films, die Steuerunterlagen
des Schauspielers Wesley Snipes und an-
gebliche Beweise für eine HIV-Erkrankung
des verstorbenen Apple-Chefs Steve Jobs.
Es ist eine wilde Mischung. Und es scheint
nur einen Grund zu geben, warum As -
sange das tut: weil er es kann.
Es bleibt unklar, was genau ihn, jenseits
seines großen Egos, antreibt. »Lasst uns
Ärger machen«, hat er seinen Mitstreitern

Im Netz


ProzesseIn London steht WikiLeaks-Gründer Julian Assange vor Gericht –
und mit ihm die Freiheit der Presse. Donald Trumps Amerika hat

sich seit Jahren für diesen Showdown gewappnet. Die Geschichte einer Hetzjagd.


Und es scheint nur einen
Grund zu geben,
warum Assange das alles
tut: weil er es kann.
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