Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1
Leaks 2017 als »nicht staatlichen feindli-
chen Geheimdienst« bezeichnen.
Es gibt Hinweise darauf, dass die US-
Regierung zu diesem Zeitpunkt ihre Ver-
bündeten auffordert, Assange mit straf-
rechtlichen Ermittlungen zu überziehen,
um ihn zu beschäftigen und seiner Glaub-
würdigkeit zu schaden. Der US-Geheim-
dienst NSA, das zeigt Jahre später ein vom
Whistleblower Edward Snowden geleak-
tes Dokument, setzen Assange schon 2010
auf eine »Manhunting«-Liste – neben füh-
renden Köpfen von al-Qaida.
Assange hat die USA empfindlich ge-
troffen. Jetzt schlägt das Imperium zurück.
Im August 2010, wenige Wochen nach
Veröffentlichung der Afghanistandoku-
mente, nimmt Julian Assange die Einla-
dung eines christlich-sozialdemokrati-
schen Vereins an, in Schweden aufzutreten.
Der Termin kommt ihm gelegen. Er will
sich in dem skandinavischen Land um eine
Presse-Herausgeber-Lizenz für WikiLeaks
bemühen, weil er als Journalist größeren
Schutz vor staatlicher Verfolgung genie-
ßen würde. Fortan jedenfalls bezeichnet
Assange seine Plattform konsequent als
Medienorganisation – und sich selbst als
Chefredakteur. Man wird ihn weltweit mit
Preisen überschütten.
In diesen Tagen in Stockholm hat As-
sange, der offenbar seit je einen promis-
kuitiven Lebensstil pflegt, Sex mit zwei
Frauen. Beide wissen voneinander, und
beide sind im Nachhinein besorgt, weil As-
sange sie jeweils zu ungeschütztem Ge-
schlechtsverkehr gedrängt haben soll und
in einem Fall während des Geschlechtsakts
ein Kondom zerrissen habe.
Wenige Tage später tauchen beide Frau-
en, Sofia W. und Anna A., in einer Stock-
holmer Polizeiwache auf. Sofia W. er -
kundigt sich, ob sie Assange zu einem HIV-
Test verpflichten könne. Während der
Befragung wird ihr klar, dass die dienst -
habende Staatsanwältin Assange wegen
Verdacht auf Vergewaltigung festnehmen
will. W. ist schockiert und schreibt einer
Freundin, die Polizei wolle Assange »in die
Finger kriegen«. Es dauert nur wenige Stun-
den, bis das Boulevardblatt »Expressen«
von der Sache Wind bekommt. Und so er-
fährt die ganze Welt am 21. August, dass
gegen Julian Assange Haftbefehl wegen
Vergewaltigungsvorwürfen erlassen wird.
Es kommt noch merkwürdiger. Binnen
24 Stunden prüft eine weitere Staatsanwäl-
tin den Ermittlungsstand – und hebt den
Haftbefehl auf, Assanges Verhalten sei
nicht als Vergewaltigung zu bewerten. We-
nige Tage später macht die Staatsanwalt-
schaft jedoch erneut eine bemerkenswerte
Kehrtwende und nimmt die Ermittlungen
wegen des Vergewaltigungsverdachts wie-
der auf.
Verlangt hat dies der Anwalt, der die
beiden Frauen vertritt. Der Mann heißt

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Reporter

HENRY NICHOLLS / REUTERS
WikiLeaks-Chef Hrafnsson: »Krieg gegen den Journalismus«

77 000 Dokumente aus dem Krieg in Af-
ghanistan, 392 000 Dokumente aus dem
Krieg im Irak und später im Jahr noch gut
250 000 diplomatische Depeschen.
Diese und spätere Veröffentlichungen
werfen ein verheerendes Licht auf die
militärische und politische Willkür der
Vereinigten Staaten, sie entlarven Kriegs-
verbrechen und ein weltumspannendes
Spionagenetzwerk, das auch vor Freunden
nicht haltmacht. Es ist ein Verdienst von
WikiLeaks, diese Dokumente öffentlich
gemacht zu haben.

In diesem Jahr2010 ist Julian Assange so
berühmt – und so gefährdet – wie nie
zuvor. Sein Gesicht ist jetzt omnipräsent.
Maler, Schriftsteller, Sänger setzen ihm
künstlerische Denkmäler, eine Schuhfirma
benennt schwarze Stiefel nach ihm; er
inspiriert vermutlich Drehbuchschreiber
für einen James-Bond-Bösewicht und hat
einen Cameo-Auftritt in der Kultserie
»Simpsons«. Celebrities wie Lady Gaga,
Vivienne Westwood, Brian Eno, Yoko
Ono reißen sich um ihn. Julian Assange
fordert nun nicht mehr nur die Mächtigen
heraus – er ist selbst einer geworden.
Während der Rest der Welt ihn feiert,
beginnt jedoch im Verborgenen eine mi-
nutiös geplante Operation, um seiner hab-
haft zu werden. Anzeichen, dass sich über
WikiLeaks etwas zusammenbraut, gibt es
im Lauf des Jahres 2010 mehr als genug.
So bezeichnet etwa US-Vizepräsident Joe
Biden Assange als »Hightech-Terroristen«.
Außenministerin Hillary Clinton fragt sich
angeblich, ob man »diesen Typen nicht
einfach mit einer Drohne ausschalten«
könne. Ganz Ähnliches schwebt in New
York einem Geschäftsmann namens
Donald Trump vor. Dessen heutiger Au-
ßenminister Mike Pompeo wird Wiki -

früh zugerufen, aber zu welchem Zweck,
bleibt vage. Links, rechts sind keine Kate-
gorien für Assange, er will sich nicht fest-
legen. Vielleicht kann er es auch nicht.
Der schottische Schriftsteller Andrew
O’Hagan hat 2010 Monate mit Assange
verbracht, um als Ghostwriter dessen
Autobiografie zu verfassen. Er war dem
Australier auch noch wohlgesinnt, als das
Projekt scheiterte, sagt jedoch über ihn:
»Er hätte dialektischen Materialismus nicht
von einer Tüte Erdnüsse unterscheiden
können. Er hasst Glaubenssysteme, ja Sys-
teme überhaupt. Er will der Geist in der
Maschine sein, einer, der durch die Korri-
dore der Macht marschiert und dort die
Lichter ausknipst.«
Tatsächlich aber ist Julian Assange in
O’Hagans Augen vor allem eines: ein
selbstverliebter, chaotischer Kindskopf,
der die Welt in Gut und Böse teilt und über
ein bemerkenswertes Talent verfügt, sich
Menschen – selbst die wohlmeinendsten –
zum Feind zu machen.
Die Gelegenheit, den wohl mächtigsten
Gegner des Planeten herauszufordern, bie-
tet sich dem WikiLeaks-Chef, als ihm ein
junger Rekrut der US-Armee, Bradley
Manning, der heute als Frau lebt und sich
Chelsea nennt, den bislang größten und
heikelsten Datenschatz in die Arme legt.
Was im April 2010 noch niemand ahnt:
Das »Collateral Murder«-Video ist nur der
Auftakt einer monatelangen Kampagne,
an deren Ende die US-Regierung so ent-
blößt und gedemütigt dastehen wird wie
seit Jahrzehnten nicht mehr.
Gemeinsam mit Medienpartnern – allen
voran der britische »Guardian«, die »New
York Times« und der SPIEGEL– veröffent-
licht WikiLeaks 2010 in rascher Folge
hochsensible Datenkonvolute aus dem
Maschinenraum der US-Administration.

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