Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

Claes Borgström und ist kein Unbekann-
ter: Er ist Kanzleikollege des ehemaligen
Justizministers Thomas Bodström, in des-
sen Amtszeit einst zwei von der CIA ver-
dächtige Männer in Schweden aufgegriffen
und ohne Verfahren an die USA ausgelie-
fert wurden.
Assange, der ahnt, dass hinter der Sache
noch mehr stecken könnte als der Vorwurf
der sexuellen Belästigung, hält sich zu die-
sem Zeitpunkt noch immer in Stockholm
auf. Er möchte aussagen, bekommt aber
keinen Termin. Als er schließlich Ende Sep-
tember nach Deutschland reisen will, lässt
er sich das von der Staatsanwältin geneh-
migen.
Am 27. September fliegt Assange nach
Berlin und anschließend nach London. Die
Schweden werten das als Flucht. Mitte No-
vember – im selben Monat, in dem Wiki-
Leaks die diplomatischen US-Depeschen
veröffentlicht – erlassen die schwedischen
Behörden einen Europäischen Haftbefehl
wegen des Verdachts auf Vergewaltigung.
All diese Vorgänge in Schweden be -
weisen nicht, dass die schwedischen Be-
hörden sich von wem auch immer haben
instrumentalisieren lassen. Aber sie reihen
sich ein in eine lange Liste von Merkwür-
digkeiten und Skandalen, die den Fall
Assange bis zum Ende begleiten werden.
Schon damals fürchtet der WikiLeaks-
Gründer nichts mehr als seine Auslieferung
an die USA. Er werde womöglich in einen
jener orangefarbenen Gefangenenoveralls
in Guantanamo gesteckt, vertraut er Besu-
chern an, nachdem er sich in London ge-
stellt hat. Er lebt unter Hausarrest in einem
Haus eines Unterstützers in Norfolk, als
er von einer unter Verschluss gehaltenen
US-Anklage gegen ihn erfährt. Zeugen wer-
den bereits vernommen, E-Mail-Konten
von Mitstreitern durchsucht.
Spätestens jetzt wird ihm klar, dass er
mit dem Schlimmsten rechnen muss. Denn
ob Anklage erhoben werden soll, wird von
einer Grand Jury in Virginia entschieden.
Der Ort ist aus US-Sicht trefflich gewählt:
Die Geschworenen in diesem Verfahren
sichten unter Ausschluss der Öffentlichkeit
von der Staatsanwaltschaft vorgelegte Be-
weise. Und in Virginia leben sehr viele Be-
dienstete und Familienmitglieder der CIA,
der NSA oder des Verteidigungsministe -
riums. Wer hier als Staatsfeind angeklagt
wird, der muss mit einem sehr harten Ur-
teil rechnen.
Nachdem er in Großbritannien alle
Rechtsmittel gegen eine Auslieferung nach
Schweden vergebens ausgeschöpft hat,
entschließt sich Assange daher zu einem
spektakulären Schritt. Mit gefärbten Haa-
ren und verkleidet als Motorradbote
braust er am 19. Juni 2012 in den noblen
Londoner Stadtteil Knightsbridge, um dort
in der Botschaft Ecuadors Zuflucht zu su-
chen. Es ist eine filmreife Flucht, und tat-


sächlich hat Assange sie selbst sendungs-
bewusst mit einer Helmkamera eingefan-
gen – die Bilder finden später Eingang in
den Film »Risk«, eine kritische Assange-
Betrachtung der Filmemacherin Laura
Poitras.
Einmal mehr hat Assange seine Häscher
weltöffentlich vorgeführt. Aber jetzt sitzt
er in der Falle.
Die Ecuadorianer, für deren linke Re-
gierung die Aufnahme der Linken-Ikone
ein weltpolitischer Coup bedeutet, bemü-
hen sich anfangs, Assange bei Laune zu
halten. Nach wenigen Wochen gewähren
sie ihm offiziell Asyl. Die Botschafterin
räumt einen 15 Quadratmeter großen
Raum für den hochgewachsenen Mann,
der intern als »der Gast« firmiert. Assange
bekommt ein Bett, eine Dusche, eine
UV-Lampe, ein Laufband und, natürlich,
Computer. Zehn Laptops werden britische
Polizisten Jahre später sicherstellen.
An der Wand seines Schlafraums hängt
ein Poster, das einen Heißluftballon mit sei-

nem Konterfei zeigt. Fast sieben Jahre lang
lebt Assange in dem roten Backsteinbau.
Je länger er in der Botschaft gefangen
ist, desto mehr weicht er jedoch von seiner
ursprünglichen Linie ab, WikiLeaks zur
neutralen Plattform für geheime und un-
terdrückte Dokumente aller Art und jeder
Herkunft zu machen. Stattdessen teilt er
vor allem via Twitter immer wilder gegen
die USA aus. Und weil er dafür nicht
seinen privaten, sondern den öffentlichen
WikiLeaks-Account benutzt, zofft sich das
Team um Assange häufig auch intern.
Seinem Anspruch, Journalist zu sein,
wird der Chefredakteur dabei nicht immer
gerecht. Er lobt öffentlich eine Belohnung
aus für Gesprächsmitschnitte aus dem Wei-
ßen Haus. Er ruft junge Leute dazu auf,
sich bei der CIA zu bewerben, um deren
Geheimnisse herauszuposaunen. Er wird
zum Aktivisten in eigener Sache.
Schon Jahre vorher hat er sich mit sei-
nen Medienpartnern heftige Auseinander-
setzungen geliefert über die Frage, in wel-

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 49


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Assange-Vater Shipton: »Hier wird vor den Augen der Welt ein Verbrechen begangen«
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