Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

chem Umfang geleakte Dokumente vor
ihrer Veröffentlichung geschwärzt werden
müssen, um etwa die Identität von US-In-
formanten in Afghanistan oder regierungs-
kritischen chinesischen Wissenschaftlern
zu schützen. Assange, der die diplomati-
schen Depeschen zum Unmut vieler 2011
unbearbeitet publiziert hat, ist im Zweifel
für radikale Transparenz.
Und dann, 2016, holt er zu einem Coup
aus, der wie kein zweiter die öffentliche
Wahrnehmung des Aufklärers Julian As-
sange ins Wanken bringen wird. Kurz vor
der US-Präsidentschaftswahl im Jahr 2016
veröffentlicht WikiLeaks zahllose interne
E-Mails vom Server der Demokratischen
Partei, deren Kandidatin Hillary Clinton
sich anschickt, die erste US-Präsidentin
der Geschichte zu werden.
Clinton wie Trump haben Assange an-
geblich den Tod gewünscht. Dennoch hält
Assange die »Kriegsverbrecherin« Clinton
offenbar für gefährlicher. Für die Welt – und
für sich selbst. Also veröffentlicht er die
Mails, die Clintons wenig zimperlichen Um-
gang mit Parteifreunden belegen, zum stra-
tegisch besten Zeitpunkt. Sie schaden Clin-
ton signifikant. »Ich liebe die Lektüre von
WikiLeaks«, ruft der spätere Wahl sieger Do-
nald Trump seinen Anhängern zu.
Schon kurz nach der Präsidentschafts-
wahl wird klar: Die Demokraten-Mails,
die WikiLeaks veröffentlicht hat, stammen
höchstwahrscheinlich von russischen
Hackern. Im März 2019 wird der Bericht
des US-Sonderermittlers Robert Mueller
zu dem Schluss kommen, dass der russi-
sche Militärgeheimdienst das gestohlene
Ma terial mithilfe des Onlinepseudonyms
Guccifer 2.0 an WikiLeaks überspielt habe.
Und noch etwas belegt Mueller: dass
Trumps Verbündete und Helfer mehrfach
Kontakt zu Assange und seiner Organisa-
tion aufnahmen, darunter auch Trumps
Sohn Donald Jr.
Zwar gibt es keine Beweise dafür, dass
Assange wusste, woher das Material


stammte, das Clinton so sehr schadete.
Laut Mueller versuchte Assange aber
später, von den Russen als Quelle abzu-
lenken – unter anderem, indem er den
Verdacht auf einen ermordeten Mitarbei-
ter der Demokraten lenkte. Was dabei
auffällig ist: Beteuert Assange doch stets,
dass WikiLeaks technische Vorkehrungen
getroffen habe, um Quellen den völlig
anonymen Abwurf von Daten zu garan-
tieren. Wie kann er also diesmal so sicher
sein?
Der Vorwurf, von Russland instrumen-
talisiert worden zu sein, wird Assange fort-
an anhaften. Zumal er früh und vehement
via Twitter Partei für Wladimir Putin er-
griffen hat. Die Annexion der Halbinsel
Krim etwa verharmloste er, indem er den
USA vorwarf, »die ganze Welt mit Mas-
senüberwachung annektiert« zu haben.
Dass das jetzt, 2016, merkwürdig wirkt,
dämmert auch Assange. Er habe daher
»händeringend nach Material gegen Russ-
land gesucht«, sagt einer seiner Mitstreiter.

Der nächste großeWikiLeaks-Coup zielt
dann aber doch wieder auf Assanges Lieb-
lingsfeind. Mit »Vault 7« entblößt die Platt-
form im März 2017 die Hacker-Fähigkeiten
der CIA. Assange stachelt damit auch den
Furor der neuen US-Regierung an. Ins -
besondere Mike Pompeo, zu diesem Zeit-
punkt CIA-Chef, steht blamiert da. Trump
selbst, auch er im Fokus wegen der Nähe
zu russischen Akteuren, will plötzlich
nicht mal mehr wissen, was WikiLeaks ist.
Assanges britische Anwältin dagegen be-
hauptet, Trump habe ihrem Mandanten
2017 eine Begnadigung in Aussicht stellen
lassen, wenn er öffentlich bekunden wür-
de, dass Russland nichts mit den geleakten
Demokraten-Mails zu tun habe.
Wer Julian Assange im Frühjahr 2017
in seinem Botschaftsasyl besucht, der stößt
auf einen bleichen, nervösen, unkonzen-
trierten Menschen. Als SPIEGEL-Reporter
ihn im Mai interviewen wollen, betritt

Assange den Konferenzraum der Bot-
schaft zunächst grußlos, durchmisst ihn
mit ausholenden Schritten und macht sich,
so scheint es, an einer Marienfigur auf dem
Kaminsims zu schaffen. Plötzlich erfüllen
unangenehme Verzerrergeräusche den
Raum. Sie stammen von einem elektri-
schen Geräuschgenerator. Assange glaubt,
überwacht zu werden, und hat Gegen -
maßnahmen ergriffen.
Was nach Paranoia klingt, ist, wie sich
herausstellen wird, allzu real. In Ecuador
ist kurz zuvor Lenín Moreno zum Präsi-
denten gewählt worden. Der sieht sich von
Anfang an enormem Druck seitens der
USA ausgesetzt, seinen berühmten Gast
den »richtigen Behörden« zu übergeben.
Und die Amerikaner sind, wie es
scheint, bestens über die Vorgänge in der
Londoner Botschaft informiert. Dafür
sorgt offenbar die spanische Firma UC Glo-
bal, die seit 2015 im Auftrag Ecuadors für
die Sicherheit in der Botschaft zuständig
ist – deren Chef David Morales zwischen-
zeitlich aber noch potentere Geldgeber ge-
funden haben soll. In diesem Fall: ameri-
kanische.
Den Anwälten Assanges jedenfalls lie-
gen drei eidesstattliche Versicherungen
ehemaliger UC-Global-Bediensteter und
etliche interne E-Mails vor. Demnach spio-
nierte die Firma Assange systematisch aus,
hörte sogar Anwaltsgespräche ab, die er
bei laufender Dusche im Bad führte – und
lieferte die Mitschnitte mutmaßlich an die
CIA. Wenn das stimmt, wäre das ein un-
erhörter Übergriff. In der ARD-Dokumen-
tation »WikiLeaks – Staatsfeind Julian As-
sange« zitiert die ARD dessen spanischen
Anwalt Aitor Martinez: Die vertrauliche
Beziehung zwischen Anwalt und Mandant
sei »in jedem demokratischen Land ein
fundamentales Recht«. Eigentlich. In Spa-
nien soll Morales, der die Vorwürfe be-
streitet, der Prozess gemacht werden.
Glaubt man den Zeugen, dann wurden
alle möglichen Szenarien durchgespielt,

50 DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020


Assanges Odyssee
Chronik der wichtigsten
Ereignisse

Wegen mutmaßlicher Sexual-
delikte erwirkt die schwedische
Staatsanwaltschaft einen Haft-
befehl gegen Assange. Dennoch
reist er im September über Berlin
nach London.

WikiLeaks veröffentlicht Video-
aufnahmen von Luftangriffen
im Irak, bei dem auch zwei Reuters-
Journalisten starben. Im Laufe
des Jahres werden weitere geheime
Militärdokumente publiziert.

Assange wird in London
festgenommen, weil
Schweden einen Aus-
lieferungsantrag gestellt
hat. Gegen Kaution
kommt er auf freien Fuß.

April 2010

August 2010
Als die britische Justiz grünes Licht für
Assanges Auslieferung an Schweden gibt,
flieht er in die ecuadorianische Botschaft,
wo er politisches Asyl erhält. London
verhindert die Ausreise, Assange kann das
Botschaftsgebäude nicht mehr verlassen.

Februar 2011

Dezember 2010 Schweden stellt die Ermitt-
lungen gegen Assange ein,
die britischen Behörden
wollen Assange allerdings
weiterhin wegen des Ver-
stoßes gegen die Kautions-
auflagen festnehmen.

Mai 2017

WIKILEAKS / AFP
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