Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

um Assange aus den Botschaftsräumen zu
zwingen: eine Entführung durch ein offe-
nes Fenster oder eine Lebensmittelvergif-
tung, um während der Fahrt in ein Kran-
kenhaus zuschlagen zu können.
Moreno habe Untergebene sogar auf -
gefordert, die Windel eines Säuglings zu
stehlen, der häufiger zu Assange in die
Botschaft gebracht wurde. Ein DNA-Ab-
gleich hätte so womöglich die Vaterschaft
Assanges nachgewiesen und seinen Ver-
folgern ein weiteres Druckmittel in die
Hand gegeben.
Vor diesem Hintergrund wird verständ-
licher, dass sich Assange mit den Jahren
zusehends verändert hat. »Du weißt von
verborgenen Mikrofonen und Kameras,
du weißt, dass die Amis dich tot sehen
wollen, und du weißt nicht, ob du je wie-
der rauskommst«, sagt einer, der den Wiki -
Leaks-Chef regelmäßig besuchte. »Norma-
le Gefangene haben eine Perspektive, die
hatte er nicht.«
Stattdessen erlebt Assange in seinen
letzten beiden Jahren in der Botschaft, wie
sich die Schlinge immer weiter zuzieht.
Mal prangert ihn Ecuadors Präsident öf-
fentlich als »verzogenes Balg« an, mal lässt
er Assanges Internetzugang sperren, sein
einziges Fenster zur Welt. In der Botschaft
selbst kommt es immer häufiger zu Streit,
ecuadorianische Politiker streuen Gerüch-
te, wonach Assange Botschaftsbedienstete
geschlagen und Fäkalien an die Wand ge-
schmiert haben soll.
Im Amerikanischen heißt das »charac-
ter assassination«. Rufmord.
Vermutlich ist es das, was Nils Melzer,
der Uno-Sonderberichterstatter über Fol-
ter, meint, wenn er sagt, Assange sei über
Jahre gezielt psychologisch gefoltert wor-
den. Man muss dafür nicht einmal Hand
an ein Opfer legen. Es reicht, wenn man
dessen Lebensumstände unerträglich ge-
staltet.
Ganz am Ende legen seine Häscher
dann aber doch noch Hand an ihn. Es ist


der 11. April 2019, als britische Polizisten
auf Einladung Ecuadors in die Botschaft
marschieren, um Julian Assange abzu -
holen und in einen Transporter zu hieven.
Schon wenige Stunden später liegt das
Auslieferungsbegehren der Amerikaner in
London vor. Die Schweden dagegen, die
das Verfahren gegen Assange neun Jahre
lang am Köcheln hielten, wollen ihn nun
nicht mehr haben.

Stattdessen nehmen sicheinstweilen die
Briten seiner an. Wenige Wochen nach
Assanges Verhaftung verurteilen sie ihn
wegen des Verstoßes gegen Kautions -
auflagen zu 50 Wochen Gefängnis – abzu-
sitzen im Hochsicherheitsknast Belmarsh.
Dort ist der Mann, der sieben Jahre De-
facto-Isolation hinter sich hat, wieder auf
sich allein gestellt. Im hoch gesicherten
Krankenhausflügel des Gefängnisses hat
er über Monate praktisch nur Kontakt zu
einem Schizophrenen und einem Mann,
der nach dem Versuch, seine Frau und sich
selbst zu töten, schwerbehindert ist. Erst
wenige Wochen vor seinem Auslieferungs-
prozess werden seine britischen Bewacher
ihm regelmäßigen Kontakt mit anderen
Strafgefangenen gestatten.
Es ist nicht die einzige merkwürdige
Entscheidung der Briten in der Causa
Assange. Schon 2012 erregte der damalige
Außenminister William Hague mit der
Drohung Aufsehen, der ecuadorianischen
Botschaft in London den diplomatischen
Status zu entziehen und das Gebäude zu
stürmen. Als schwedische Ermittler zwi-
schenzeitlich doch einmal erwogen, von
Assange abzulassen, erreichte sie eine auf-
geregte Mail des Crown Prosecution
Service: »Wagt ja nicht, kalte Füße zu be-
kommen!«
Nicht nur deshalb glauben viele Beob-
achter, dass Assange Opfer eines abgekar-
teten Spiels sei. Melzer, der Anti-Folter-
Experte der Uno, geht sogar noch weiter.
Er spricht von einer »Verschwörung« der

vier Staaten USA, Ecuador, Schweden und
Großbritannien mit dem Ziel, von staat -
lichen Kriegsverbrechen abzulenken.
Stattdessen hätten diese Staaten As -
sange »ganz gezielt gedemütigt, verteufelt
und entmenschlicht, um ihn heute in aller
Öffentlichkeit auf dem Scheiterhaufen ver-
brennen zu können«. Beweise für seine
These hat Melzer nicht, aber er sagt, man
müsse nur die Puzzlestücke zusammenset-
zen. Der gesamte Fall sei eine Bankrott -
erklärung der westlichen Rechtsstaatlich-
keit – mit unabsehbaren Folgen.
Es ist ein klirrender Sonnentag in Reyk-
javík, als Kristinn Hrafnsson die Tür zu
seinem Büro mit den Worten öffnet: »Die-
ser Ort existiert nicht.« Das Büro, so viel
darf man sagen, befindet sich im Ober -
geschoss eines Hauses in der isländischen
Hauptstadt. An der Wand hängt eine Welt-
karte, gegenüber steht ein kühlschrank -
großer Safe, auf dem Tisch dazwischen ein
Warnschild: »Dieser Raum wird über-
wacht, keine heiklen Gespräche, benutzt
Stifte.«
Der Journalist Hrafnsson ist in Ab -
wesenheit von Julian Assange Chef von
WikiLeaks, er ist ein nordisch-stoischer
Mann von 57 Jahren, der nicht den Ein-
druck macht, als lasse er sich schnell aus
der Ruhe bringen. Aber auch er ist mit der
Zeit vorsichtig geworden. »Julian ist ein
politischer Gefangener, jeder kann das se-
hen«, sagt Hrafnsson. Und es sei auch klar,
wer der Nächste wäre, sollten die Ameri-
kaner ihren Willen bekommen: »ich.«
Merkwürdige Dinge seien geschehen,
seit sich die Schlinge um Assange zuge -
zogen habe, so der Isländer. Etliche Wiki-
Leaks-Mitstreiter, selbst solche mit nach-
rangigen Rollen in der Organisation,
hätten zuletzt Besuch von Ermittlern be-
kommen. Ihnen sei Immunität angeboten
worden, sollten sie im Prozess gegen As-
sange aussagen. »Man hat ihnen quasi die
Pistole an die Schläfe gesetzt, damit sie
sich an einer Menschenjagd beteiligen«,

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November 2018
Am 1. Mai verurteilt ein britisches Gericht
Assange zu 50 Wochen Haft wegen Ver-
stoß gegen die Kautionsauflagen. Schweden
nimmt die Ermittlungen für kurze Zeit wieder
auf, die USA erweitern ihre Anklage.

Mai 2019

In den Vereinigten Staaten taucht ein
Dokument auf, wonach Anklage gegen
Assange erhoben wurde. Bislang war
unklar, ob die USA einen Auslieferungs-
antrag gegen ihn stellen würden.

Der britische Innenminister stimmt dem
US-amerikanischen Auslieferungsgesuch
zu. Assange bleibt daher auch nach dem
Ende seiner Haftstrafe im Gefängnis.
Die Verhandlungen über das Gesuch sind
für den 24. Februar angesetzt.

Juni 2019
Ecuador entzieht Assange das
Recht auf politisches Asyl. Er
habe wiederholt gegen Auflagen
verstoßen. Britische Polizisten
verhaften ihn in der Botschaft.

April 2019

ELIZABETH COOK / DPA

ITALY PHOTOPRESS / IMAGO
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