Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1
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eben Gehaltverhandeln, Englisch und Mülltrennen
gehört Skifahren zu den Dingen, die ich im Westen
gelernt habe. Im Osten gab es keine hohen Berge. In
der DDR gab es Kombiski mit einer Bindung, die man je
nach Gelände verstellen konnte. Ich habe die Bindung kaum
benutzt. Ging es bergab, fuhr ich Schuss, bis ich umfiel. Rück-
blickend beschreibt das mein Leben damals ganz gut.
Seit zwei Jahren lebe ich in Israel, das mich in vielerlei
Hinsicht an Ostdeutschland erinnert, auch was die Berge an-
geht. Wir haben seit zwei Jahren keinen Skiurlaub gemacht.
Meine Frau und ich dachten, vielleicht fliegen wir nach
Georgien und laufen im Kaukasus Ski. Ich war noch nie in
Georgien. In Reiseberichten las ich, Georgien sei das Kanada
des Ostens. Der Schnee sei trocken. Ich war schon in Vermont
und in Colorado Ski lau-
fen, in der Schweiz, in
Österreich, in der Hohen
und der Niederen Tatra;
ich kenne feuchten und
trockenen Schnee. In
Utah bin ich mal eine
olympische Abfahrt hi-
nuntergefahren, in Zako-
pane eine Weltcupstre-
cke. Und jetzt also das
Kanada des Ostens. Aber
dann kam das Corona -
virus, und wir sahen uns
in der Nähe um. Es gibt
hier nur ein Skigebiet. Im
Golan. Da fuhren wir hin.
Auf dem Weg erreich-
te mich die Nachricht
eines ehemaligen Kolle-
gen, der sich darüber be-
schwerte, dass meine
letzte Kolumne im West-
jordanland gespielt hatte
und nicht in Thüringen, wo jede ostdeutsche Stimme ge-
braucht werde. Ein SPIEGEL-Kollege schrieb, Erfurt sei jetzt
die heimliche Hauptstadt.
Wir kamen in der Dunkelheit an, es regnete. Wir hatten
ein Zimmer in einem Bergresort gebucht, es war eine Finn-
hütte in einem Finnhüttendorf. Auch die israelischen Ferien-
hotels erinnern mich an die Ferienhotels meiner sozialisti-
schen Jugend. Sowohl was die Ausstattung angeht als auch
das Personal, das, so scheint es, professionelle Freundlichkeit
als Charakterschwäche empfindet. Die Wege zwischen den
Finnhütten waren aufgesprungen, hinterm Rezeptionstresen
stand eine Dorfschönheit mit leicht tragischer Aura.
Nach zwei Saunagängen und einem schweren Abendessen
zappte ich mich in der Mediathek durch die deutschen Talk-
shows zum Thema Erfurt. Ich sah Peter Altmaier bei Anne
Will, der redete, als wäre er vor 30 Jahren eingefroren und
eben erst wieder aufgetaut worden. Ich hörte zum ersten
Mal von der Hufeisentheorie, nach der Links- und Rechts -
extremismus nahe beieinanderliegen sollen. In einer anderen
Sendung trieb Sandra Maischberger wie in einem Ehestreit


Bodo Ramelow in die Enge. Sie redete durch ihn hindurch
und lächelte dabei. Sie attackierte ihn lächelnd. Eine bessere
Darstellung von »passiv-aggressiv« habe ich nie gesehen. Es
funktionierte. Ehemänner betonen an dieser Stelle gern, wer
eigentlich das Geld verdient. Ramelow zählte schwer atmend
seine Verdienste auf und redete vom Konzentrationslager
Buchenwald sowie von Adolf Hitler. Er wirkte, als hätte er
Maischberger am liebsten mit dem Hufeisen niedergeschla-
gen. Er war da, wo sie ihn haben wollte. Am Rande standen
Journalisten als Experten wie der Chor in einer griechischen
Tragödie.
Ich saß in der Finnhütte auf den Golanhöhen und fühlte
mich weit weg vom grünen Herzen Deutschlands. Die Talk-
showgastgeberin, Ramelow, Kemmerich und Höcke, die hat-
ten doch alle nichts mit mir zu tun. Auch Kramp-Karrenbauer
nicht und Friedrich Merz. Das ist alles Westpersonal. Aus
dem Osten kam nur der unglückliche CDU- Vorsitzende aus
Erfurt, der eine Abschiedsvideobotschaft abschickte, die aus-
sah, als hätte man sie im Folterkeller von Merz’ Einfamilien-
haus aufgenommen. Und Angela Merkel natürlich, deren
Ablösung der Westen gerade wieder fordert.
Am nächsten Tag fuhren wir mit unseren soliden deutschen
Skianzügen auf den Berg. Es regnete immer noch. Jetzt war
es auch sehr neblig. Aus
dem Nebel tauchten
Schranken, Zäune und
Wachmänner auf. Wir
waren dicht an Syrien
und dem Libanon. Da -
maskus war 50 Kilome-
ter entfernt.
Irgendwann mussten
wir das Auto abstellen
und wurden mit dem
Bus weiter nach oben
gefahren. Als sich die
Türen öffneten, sah man
gar nichts mehr. Der
Schnee war feucht und
schwer wie einst in Ober-
hof. Es war das Wetter
für Kombinationsbindun-
gen, aber im Skiverleih
am Mount Hermon gab
es nur Carvingski. Die
meisten Besucher kamen
sowieso, um den Schnee
zu sehen. Großfamilien, die Väter in langen schwarzen
Mänteln, die Frauen mit Plastiktüten voller Junkfood. Ein
Junge rief immer wieder »scheleg, scheleg«. Das heißt Schnee
auf Hebräisch.
Es gab nur sehr wenige Abfahrten, aber die Preise orien-
tierten sich an Vorarlberg. Das Halbtagesticket kostete um-
gerechnet 54 Euro. Ich überlegte trotzdem, ob ich es nehmen
sollte. Der Ostler in mir wollte einen weiteren Berg sammeln.
Ski fahren auf dem Golan. Das hätte ich später in einer Gon-
del in St. Anton fallen lassen können. Aber dann gab ich auf.
Wir nahmen den Bus zurück ins Tal. Er entließ uns in eine
undurchdringliche Nebelwelt und fuhr weiter. Es war ein
Parkplatz, auf dem ein paar Autos standen. Unseres war
nicht dabei. Ich drückte auf die Fernbedienung, kein Blinken
in der weißen Hölle. Wir liefen weiter. Irgendwann ragte ein
Geschützrohr aus dem Nebel, dann folgte die Panzerhaubitze
dazu, dann noch eine. Vielleicht waren wir in einen Winter-
krieg geraten. Wir hätten in Syrien sein können. Oder auf
dem Rennsteig. Im Herzen Deutschlands. Ich kann jetzt Ski
fahren, aber das half mir nicht weiter. 

Nebelwelten


LeitkulturAlexander Osang versucht,
die Orientierung zu behalten.

Reporter

ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
Israelische Panzerhaubitze auf dem Golan
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