Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

Georgiewa, 66, ist seit Oktober 2019 ge-
schäftsführende Direktorin des Internatio-
nalen Währungsfonds (IWF). Die bulgari-
sche Ökonomin war zuvor Vizepräsidentin
der EU-Kommission.


SPIEGEL:Frau Georgiewa, schütteln Sie
Ihren Gästen noch die Hand, wenn Sie sie
zu einem IWF-Treffen begrüßen?
Georgiewa:Ja. Aber wann immer es mög-
lich ist, wasche ich mir zur Vorsicht die
Hände. Für eine große internationale Or-
ganisation wie den IWF bedeutet das Co-
ronavirus eine doppelte Herausforderung.
Wir haben die Aufgabe, die ökonomischen
Folgen der Epidemie zu analysieren.
Gleichzeitig müssen wir unsere Mitar -
beiter schützen.
SPIEGEL:Die chinesische Regierung hat
wegen des Virus ganze Regionen gesperrt,
viele Fabriken liegen still. Wie sehr wird
das Virus die Weltkonjunktur bremsen?
Georgiewa:Zu diesem Zeitpunkt haben
wir nur Szenarien, keine Prognosen. Es
gibt einen hohen Grad an Unsicherheit:
über die Gefährlichkeit des Virus, über die
Geschwindigkeit, mit der China sich erho-
len kann, und über die entsprechenden
Folgen für die Welt.
SPIEGEL:Wie sehen diese Szenarien aus?
Georgiewa:Der günstigste Fall wäre ein
V-förmiger Verlauf. Dann würde die
Krankheit einen scharfen Einbruch der
Konjunktur auslösen, der nach erfolgrei-
cher Infektionsbekämpfung von einem
ebenso kräftigen Aufschwung abgelöst
würde. Wenn es so käme, würde das Virus
nur begrenzte Schäden verursachen, so
wie es auch bei der Sars-Epidemie vor
17 Jahren war. Damals hat die Krankheit
das weltweite Wachstum um etwa 0,1 Pro-
zentpunkte verringert.
SPIEGEL:Wie wahrscheinlich ist es, dass
es diesmal ähnlich glimpflich abläuft?
Georgiewa:Für eine belastbare Prognose
ist es noch zu früh. Dieses Virus ist anders,
und China hat einen mehr als doppelt so
hohen Anteil an der globalen Wirtschaft
wie damals. Außerdem befand sich die
Weltwirtschaft 2003 mitten in einem
Boom. Heute haben wir es mit vielen Un-
sicherheiten zu tun, die das konjunkturelle
Tempo bremsen.
SPIEGEL:Die chinesische Regierung hat
drastische Maßnahmen ergriffen. Ist ihr
Krisenmanagement angemessen?
Georgiewa:China hat stark und konse-
quent gehandelt. Die Regierung tut viel,


um die Ausbreitung des Virus zu stoppen.
Außerdem hat die People’s Bank of China,
die chinesische Zentralbank, den Leitzins
gesenkt und gut 115 Milliarden Dollar an
zusätzlicher Liquidität in die Wirtschaft
gepumpt, um die Konjunktur zu stützen.
Das war richtig.
SPIEGEL:Im Herbst hat der IWF von einer
»synchronen Abkühlung« gesprochen.
Wird das Virus die Probleme verschärfen?
Georgiewa:Seit unserer letzten Prognose
gab es enttäuschende Wirtschaftsdaten aus
Ländern wie Indien, Chile oder Hongkong.
Es gab aber auch den Handelsdeal zwischen
den USA und China, der einen der größten
Risikofaktoren für die Weltwirtschaft ver-
ringert hat. Und es gab die synchronisierte
Antwort der Zentralbanken in aller Welt.
Fast 50 von ihnen haben ihre Leitzinsen in
den vergangenen Monaten gesenkt.
SPIEGEL:Eine richtige Maßnahme?
Georgiewa:Allerdings. Außerdem haben
viele Regierungen ihre Ausgaben erhöht,
um das Wachstum anzukurbeln. Auch das
war hilfreich. Sollten wir feststellen, dass
die Epidemie ernstere Konsequenzen ha-
ben wird als bislang angenommen, werden
wir koordinierte Maßnahmen ergreifen,
um die Weltkonjunktur zu stützen.
SPIEGEL:Viele Experten prognostizieren,
dass die Folgen für Deutschland und
Europa wegen der engen wirtschaftlichen
Verflechtung mit China besonders spürbar
ausfallen könnten. Sehen Sie das auch so?
Georgiewa:Zum einen müssen wir uns
alle darauf einstellen, dass unsere vernetz-
te Welt unsicherer geworden ist. Erst wa-
ren es die Spannungen im Welthandel,
dann der Irankonflikt und die Waldbrände

in Australien, jetzt ist es das Virus. Man
könnte fast sagen, Unsicherheit ist die
neue Normalität. Und zum anderen ist
Europa besonders betroffen, weil der Kon-
tinent durch vier Schwächetendenzen ge-
kennzeichnet ist: geringes Wachstum, nied-
rige Produktivität, geringe Inflation, nied-
rige Zinsen. Europa muss der Falle dieser
vier Tiefs entkommen.
SPIEGEL:Aber wie?
Georgiewa:Die EU muss sich fragen, wa-
rum die Produktivität ihrer Unternehmen
so gering ist; geringer jedenfalls als in den
USA. Wie kann es sein, dass Europa aus-
gerechnet auf jenen Feldern zurückfällt,
denen es seine wirtschaftliche Stärke ver-
dankt: Bildung und Forschung? Warum
können junge Menschen in Bulgarien oder
Frankreich heutzutage schlechter rechnen
und lesen als ihre Altersgenossen in Sin-
gapur oder Südkorea?
SPIEGEL:Die Brüsseler EU-Kommission
will vor allem die Ausgaben für Klima-
schutz erhöhen. Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen hat einen Green
Deal angekündigt, um den Kontinent bis
zum Jahr 2050 CO 2 -neutral zu machen.
Georgiewa:Ich begrüße, dass Europa eine
so starke Rolle im Kampf gegen den Kli-
mawandel spielen will. Dadurch könnte
der Kontinent erneut zum globalen Vor-
reiter werden, technologisch und wirt-
schaftlich. Der Green Deal könnte die ent-
scheidende Maßnahme sein, um die Pro-
duktivität und das Wachstum auf dem
Kontinent zu steigern.
SPIEGEL:Er ist jedoch riskant, wenn der
Rest der Welt nicht mitmacht.
Georgiewa:Das sehe ich nicht. Ich habe in
den vergangenen Monaten mit vielen poli-
tischen Entscheidungsträgern in Afrika
oder Asien gesprochen. Dabei habe ich den
Eindruck gewonnen, dass alle die Transfor-
mation in eine CO 2 -freie Wirtschaft wollen.
Wenn die reichen Länder ihnen dabei hel-
fen, werden auch die ärmeren Nationen auf
erneuerbare Energien umschalten. Kenia
zum Beispiel wollte ein neues Kohlekraft-
werk bauen, bis das Land die nötige Unter-
stützung von der Weltbank und anderen
Akteuren erhielt, um eine Alternative aus
Geothermie und Solarkraft zu entwickeln.
Das könnte künftig als Vorbild dienen.
SPIEGEL:Welche Aufgabe hat Deutsch-
land dabei?
Georgiewa:Deutschland hat das große Pri-
vileg, dass es anders als viele Länder über
erhebliche finanzielle Ressourcen verfügt.

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Wirtschaft

»Unsicherheit ist die neue Normalität«


WeltkonjunkturIWF-Chefin Kristalina Georgiewa über den Kampf gegen das Coronavirus
und Europas Chancen im Technologiewettlauf mit China und den USA

DIETER MAYR / DER SPIEGEL
Ökonomin Georgiewa
»Dieses Virus ist anders«
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