Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1
Es mangelt nicht an Geld, um eine grüne
Transformation der Wirtschaft voranzu-
bringen. Darüber hinaus müssen sich die
Regierungen in Berlin, Paris oder Brüssel
fragen, wie sie effektiver privates Kapital
mobilisieren können. In dieser Hinsicht
liegt Europa weit hinter den USA zurück.
Nötig sind Fortschritte bei der europäischen
Kapitalmarktunion und mehr grenzüber-
schreitende Fusionen im Bankensektor.
SPIEGEL:Die Welt wird von der ökono-
mischen Rivalität zwischen den USA und
China geprägt. Wie sollte sich Europa zwi-
schen den Supermächten positionieren?
Georgiewa:Europa sollte die Vollendung
der Wirtschafts- und Währungsunion in
dieser sich rasch verändernden Welt vo-
rantreiben. Nur aus einer Position der tech-
nologischen Stärke heraus kann Europa
im internationalen Wettbewerb bestehen.
Ich sehe mit Sorge, dass Europa in der
Welt der digitalen Plattformunternehmen
praktisch nicht existiert. In diesen Fragen
müssen die Regierungen in Paris, Rom,
Berlin oder Brüssel entschlossener han-
deln. Es braucht ein selbstbewussteres und
weniger zersplittertes Europa.
SPIEGEL:Die USA nehmen darauf wenig
Rücksicht. Sie wollen verhindern, dass Chi-
na zur globalen wirtschaftlichen Führungs-
macht aufsteigt, und treiben die Idee vo-
ran, sich von China komplett zu entkop-
peln. Was heißt das für Europa?
Georgiewa:Es gibt einen technologischen
Wettlauf, in dem es darum geht, die
Vorherrschaft in bestimmten Branchen

zu gewinnen. Da muss Europa versuchen
mitzuhalten. Auf der anderen Seite ist
die Weltwirtschaft derart verwoben, dass
eine ökonomische Trennung kaum vor-
stellbar ist. Würde eine Entkoppelung uns
alle wohlhabender machen? Sicherlich
nicht.
SPIEGEL:Die Globalisierung verstärkt die
Finanzverflechtungen in der Welt. Ist die
wachsende Verschuldung ein Problem?
Georgiewa:Sie kennen doch die Geschich-
te von dem Frosch und dem Kochtopf. An-
fangs mag es das Tier, wenn die Tempera-
tur des Wassers erhöht wird. Aber irgend-
wann wird die Hitze lebensbedrohlich. So
ähnlich ist es auch bei den globalen Kre -
diten. Zurzeit sind Staaten, Haushalte und
Unternehmen im Umfang von rund 188 Bil -
lionen Dollar verschuldet. Das ist mehr
als vor der globalen Finanzkrise. Dass uns
dieses Ausmaß der weltweiten Schulden
beunruhigen muss, ist offensichtlich.
SPIEGEL:In der Krise hatten alle beteuert,
die Schulden im Griff halten zu wollen.
Warum ist es anders gekommen?
Georgiewa:Zum einen sind die Zinsen
sehr niedrig, sodass es attraktiv ist, sich
Geld zu leihen. Zum anderen wächst die
Gefahr von Pleiten, weil die Geldgeber
immer riskantere Projekte finanzieren
müssen, um die gewünschte Rendite zu
erhalten. Was kann getan werden? Nütz-
lich sind Transparenz sowie gezielte Hilfen
in Niedrigeinkommensländern, die es Re-
gierungen erlauben, ihre Schuldenlast zu
verringern.

SPIEGEL:Zuletzt hat vor allem die Ver-
schuldung der Unternehmen zugenom-
men. Sind die Risiken noch beherrschbar?
Georgiewa:Was uns beruhigt, ist die Tat-
sache, dass seit der Krise Banken wider-
standsfähiger geworden sind – mit höhe-
rem Kapital und höherer Liquidität dank
der Reformen, die nach der Krise umge-
setzt wurden. Trotzdem sind die Risiken
nicht verschwunden, da Aktivitäten oft
vom Zentrum hin zu den Rändern des
Finanzsystems abgewandert sind, zu Fir-
men außerhalb des Bankensystems. Un-
ternehmensschulden, besonders in den
USA, sind ein gutes Beispiel. In Diskussio-
nen mit den internationalen Finanzauf -
sehern sind wir zu dem Schluss gekom-
men, dass wir diese Risiken überwachen
und Regulierungen gegebenenfalls aus -
weiten müssen. Wir erwarten, dass das
auf der Tagesordnung unseres Frühjahrs -
treffens in Washington stehen wird.
SPIEGEL:Und so lässt sich verhindern, dass
das Wasser für den sprichwörtlichen Frosch
zu heiß wird?
Georgiewa:Es ist ja das Charakteristikum
gradueller Veränderungen, dass niemand
genau weiß, wann die Entwicklung um-
schlägt. Gerade deshalb ist nichts so wich-
tig wie Transparenz, um das Risikoniveau
genau ermitteln zu können. Dann können
wir dem Frosch nämlich rechtzeitig sagen:
Jetzt wird es Zeit, aus dem Topf heraus -
zuspringen.
Interview: Isabell Hülsen, Michael Sauga

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 63

KEVIN FRAYER / GETTY IMAGES


Apple-Angestellter mit Schutzmaske in Peking: »China hat konsequent gehandelt«

3,8 %
3,6 %

2,9 %
2,5 %
2,2 %
1,7 %

2017 2018

2019
(geschätzt)

Quelle: IWF

Gedämpftes Wachstum
Reale Veränderung des Bruttoinlands-
produkts, jeweils gegenüber dem Vorjahr
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