Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 67


Wirtschaft

K


arstadt war mal ein Unternehmen mit Managern,
die loslegten, statt lange abzuwägen, »agil« sagt man
heute dazu. Schon 1996 starteten sie das Webkauf-
haus My-world.de und verkauften dort Bücher,
Spielzeug, sogar Lebensmittel. Nur rund fünf Prozent der
Bürger hatten damals einen Internetzugang, Surfen kostete
fünf Pfennige pro Minute, eine E-Mail zu senden anfangs
zehn Pfennige.
Erst zwei Jahre später eröffnete Amazon-Gründer Jeff
Bezos einen deutschen Ableger seines Unternehmens. Zwei
Jahre sind eine Ewigkeit in der Cyberwelt, eigentlich Zeit
genug für Karstadt, die Amerikaner auf Abstand zu halten.
Doch die Essener Pioniere verspielten ihren Vorteil.
Heute siecht Karstadt dahin, ein ewiger Sanierungsfall.
Amazon aber kontrolliert mehr als ein Drittel des Online-
handels in Deutschland. An der
Börse ist der Konzern gut eine Bil-
lion Dollar wert – und Bezos der
reichste Mensch auf Erden. Diese
Woche kündigte er an, für den
Klimaschutz zehn Milliarden Dollar
zu spenden. Das ist etwa doppelt
so viel, wie Karstadt, inzwischen
mit Kaufhof fusioniert, im Jahr an
Umsatz erzielt. Karstadt hat seine
historische Chance vertan. Aber
wieso?
Wann der Fehler unterlief, lässt
sich präzise datieren: Es geschah
vor 20 Jahren, als die Dotcom-
Blase platzte. In Deutschland hatte
das Internet einen wilden Börsen-
boom entfacht. New-Economy-
Gründer wurden gefeiert wie
Hollywood helden, sie erhielten
Fantasiebeträge nur für vage Ideen.
Goldman Sachs oder J. P. Morgan
versenkten mehr als hundert Millionen Dollar in Boo.com,
das Modeportal eines schwedischen Duos: ein Ex-Model und
ein Literaturkritiker. Ihr Businessplan umfasste fünf Seiten.
Die Onlineeuphorie verflog, als das Geld verbrannt war
und sich die Verheißung einer neuen Wirtschaft als Illusion
erwies. Am 10. März 2000 markierte der Neue Markt einen
Rekordstand – und verlor binnen eines Jahres gut 80 Prozent
an Wert. Einstige Internetstars wie Brokat, Gigabell oder
Letsbuyit.com stürzten in die Pleite.
Erst wurden sie maßlos überschätzt, dann gnadenlos ver-
spottet. Plötzlich war alles diskreditiert, was mit dem Netz
zu tun hatte. Im Internet ließ sich kein Geld verdienen, lautete
die allgemeine Parole. Das Pendel schlug ins andere Extrem
aus: Es zählte nur noch das physisch Fassbare.
Karstadt verlor alle Netzambitionen, schon im April 2000
machten die Manager ihre virtuelle Mall dicht. Sie ignorierten,
dass sich hinter allem Online-Bohei bereits die Umrisse der
heutigen Big-Data-Wirtschaft abzeichneten: mit mobilen
Anwendungen und sozialen Netzwerken, mit standortbezo-
genen Diensten und digitalem Geldtransfer. Sie wandten sich

lieber dem Vertrauten zu: den Häusern in der Fußgänger -
zone, den Scheinen in der Registrierkasse.
Damals verlor nicht nur Karstadt den Anschluss an die
digitale Welt, viele Unternehmen stutzten frustriert ihr
Onlinegeschäft zusammen. Der Handelsriese Metro verkauf-
te den Marktplatz Primus-online und später die – heute
erfolgreiche – Scout-Gruppe. Im selben Jahr schloss Bertels-
mann den Internetbuchhändler BOL Deutschland, zuvor hat-
te man in Gütersloh noch vom Börsengang geträumt.
Das Platzen der Dotcom-Blase glich für viele Unter -
nehmen einer traumatischen Erfahrung. Einige nahmen spä-
ter zwar neue Anläufe in die Digitalwirtschaft, aber sie trau-
ten sich nicht, so weit zu gehen, dass sie ihr vermeintlich
sicheres Geschäft infrage stellten. Amazon-Chef Bezos fehlte
eine solche Rückfalloption, das war sein Glück. Unbelastet
von alten Strukturen konzentrierte
er sich darauf, online schnell zu
wachsen, auch wenn die Investoren
murrten, endlich Gewinne sehen
wollten und der Aktienkurs weg-
sackte. Bezos hatte damals andere
Sorgen, so bekundete er zumindest
im Oktober 2000 gegenüber dem
SPIEGEL: »Das größte Problem
wird sein, die Innovationskraft zu
erhalten.«
Dieser Satz ist entscheidend, um
zu verstehen, warum Amazon im
Internet so erfolgreich wurde – und
Karstadt versagte. Amazon ver-
stand sich immer als Technologieun-
ternehmen, auch wenn immer noch
vom »Onlinekaufhaus« gesprochen
wird. Es ist ein Spezialist für Daten-
analyse und Software. Diese digita-
le Kompetenz nutzt es, um so viel
wie möglich über Konsumenten zu
erfahren, ihre Wünsche zu befriedigen oder überhaupt zu
wecken. Karstadt oder Metro sind dagegen Händler geblie-
ben, die das Internet bloß als zusätzlichen Vertriebskanal
betrachten. Sie erlangten nie mehr die Bedeutung wie vor
20 Jahren, vor dem Crash.
Das Tech-Trauma von einst lastet heute noch auf deutschen
Unternehmen, wenn man sieht, wie sich VW oder Daimler
abmühen, ihre Automodelle nach Tesla-Vorbild in rollende
Smartphones zu verwandeln. Wie Bezos ist auch Tesla-Chef
Elon Musk getrieben von technologischem Ehrgeiz, auch er
ließ sich vom Platzen der Internetblase nicht beirren, damals
entwickelte er den Onlinebezahldienst PayPal.
Immerhin: Nicht alle deutschen Konzerne haben sich
damals entmutigen lassen. Die Otto Group hat früh das Inter-
net entdeckt, folglich – anders als Karstadt – kontinuierlich
ins Onlinegeschäft investiert. Heute ist Otto nach Amazon
die Nummer zwei hierzulande und beschäftigt 1100 IT-Kräfte.
Die Hamburger haben die analoge Vergangenheit hinter sich
gelassen: 2018 druckten sie die letzte Ausgabe des Otto-
Ka talogs.Alexander Jung

Das deutsche Tech-Trauma


AnalyseVor 20 Jahren platzte die Internetblase. Damals schlossen Handelskonzerne wie
Karstadt und Metro ihr Onlinegeschäft. Das wird ihnen heute zum Verhängnis.

Leitindex des Neuen Markts
Nemax 50

Punkte

Quelle: Refinitiv Datastream

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(eingestellt
Dezember 2004)
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