Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1
agiert er mitunter wie ein Aktivist. Zum
Jahresende äußerte er dort seinen Wunsch
für 2020, »dass die aufrechten Demo -
kratInnen noch sichtbarer und hörbarer
werden. Sich immer wieder einmischen
und zeigen, dass die brüllenden Feinde der
Demokratie und ihrer Freiheiten in der
Minderheit sind«.
Im vergangenen Juli ging Restle so weit,
die AfD in einem »Tagesthemen«-Kom-
mentar als »parlamentarischen Arm einer
rechtsextremistischen Bewegung« zu be-
zeichnen. Wer das identitäre »Nazi-Netz-
werk« schwächen wolle, dürfe ihr keine
Stimme geben. Bei seinen linken Fans wur-
de Restle dafür gefeiert, wie so oft. Vielen
Rechten diente der Kommentar als ein wei-
terer Beweis für die hoffnungslos einseitige
Berichterstattung von ARD und ZDF.
Der harte Vorwurf berührt einen wun-
den Punkt: die Frage nach der Meinungs-
vielfalt in den Kommentaren.
In der ARD gibt es ein Ritual, das Ein-
seitigkeit verhindern soll, es ist seit Jahr-
zehnten eingeübt. Täglich um 14 Uhr be-
raten die Chefredakteure aller neun
Landesrundfunkanstalten in einer Telefon-

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 71

Rechte Ablehnung
Online-Umfrage zur Zukunft des öffentlich-
rechtlichen Rundfunks in Deutschland

AfD-Anhänger

Grünen-Anhänger

SPD-Anhänger

Civey für die Funke-Mediengruppe vom 23. Feb. bis 2. März 2018,
5034 Teilnehmer; der statistische Fehler der Ergebnisse liegt bei
rund 2,5 Prozentpunkten.

Befragte insgesamt

Befragte insgesamt

nicht abgeschafft werden

sollte abgeschafft werden

55 %


78 %


76 %


39 %


80 %


konferenz, zu welchem Thema es am
Abend in den »Tagesthemen« einen Kom-
mentar geben soll – und von wem. Weitere
Hier archen sind zugeschaltet, jede Anstalt
hat ihren eigenen Pool an Kommentatoren.
Tina Hassel, Leiterin des Hauptstadt -
studios, darf als Erste ein Thema vorschla-
gen, ARD-Chefredakteur Rainald Becker
moderiert die Runde. Dann wird gefeilscht
und abgestimmt. Entschieden wird mit ein-
facher Mehrheit, bei Gleichstand entschei-
det Becker. Den Anstalten geht es darum,
dass jede von ihnen mal zum Zug kommt.
Im Idealfall sorgt dieses System für Mei-
nungsvielfalt: Mal kommentiert ein Linker,
mal ein Liberaler, mal ein Konservativer.
Das Problem ist: Es gibt kaum konservati-
ve Kommentatoren.
Niemand kann sich darüber so leiden-
schaftlich aufregen wie »Welt«-Chefredak-
teur Ulf Poschardt. »Ich würde mir wün-
schen, dass in den ›Tagesthemen‹ auch mal
kommentiert würde, dass ein Tempolimit
eine Katastrophe wäre. Aber ich wüsste
keinen, der sich das traut.« Auch intern
hat man das Problem erkannt. Die »Tages-
themen«-Redaktion wirbt bei den Anstal-
ten inzwischen für mehr konservative und
liberale Stimmen.
Vielleicht brauchte es wieder einen wie
Sigmund Gottlieb. Allein schon, damit
man sich über ihn aufregen kann. »Dass
wir einen wie ihn nicht mehr haben, ist
ein Unglück«, sagt SWR-Chefredakteur
Fritz Frey. Er lacht. »Ich hätte nie gedacht,
dass ich das mal sagen würde.«
Gottlieb, barocke Statur, Föhnfrisur, war
22 Jahre lang Chefredakteur des Bayeri-
schen Fernsehens, Paradebayer und Reiz-
figur. In den »Tagesthemen« kommentier-
te er so nachtschwarz wie die CSU, deren
Mitglied er ist. 2017 ging er in den Ruhe-
stand. Für das Treffen hat er ein Brauhaus
in der Münchner Innenstadt ausgewählt.
Gottlieb bestellt Leberkäs. Dass mancher
einen wie ihn im Fernsehen vermisst, kann
er verstehen. Es geht ihm ähnlich. Viele

an. Das sind 86 Cent mehr als bisher. Viel
zu wenig, klagen die Anstalten, aber tat-
sächlich sind sie schon froh, dass es wohl
keine Nullrunde wird. Nun müssen noch
alle 16 Ministerpräsidenten über den Vor-
schlag befinden, dann die Landtage.
Was passiert, wenn erst mal Populisten
an der Regierung sind, kann man in Groß-
britannien sehen. Dort stellte Premier -
minister Boris Johnson die Gebührengel-
der der BBC infrage. Ein Abomodell à la
Netflix täte es doch auch. Es wäre das
Ende einer Instanz.
Wer in Deutschland nach den Gründen
für den Unmut fragt, bekommt immer wie-
der ähnliche Antworten, von rechten
Funktionären, aber auch von Zuschauern,
die sich nach Jahrzehnten vom Programm
abgewendet haben. Als Sündenfall gelten
die Flüchtlingskrise und die Kölner Silves-
ternacht 2015/16. Über Erstere sei zu
positiv berichtet worden, über die andere
zu spät. Der dritte Vorwurf: Die Bericht-
erstattung sei von Haltung statt von Fakten
getrieben. TV-Journalisten wie Dunja
Hayali oder Georg Restle, die sich mit ih-
rer Meinung exponieren, gelten in der
rechten Szene als Hassfiguren.
»AfD-Anhänger wünschen sich eine har-
te, kritische Berichterstattung, aber nur ge-
gen die sogenannten Altparteien«, sagt
ZDF-Talkerin Hayali. Spiegle man ihnen
nicht ihre eigene Meinung wider, sei man
»sofort Lügenpresse«.
»Wir wurden von der AfD und anderen
Vertretern der rechten Szene gezielt zu
Feindbildern aufgebaut«, sagt Restle, Re-
daktionsleiter des ARD-Politmagazins
»Monitor«. Es gehe darum, eine demokra-
tische Institution sturmreif zu schießen,
»stellvertretend für unsere Gesellschaft«.
Restle sieht sich gefordert. »Unser Auftrag
ist es, mit unserem Programm die demo-
kratischen Freiheiten zu verteidigen«, sagt
er. So steht es auch im WDR-Gesetz.
Restle belässt es nicht bei der Verteidi-
gung, er schaltet auf Angriff. Auf Twitter


HERBY SACHS / WDR

Moderator Restle
LENE MÜNCH / AGENTUR FOCUS

Talkerin Hayali
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