Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

einer Wohnung, in der die Möbel seit
Ewigkeiten nicht verrückt wurden. Arzt-
schmonzetten wie »In aller Freundschaft«
und »Familie Dr. Kleist« oder die Nonnen-
saga »Um Himmels Willen« laufen seit
mittlerweile fast zwei Jahrzehnten. Das
»Traumschiff« schippert seit 1981 über die
Weltmeere.
Um den Fernsehfilm steht es nicht bes-
ser. Unter den Neunzigminütern des
vergangenen Jahres findet sich, von »Tat-
orten« abgesehen, kaum einer, der die
drängenden Themen der Gegenwart ver-
handelt. Rechtspopulismus, Einwande-
rung, digitaler Umbau der Gesellschaft: Es
wirkt, als hätten die Programmverantwort-
lichen die Devise ausgegeben, alle The-
men, die Ärger bringen könnten, zu ver-
meiden. Die Gesellschaft fiebert, die Öf-
fentlich-Rechtlichen verabreichen ihr ein
Placebo und erzählen ihr eine Gutenacht-
geschichte: Alles wird gut.
Die Harmoniesucht ist nicht nur im Pro-
gramm zu spüren, sondern auch in den
Anstalten selbst. Wenn die Fernsehdirek-
tion des Hessischen Rundfunks zusam-
menkommt, befindet sich in der Mitte des
Raums ein Buzzer aus einer Spielshow des
Senders. Der kann gedrückt werden, wenn
man sich von den Beiträgen eines Ge-
sprächspartners bedrängt, gedemütigt
oder gestört fühlt.
Wie Teilnehmer berichten, wird der
Buzzer selten betätigt, da Diskutanten
kontroverse Themen lieber gleich aus -
sparen. Niemand will von Kollegen weg-
gebuzzt werden. Aber wie soll ein Sender,
dessen Verantwortliche nicht einmal un-
tereinander Streit austragen können, dem
Dauerbeschuss von rechts standhalten?
Während in den Anstalten die Gemüt-
lichkeit zelebriert wird, rütteln die Feinde
der Öffentlich-Rechtlichen schon an den
Toren. Es war Anfang Januar, als eine
Gruppe von Demonstranten vor dem
SWR-Funkhaus in Baden-Baden auf -
marschierte, unter ihnen der Freiburger


AfD-Stadtrat Dubravko Mandic. Anlass
war das »Umweltsau«-Video, aber eigent-
lich ging es gegen das ganze System. Man-
dic brüllte in ein Mikrofon, man werde die
Mitarbeiter des Senders »aus ihren Redak-
tionsstuben vertreiben«. Das sei »erst der
Anfang des Sturms«. Nach einem Rüffel
durch die Parteispitze entschuldigte er sich
in einer E-Mail an den Sender für Auf -
treten und Wortwahl, fügte aber hinzu, er
wolle den Rundfunkbeitrag noch immer
abschaffen.
Es gibt zwei Strategien im Umgang mit
Hass und Kritik. Die eine lautet: kämpfen,
streiten, verteidigen. Es ist die Methode
Restle. Die andere Strategie: sich nicht aus
der Ruhe bringen lassen, seinen Job ma-
chen, und den gut.
Kai Gniffke bevorzugt Variante zwei.
»Ich neige zur Gelassenheit«, sagt er. Es
ist Mitte Januar, Gniffke sitzt in seinem
Büro mit Blick auf die Stuttgarter Wein-
berge. Seit September ist er Intendant des
SWR, davor war er in Hamburg 14 Jahre
lang Erster Chefredakteur von »ARD ak-
tuell«. Gniffke sagt, er habe überlegt, ob
er auf das Gebrüll des AfD-Stadtrats Man-
dic reagieren müsse. »Ich kam zu dem
Schluss: muss ich nicht.« Den SWR-Re-
daktionen habe es freigestanden, über die
Kundgebung zu berichten, wie über ande-
re Demonstrationen auch. »Das genau ist
der Lackmustest, ob wir unser Handwerk
verstehen: Wir sind Berichterstatter, keine
Aktivisten.«
Er habe Verständnis für Kollegen, die
sich darüber definieren, aufrechte Demo-
kraten zu sein. »Aber wir dürfen die Be-
drohung nicht überdramatisieren. Wenn
Mitarbeiter sagen, wir müssen etwas tun
gegen unsere Feinde, dann sage ich: Wir
als Haus haben keine Feinde. Ich habe
auch kein Bedürfnis, in so eine Märtyrer-
rolle zu kommen.« Gniffkes Überzeugung:
Die Leute sollten darauf vertrauen können,
»dass wir ihnen keine Botschaften unter-
jubeln, und seien sie noch so gut gemeint«.

Die Frage ist, ob das reicht. Ihre schärfs-
ten Kritiker erreichen die Öffentlich-Recht-
lichen über die klassischen Kanäle längst
nicht mehr. Sie schauen keine »Tages-
schau«, kein »heute journal«. Sie treiben
sich vor allem auf YouTube herum, wo Ver-
schwörungstheoretiker und Systemfeinde
ihr eigenes Fernsehprogramm machen.
Auch ARD und ZDF sind dort vertreten,
mit dem Jugendangebot »funk«. Und viel-
leicht ist es kein Zufall, dass hier die größte
Annäherung an jene Klientel stattfindet,
die sich sonst kaum von den Sendern an-
gesprochen fühlt.
Bei »funk« sendet nämlich auch Fran-
ziska Schreiber, 29, die öffentlich-recht -
liche Figur mit der wohl wunderlichsten
Karriere. Schreiber war die rechte Hand
der damaligen AfD-Chefin Frauke Petry,
2017 brach sie mit der Partei und tingelte
fortan als prominente »Aussteigerin«
durch die Talkshows. Jetzt ist sie Teil des
Systems, das ihre Ex-Parteifreunde be-
kämpfen. Für »funk« soll sie als Brücken-
bauerin agieren. Es ist ein Experiment,
und es sagt viel über ARD und ZDF aus,
dass es nicht im Hauptprogramm statt -
findet, sondern in der Nische.
Der Anspruch der Öffentlich-Recht -
lichen müsse es sein, AfD-Wähler »aus den
Fängen von Fake-News-Bubbles zu befrei-
en«, sagt Schreiber. Ihre Videos tragen rei-
ßerische Titel, die nach rechtsextremem
Inhalt klingen: »Links-Versifft?«, »Seid
stolz auf Schwarz-Rot-Gold« oder »Wa-
rum Feminismus peinlich und nutzlos ist«.
Der Inhalt ist mal konservativ, mal liberal,
meistens harmlos.
Wenn es in der ARD so etwas wie einen
neuen Sigmund Gottlieb gibt, dann am
ehesten Schreiber. Sie versucht das, woran
ARD und ZDF sonst scheitern: die rechte
Blase zu durchstechen.
Christian Buß, Alexander Kühn,
Ann-Katrin Müller, Anton Rainer,
Christoph Schult

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020 73

FELIX ADLER

Aussteigerin Schreiber
DIRK BRUNIECKI / DER SPIEGEL

Ruheständler Gottlieb
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