Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

8


Das Staatsversagen


LeitartikelHanau zeigt: Deutschland hat ein massives Naziproblem.
Es wurde zu lange bagatellisiert.

D


ie Bundesrepublik Deutschland hat sich beim Ter-
roranschlag in Hanau wieder mal wehrlos gezeigt.
Eigentlich hätte der Kampf gegen Rechtsextremis-
mus und Nationalsozialismus Teil der Staatsräson
sein müssen, aber das ist er bis heute nicht. Was Deutsch-
land betrifft, ist vieles verzeihlich, aber nicht Nachlässigkeit
beim Kampf gegen Neonazis und rechte Gewalt. Ein Land,
das getrieben von nationalsozialistischer Ideologie die hal-
be Welt in Brand gesteckt und sechs Millionen Juden auf
dem Gewissen hat, sollte zumindest eines sicherstellen:
dass rassistisches Denken auf deutschem Boden nicht mehr
gedeihen kann. Und erst recht keine Opfer mehr fordert.
Die deutsche Realität aber sieht so aus: Fast hundert
Menschen starben laut Bundesregierung seit 1990 durch
rechte Gewalttäter. Die Amadeu
Antonio Stiftung zählt sogar
doppelt so viele. Seit Mittwoch,
seit dem Massaker von Hanau,
sind es zehn Opfer mehr.
Parallel formieren sich immer
mehr rechtsextreme Organisa -
tionen im Lande.
Die lange Liste an rechtsextre-
men Taten aus jüngster Vergan-
genheit ist ein Dokument der
Schande. Sie reicht von den
Attentaten auf Henriette Reker
und Walter Lübcke über den
neunfachen Mord im Münchner
Olympia-Einkaufszentrum und
das versuchte Massaker in
einer Synagoge in Halle bis zum
Attentäter von Hanau. All
diese Taten wurden in den ver -
gangenen fünf Jahren verübt –
und es sind nur die bekanntesten.
Mehr oder weniger ungestört
entfalteten sich seit 1998 zudem
unzählige Gewalt- und Terrorgruppen. Sie nennen sich
»Nationalsozialistischer Untergrund«, »Gruppe Freital«,
»Revolution Chemnitz«, »Combat 18« oder eine
gerade erst aufgeflogene Organisation, »Gruppe S«.
Es sind Gespenster aus dunkler Vergangenheit.
Gedeihen konnten sie unter den Bedingungen der deut-
schen Gegenwart.
Zu diesen Bedingungen zählen Sicherheitsbehörden, die
sich dem Kampf gegen allerhand Extremisten widmeten,
vor allem den islamistischen, und darüber den hausgemach-
ten Terror fast vergaßen. Dass Deutschland ein gehöriges
Naziproblem hat, wurde von den Diensten und ihren Aufse-
hern in der Politik viel zu lange ignoriert, die Gefahr baga-
tellisiert. So ist die Renaissance des rechten Terrors in erster
Linie ein Staatsversagen. Niemand verkörpert dieses

anschaulicher als Hans-Georg Maaßen. Die Dienste waren
schon vor dessen Berufung zum Verfassungsschutzpräsiden-
ten falsch ausgerichtet. Mit Maaßen aber stand sechs Jahre
lang ein Mann mit Faible für rechte Verschwörungstheorien
an der Spitze, der sich offenkundig von Linken und Islamis-
ten verfolgt fühlt. Und kaum jemanden störte es.
Das Wiedererstarken des Rechtsextremismus wurzelt
aber auch im politischen Diskurs dieses Landes. Viele
Medien, Politiker und Sicherheitsbeamte debattieren seit
Silvester über den Leipziger Stadtteil Connewitz, als
wären die dort pöbelnden Linksextremen die größte Bedro-
hung. Das wirkt nicht erst seit Hanau wie ein übler Scherz.
Es zeugt von der Unreife, eine ernste von einer geringeren
Gefahr für den inneren Frieden zu unterscheiden.
Dass rassistische und völkische
Gedanken wieder salonfähig
wurden, dafür hat die AfD
gesorgt. Zwei Tage vor Hanau
beschwor Björn Höcke bei Pegi-
da in Dresden erneut den »gro-
ßen Kampf«, den man gemein-
sam »durchstehen« und »sieg-
reich beenden« müsse. Es mag
keinen direkten Nachweis geben,
dass Attentäter von Höcke oder
dessen Gesinnungsbrüdern zur
Tat motiviert wurden. Ihr Rassis-
mus ist dagegen eindeutig. Und
indem sie die Bundesrepublik als
krankes System verhetzen, gegen
das man sich zur Wehr setzen
müsse, erzeugen sie ein Klima
des Ausnahmezustands, das
Gewalt als Akt der Notwehr legi-
timiert. Wir sollten diesen Brand-
stiftern nicht nur mit Argumen-
ten begegnen, sondern mit allen
Mitteln des Staatsschutzes.
Gefordert sind auch wir, die Bürgerinnen und Bürger.
Von den Relativierern des Rechtsextremismus wird gern
behauptet, dass es sich ja um Einzeltäter handle. Und
dass man nicht in jeden wirren Kopf blicken könne. Das
ist einerseits richtig. Andererseits hat jeder Einzeltäter
Familie, Freunde, Nachbarn oder Kollegen. Jeder von
denen trägt eine Mitschuld, weil er womöglich Zeuge von
menschenfeindlichem Gerede wurde – und nicht energisch
widersprochen oder keinen Hinweis an die Behörden ge -
geben hat, dass hier eine Hitlerkopie heranreifen könnte.
Der Terror von Hanau ist eine Verpflichtung für uns alle.
Gemeinsam müssen Politiker, Beamte und Bürger endlich
jenes Versprechen einlösen, das das erste Anliegen eines
deutschen Staates sein muss: Nie wieder!
Markus Feldenkirchen

PATRICK HERTZOG / AFP / GETTY IMAGES
Spurensicherung an Tatort

Das deutsche Nachrichten-Magazin

DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020
Free download pdf