Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1
Ausland

I


n einer dieser sonderbaren Nächte,
in denen sie sich nicht mehr sicher
ist, ob das da draußen überhaupt ihr
Land ist, blickt Karina Esayag aus
ihrem Loungesessel in eine Menge schwit-
zender Körper. Es ist Donnerstagabend,
und vor Esayags Augen schieben sich jun-
ge Menschen zu elektronischen Beats über
die Open-Air-Tanzfläche von El Bar. Auf
den Tischen um sie herum schimmern
Eimer, die Champagner kühlen, importier-
te Weine und Rum. Irgendwo nippt eine
Miss Universe an ihrem Cocktail.
Esayag reibt sich die Augen.
Ist das wirklich Venezuela?
»Es ging alles so schnell«, sagt sie.
Esayag ist um die 60, eine Frau mit lan-
gen Haaren und aufgespritzten Lippen. Bis
vor Kurzem hat sie Hochzeiten geplant.
Dann hörte sie, dass das Interconti einen
Pächter für seine seit Jahren geschlossene
Hotelbar suchte. Esayag tat sich mit ein
paar Freunden zusammen. Sie strichen die
vergilbten Wände, und am 1. April des ver-
gangenen Jahres eröffneten sie.
»Es war magisch«, sagt Esayag. »Die
ganze Stadt war finster, weil es mal wieder
keinen Strom gab, aber hier oben schnurr-
te unser Generator. Es fühlte sich an, als
würde eine neue Zeit anbrechen. Wir Ve-
nezolaner sind heute egoistischer. Wir wol-
len jetzt etwas erleben.«
Esayag ist nicht die Einzige in Caracas,
die so denkt. Im Wochenrhythmus eröff-
nen in der Hauptstadt Bars und Klubs, in
denen Besucher ihre Dollars ausgeben. In
Vierteln wie La Castellana oder Las Mer-
cedes gibt es schicke Restaurants, Bou -
tiquehotels und Designerläden, die Mode
aus der ganzen Welt anbieten. In den
gepflegten Regalreihen Hunderter neuer
Importläden stehen Produkte, die jahre-
lang nur schwer zu finden waren: Pista-
zien, Pringles, Spülmittel von Palmolive.
Oder Nutella, das für viele das Symbol des
Aufschwungs geworden ist.
Während noch immer Millionen Vene-
zolaner Hunger leiden, während das Trink-
wasser knapp ist und sich der Staat in wei-
ten Landesteilen aufgelöst hat, fahren im-
mer mehr Fabriken ihre Kapazitäten lang-
sam wieder hoch. Ron Santa Teresa, der
größte Rumhersteller des Landes, hat sich
im Januar zum ersten Mal seit elf Jahren
an der Börse Kapital beschafft. Zuletzt gab
es Events, auf denen man die Oscarverlei-
hung gucken konnte oder den Super Bowl.


Wenn dieser Tage das berühmte DJ-Duo
Claptone im Marriott auflegt, kostet ein
Tisch in der Nähe ihres Pults 2500 Dollar.
An vielen Ecken in Caracas wirkt es, als
hätte ein Fieber die Stadt erfasst. Selbst
die »New York Times« fragte angesichts
dieses anbrechenden Booms, ob die Revo-
lution damit Vergangenheit sei.
Hinter Venezuela liegen zwei chaoti-
sche Jahrzehnte, in denen die Präsidenten

Hugo Chávez und Nicolás Maduro das
Land in einen Sozialismus des 21. Jahrhun-
derts führen wollten. Inspiriert von Fidel
Castro verstaatlichten sie private Unter-
nehmen, sie legten Niedrigpreise für zahl-
lose Produkte fest und beschränkten den
Zugang zu Devisen, was den Import aus-
ländischer Waren bremste. Vor allem nach
Chávez’ Tod steuerte das Land in den
Ruin.

Das Ende der Revolution


VenezuelaDas Land stand kurz vor dem Bankrott, jetzt eröffnen in der Hauptstadt Restaurants


und Klubs. Vom Aufschwung profitiert allerdings nur eine kleine Elite. Von Marian Blasberg


82 DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020

Free download pdf