Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

Seit Maduro 2013 die Amtsgeschäfte
übernahm, ist die Wirtschaft um mehr als
die Hälfte geschrumpft. Während Tausen-
de Privatbetriebe dichtmachten, wurden
die großen Staatsfirmen durch Miss -
management und Korruption zerrieben.
Innerhalb weniger Jahre fiel die Ölförde-
rung von 2,5 Millionen Barrel täglich auf
heute etwa 750 000. Zeitgleich kollabierte
der weltweite Ölpreis. Es war, als hätte
jemand dem Land das Beatmungsgerät
abgeschaltet.
Maduro fehlte nun das Geld für die von
Chávez geschaffenen Sozialprogramme,
es fehlte Geld für Lebensmitteleinfuhren,
die die Bevölkerung ernährten. Es fehlten
Klopapier und Medizin, und in den Kran-
kenhäusern starben Frühgeborene, weil
der Strom ausfiel. Mehr als vier Millionen
Menschen flüchteten, und diejenigen, die


blieben, verloren im Schnitt sechs Kilo-
gramm an Gewicht.
Vor allem aber sahen sie sich einer Wäh-
rung ausgeliefert, die jeden Tag an Wert
verlor. Im vorigen Jahr lag die Inflations-
rate nach offiziellen Angaben bei 500 000
Prozent. Als Schmuggler damit begannen,
Lkw-Ladungen wertloser Bolívar-Scheine
in Kolumbien als Papier zu verramschen,
ließ Maduro Lesegeräte für EC-Karten
verteilen, aber auch der bargeldlose Zah-
lungsverkehr stieß wegen der wiederhol-
ten Stromausfälle an Grenzen.
Etwa in der Zeit, als Esayag die Bar er-
öffnete, kam das Land zum Stillstand. Für
einen kurzen Augenblick sah es so aus, als
würde Maduro tatsächlich fallen. Der jun-
ge Oppositionspolitiker Juan Guaidó, der
Maduro die Legitimität abspricht, hatte
sich unter Berufung auf die Verfassung

zum Interimspräsidenten erklärt. Nach-
dem ihn mehr als 50 Staaten anerkannten,
darunter Deutschland und die USA, suchte
Guaidó als Anführer von Massenprotesten
den Showdown auf der Straße. In diesen
Wochen, als die Welt die Generäle zählte,
die sich öffentlich zu Guaidó bekannten,
muss bei Maduro ein Umdenken begon-
nen haben.
Die Veränderungen kamen schleichend.
Erst lockerte er die Wechselkurse. Dann
hob er die Preiskontrollen auf. Privat -
firmen, die importieren wollten, lockte er
mit Steuerprivilegien. Keine dieser Maß-
nahmen wurde offiziell verkündet, aber
es zeichnete sich ab, dass Maduro seine
Rettung auf dem freien Markt suchte. In
den Geschäften füllten sich die Regale.
Händler stellten Schilder auf, dass man
mit Dollar zahlen könne. Im November
erklärte Maduro im Fernsehen, dass dieser
Prozess für ihn nichts Schlechtes sei.
In den Straßen von Caracas leuchteten
bald zum ersten Mal seit Jahren wieder
die Weihnachtslichterketten.
Der Soziologe Trino Márquez glaubt,
dass der Aufschwung nur in einer Blase
stattfindet und maximal 10, 15 Prozent der
Bevölkerung erreicht. Auf den Armen -
hügeln in der Hauptstadt und draußen in
den Provinzen, sagt Márquez, hätten Mil-
lionen Menschen keinen Zugang zu der
neuen Dollar-Wirtschaft. Juan Guaidó, der
gerade von einer Reise zurückgekehrt ist,
die ihn nach Davos und Washington führ-
te, glaubt, die Diktatur verkaufe eine Illu-
sion. Dass Maduro diese Maßnahmen er-
greift, sei im Grunde nur das Eingeständnis
seines Scheiterns.
Die meisten Venezolaner sind noch im-
mer auf Lebensmittelspenden angewiesen,
oder sie verdienen einen monatlichen Min-
destlohn, von dem sie sich in Esayags Bar
einen halben Mojito leisten könnten. Auch
wenn mithilfe chinesischer und russischer
Firmen die Ölproduktion stabilisiert wur-
de, sagen Ökonomen für 2020 ein er -
neutes, wenn auch geringeres Schrumpfen
der Wirtschaft voraus. Dennoch tut sich
Guaidó schwer, aus der Misere Kapital zu
schlagen. Mit jedem Dollar, der ins Land
kommt, scheint der Widerstand gegen Ma-
duro zu bröckeln.
Das also ist die Lage in Venezuela: Wäh-
rend die Vereinten Nationen schätzen,
dass sieben Millionen Menschen auf hu-
manitäre Hilfe angewiesen sind, sind SUVs
von Toyota das dritthäufigste Importpro-
dukt im wichtigsten Hafen des Landes.
»Different toilet, same shit.«
So sagt es Iván García, ein hochgelobter
Koch, der das hippe Restaurant El Bosque
führt, moderne venezolanische Küche, das

ADRIANA LOUREIRO FERNANDEZ / DER SPIEGEL

Nachtklubbesucher in Caracas
»Wir Venezolaner wollen jetzt etwas erleben«

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