Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1
Ausland

Menü für 120 Dollar. García ist erst 25 Jah-
re alt, aber sein Leben könnte bereits Bü-
cher füllen.
»Ich würde lügen, wenn ich sagte, es
läuft schlecht«, sagt er mit offenem Lä-
cheln auf der Terrasse seines Restaurants.
García war noch in der Ausbildung, als ein
Mann namens Miguel Henrique Otero auf
sein Talent aufmerksam wurde. Henrique
ist Herausgeber der oppositionellen Tages-
zeitung »El Nacional«, er wollte ihn als
Privatkoch einstellen. García setzte sich
über die Zweifel seiner Mutter hinweg,
einer glühenden Chavista, und wurde zum
Koch der Opposition. Später machte er
sich selbstständig. »Ich liebe mein Land«,
sagt er. »Ich will hier mein Leben aufbau-
en. Was bringt es, auf eine Zukunft zu war-
ten, die eh nicht eintritt? Maduro ist wie
eine Katze mit sieben Leben.«
García glaubt, seine Generation habe
sich müde protestiert. Er selbst war einmal
bei einer Kundgebung von Guaidó. Das
Kochen, glaubt er, sei der wirkungsvollere
Protest. Es gibt den guten Leuten einen
Grund, das Land nicht zu verlassen.
Die Guten, das sind für García im Zwei-
fel eher Leute mit altem Geld, nicht dieses
neureiche, regierungsnahe, Ralph-Lauren-
Gucci-Bling-Bling-Volk, das in Läden wie
dem Anónimo die Zehn-Liter-Champa-
gner-Flaschen mit einem Tischfeuerwerk
entkorkt oder im Moreno den geschlosse-
nen VIP-Raum bucht, wo niemand fragt,
ob ein Zusammenhang besteht zwischen
ihrem Luxusleben und der Armut draußen
im Land.
Es ist die große Frage, die immer im
Raum steht: Wie vernetzt ist einer in der
Regierung, wer sind die Investoren hinter
einem Business. Die Besitzerin des Laden-
lokals, das er mietet, ist die Schwägerin
der aktuellen Vizepräsidentin. Man müsse
sich irgendwie durchschlagen, sagt García.
Sonst geht es einem so wie jener Köchin,
die einen ranghohen Chavista aus ihrem
Restaurant warf. Tags darauf saß sie im
Knast.
Wer in Caracas Geschäfte machen will,
muss sich auf die Profiteure der Revolu -
tion einlassen, die in den Jahren der fetten
Ölpreise fantastische Reichtümer ange-
häuft haben. Sie haben die Stadt unter
sich aufgeteilt. Auf 136 Milliarden Dollar
schätzt die Zentralbank die Einlagen ve-
nezolanischer Sparer im Ausland. Seit die
USA Mitglieder der politischen und mili-
tärischen Elite mit Sanktionen belegt ha-
ben, fließen große Teile dieser Vermögen
wieder zurück ins Land. Jetzt, da das
echte Miami für sie unerreichbar ist, wirkt
es so, als bauten sie sich kurzerhand ein
eigenes.
Ihr Geld ist der Treibstoff dieses Booms,
und das Unbehagen, das Leute wie García
manchmal spüren, kommt daher, dass es
vielfach aus dunklen Quellen stammt. Aus


Korruption, dem Drogenhandel oder ille-
galen Goldminen. Einmal in der Woche,
erzählt man sich in den Klubs, lande ein
aus Russland kommender Jumbojet in
Caracas, der frische Dollar-Noten bringe.
Durch Investitionen in Hotels und Restau-
rants kann man sie waschen.

Inzwischen seien mehr Dollarim Um-
lauf als Bolívar, sagt der renommierte Wirt-
schaftsprofessor Pedro Palma. Viele Fir-
men bessern die schmelzenden Bolívar-
Gehälter ihrer Angestellten immer häufi-
ger mit Dollar-Boni auf. Dazu kommen
3,5 Milliarden Dollar, die ausgewanderte

Venezolaner ihren Familienangehörigen
überweisen, damit sie über die Runden
kommen. Es entbehre nicht einer gewissen
Ironie, sagt Palma, dass ausgerechnet die,
die am verzweifeltsten gewesen seien, Ma-
duros Regime am Leben hielten.
Mehr als die Hälfte aller Venezolaner,
schätzt Palma, haben heute Zugang zu
Dollars, aber die Waren in den Schaufens-
tern der Importläden sind für die meisten
unerreichbar. Acht oder neun Dollar kos-
tet ein Glas Nutella, zwei Mindestlöhne,
und der Grund dafür liegt auf der Hand.
Die Importeure kaufen die Produkte in
der Regel in den USA bei Walmart oder
bei Amazon. Sie zahlen Verbraucherprei-
se. Dazu kommen Mittelsmänner, die die
Waren lagern und von Florida nach Vene-
zuela verschiffen, Abgaben am Zoll, Trans-
portkosten, die Ladenmiete, die Löhne der
Verkäufer.
»Neun Dollar für ein Glas?«

Fagil Mercado winkt lachend ab.
Mercado ist ein untersetzter, 60-jähriger
Mann mit dicken Brillengläsern, den man
vor einem Supermarkt in Katia trifft,
einem Stadtviertel außerhalb der Blase.
Seit er vor 40 Jahren vor der Gewalt in
seiner Heimat Kolumbien floh, hat sich
Mercado in Caracas eine bescheidene Exis-
tenz als Schweißer aufgebaut. Er lebt in
Petare, einem riesigen Armenviertel, er
hat sechs Kinder großgezogen, Chávez ge-
wählt, aber jetzt kommt er langsam nicht
mehr mit.
Kaum ein Jahr ist es her, dass er vor
Supermärkten Schlange stand. Dann, im

Sommer, nachdem die Fixpreispolitik
schleichend beendet wurde, lösten sich die
Schlangen plötzlich auf. Bei ihm im Makro
kosteten die Dinge plötzlich das Dreifache.
Auch Mercado blieb zu Hause, er stellte
seine Ernährung auf eine Mahlzeit täglich
um. Dann aber hörte er von diesem Laden
in Katia, der aus Gründen, die er nicht ver-
steht, billige Massenware einheimischer
Bauern anbietet.
Also hat er sich am Morgen mit seiner
Frau ins Auto gesetzt und ist einmal quer
durch die Stadt gefahren.
Jetzt steht er wieder Schlange.
»Es ist ein Tagesausflug«, sagt Mercado.
»Aber es lohnt sich.«
Im Erdgeschoss des Hauses, in dem er
mit seiner Familie lebt, haben sie einen
kleinen Laden. Sie verkaufen Schulhefte
und Stifte, China-Zahnpasten und China-
Shampoos. Der Laden ist der Hauptgrund,
weshalb Mercado heute in Katia ist. Er

84 DER SPIEGEL Nr. 9 / 22. 2. 2020


MERIDITH KOHUT / THE NEW YORK TIMES / LAIF
Bewohner von Caracas 2017: Die Menschen nahmen im Schnitt sechs Kilogramm ab
Free download pdf