Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

will einen Palettenstapel mit 360 Eiern
kaufen. Hier zahlt er 10 Cent für das Ei.
Oben in Petare, sagt er, kann er 15 ver -
langen.
18 Dollar Gewinn macht er so in einer
Woche. Das ist Mercados Wirklichkeit.
Man versteht das, wenn man ihn wenig
später durch den Laden streifen sieht. Wie
er sich über die Auslagen beugt, wie er Bo-
lívar- und Dollar-Preise abwägt, wie er im-
mer wieder Zahlen mit vielen Nullen in
sein Telefon tippt. In Mercados Wirklich-
keit machen Centbeträge einen Unter-
schied, und manchmal kommt es einem
vor, als wäre er so beschäftigt mit dem


Rechnen, dass er das große Ganze aus dem
Blick verliert.
Einmal, sagt Mercado, habe ihn die Neu-
gier in einen der Importläden getrieben.
Um nicht wie einer dieser Windowshop-
per dazustehen, kaufte er für einen Dollar
Schokolade. Es war sein Stück vom Boom.
Wie mehr als die Hälfte aller Venezola-
ner meint auch Mercado, dass es langsam
bergauf gehe mit der Wirtschaft. Es ist vor
allem ein Gefühl. Auch wenn sie nichts
kaufen können, sehen sie die Produkte in
den Läden. Viele glauben, es sei nur eine
Frage der Zeit, bis sie vom Aufschwung
profitierten. Andere, sagt der Soziologe
Márquez, hätten die neue kapitalistische
Logik so verinnerlicht, dass sie die Schuld
für ihr Scheitern nicht mehr bei der Regie-
rung suchten, sondern bei sich selbst.
Das ist der Grund, weshalb Maduro pro-
fitiert, auch außerhalb der Blase. Für Juan
Guaidó liegt darin ein Problem.


Guaidó ist ein großgewachsener Mann
mit weichen Gesichtszügen. Seine Augen
haben noch immer dieses ungläubige Stau-
nen, wenn er von seinen Begegnungen mit
Trump und Merkel spricht. Weil Maduros
Leute während seiner Abwesenheit Guai-
dós Büro stürmten und unter anderem
Computer konfiszierten, empfängt er nun
in den Räumen eines Abgeordnetenkolle-
gen. Um keine Zweifel aufkommen zu
lassen, dass hier der wahre Präsident von
Venezuela spricht, stellt ein Mitarbeiter
schnell noch eine Flagge auf.
Guaidó beugt sich vor. »Vor drei Tagen
ist ein Freund gestorben«, sagt er. »An

einer Lungenentzündung. Er hatte Dollar,
aber sie nutzten ihm nichts. Die Ärzte fan-
den keine Antibiotika.«
Dann holt er sein Handy aus der Tasche,
um ein Video zu zeigen, das er kürzlich in
La Guaira aufgenommen hat, seinem
Wohnort, eine halbe Stunde außerhalb
von Caracas. Auf den Bildern sieht man
verzweifelt flehende Menschen, die in
ihren Häusern seit Monaten kein Wasser
haben. Jeden Tag, sagt Guaidó, liefen sie
kilometerweit durch die Natur, um es sich
aus Wildbächen zu besorgen. An anderen
Orten kochten sie wieder mit Holz, weil
es an Gas fehle. In Puerto Ordaz, im Osten,
gebe es Geschäfte, wo man beim Bezahlen
Gold auf eine Waage lege.
»Wie im 18. Jahrhundert«, sagt Guaidó,
und dazu passt die Meldung aus dem Städt-
chen Cagua, wo Ende Januar elf Kinder
umgekommen sind, als sie auf einem Zu-
ckerrohrfeld von einem Feuer überrascht

wurden. Die Jungen waren dort, um Ka-
ninchen zu jagen. Freddy Bernal, Maduros
früherer Agrarminister, hatte mal erklärt,
solche Kaninchen seien keine Haustiere.
Sondern zweieinhalb Kilogramm Protein.
Es ist nicht so, dass Guaidó etwas gegen
die Währung der Amerikaner hätte, aber
er glaubt, dass Dollars allein keine Lösung
sind. »Wir werden sehen, dass die Un-
gleichheit auf beispiellose Weise wachsen
wird. Wir werden soziale Spannungen er-
leben«, sagt er. Die Konfliktlinie werde da-
bei nicht mehr zwischen rechts und links
verlaufen. Es wird um den Zugang zu De-
visen gehen. Um eine kleine Minderheit,
die sich in einem komfortablen Leben ein-
richtet, und den großen, abgehängten Rest.
Auch wenn Guaidó aus allen Umfragen
noch immer als beliebtester Politiker her-
vorgeht, ist es möglich, dass Maduro die
vollen Regale nutzen wird, um noch in die-
sem Jahr Präsidentschaftswahlen auszu -
rufen. Guaidó sagt, er würde kandidieren,
wenn Maduro unabhängige Beobachter
ins Land lasse, die dafür sorgten, dass die
Abstimmung mit rechten Dingen zugehe.
Das Problem ist, dass die Medien in Ve-
nezuela kaum noch frei sind. Es gibt keine
unabhängigen Gerichte. 35 Abgeordnete
sind laut Guaidó ins Exil geflohen, eine
NGO zählt 350 politische Gefangene. Vor
allem aber hat das Land ein Militär, das
alles kontrolliert, was Einnahmen ver-
spricht: die Grenze zu Kolumbien, durch
die das Kokain geschleust wird, Flug- und
Seehäfen, illegale Goldminen im Amazo-
nasgebiet, Ölexporte und Lebensmittel -
importe. Wer die Konflikte Venezuelas lö-
sen will, müsste die Generäle überzeugen,
dass es sich in einem Rechtsstaat besser
lebt.
Guaidó hatte den Militärs voriges Jahr
zwar Straffreiheit zugesichert, scheiterte
aber dennoch mit dem Versuch, sie auf sei-
ne Seite zu ziehen. In den nächsten Tagen,
sagt er, würden Europa und die USA neue
Sanktionslisten verkünden, aber es ist frag-
lich, dass sich dadurch etwas ändern wird.
Schon im vergangenen Sommer weichte
US-Präsident Donald Trump die von ihm
verhängten Restriktionen auf, indem er
fünf amerikanischen Konzernen per Son-
dergenehmigung den Handel mit venezo-
lanischem Öl weiter gestattete. Im Novem-
ber sah man seinen Vertrauten Erik Prince
in Caracas beim Dinner mit Maduros Stell-
vertreterin Delcy Rodríguez.
Die Lage in Venezuela, so sieht es aus,
ist nicht günstig für Guaidó. Kein einziges
Gesetz regelt die neue Cashwirtschaft. Ma-
duro lässt die Dinge einfach laufen, aber
die Frage ist, wie lange noch. Kurz nach
dem Treffen mit Guaidó erklärte er den
Dollar zu einer vorübergehenden Maßnah-
me in einer Kriegswirtschaft.
Mail: [email protected]

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ADRIANA LOUREIRO FERNANDEZ / DER SPIEGEL
Besucher eines Edellokals: Sie bauen sich ein eigenes Miami
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