Der Spiegel - 22.02.2020

(C. Jardin) #1

Damals gingen Zehntausende aus Pro-
test auf die Straße, Premier Robert Fico
musste zurücktreten, weil er wie kein an-
derer das verfilzte System verkörperte.
Smer stürzte in Umfragen ab, ein liberales
Bündnis um die Partei »Progressive Slo-
wakei« gewann die Europawahl, ihre Kan-
didatin Zuzana Čaputová, Feministin und
Umweltanwältin, wurde zur Präsidentin
gewählt.
Eine Zeit lang sah es so aus, als würde
das Entsetzen über den Mord vor allem
die europafreundlichen Kräfte stärken, je -
ne, die die Slowakei zu dem Land machen
wollen, für das es im Westen schon lange
gehalten wird. »Doch nun zeigt sich: Es
profitiert vor allem die extreme Rechte«,
sagt der Politologe Grigorij Mesežnikov.
Einig ist sich die slowakische Gesell-
schaft – das zeigen Umfragen – lediglich
in einem: Das Land braucht Reformen, die
Verfilzung aus den Smer-Jahren muss be-
endet werden. Zugleich ist es den liberalen
Kräften nicht gelungen, sich als Sachwalter
von mehr Transparenz und Gerechtigkeit
zu etablieren.
Da gibt es etwa Michal Truban, IT-Un-
ternehmer und Spitzenkandidat der »Pro-
gressiven Slowakei«, der vor allem bei
städtischen Wählern gut ankommt. Außer-
halb Bratislavas aber, im Osten des Landes,
ist er schwach. Da gibt es auch Ex-Präsi-
dent Andrej Kiska, der mit seiner Partei
»Za ľudi« antritt, bei vielen Slowaken aber
den Ruf hat, im Grunde ein Mann des
Smer-Regimes zu sein.
Ideologische Unterschiede haben ver-
hindert, dass sich in der Mitte der Slowakei
ein vereinter demokratischer Block bildet,
der vielleicht links die Smer schwächt und
auf der Rechten den Demagogen Kotleba
abwehren könnte. Die Mitte ist aber zer-
fasert. Dazu kommen die Egos der Partei-
chefs, die eine Annäherung erschweren.
Marian Kotleba präsentiert sich dage-
gen als frische Kraft. Er serviert seinen
Wählern jenen sozial angereicherten Na-
tionalismus, mit dem auch andere kon -
servative Parteien in Europa punkten, nur
radikaler. Die Eliten in Bratislava und Brüs-
sel sorgten nicht für die »normalen Slowa-
ken«, behauptet er. Kotlebas Weltbild ist
antisemitisch und ausländerfeindlich ge-
prägt, er schimpft auf »asoziale« Roma
und will eine angeblich drohende »Invasi-
on der Migranten« verhindern.
2017 hat er sogar Schecks an arme Fa-
milien verteilt, genau über 1488 Euro. Die
Zahl ist als ein rechtsextremistischer Code
lesbar: 14 Wörter umfasst das Glaubens-
bekenntnis des amerikanischen Neonazis
David Lane, 88 steht für ein doppeltes H,
den achten Buchstaben des Alphabets und
zugleich für »Heil Hitler«. Kotlebas Wäh-
ler, so die versteckte Botschaft, dürfen sich
mit der nationalen Geschichte identifizie-
ren. Und dazu gehört selbst der slowaki-


sche Staat, der im Zweiten Weltkrieg lange
von Hitler kontrolliert wurde. Das kleri-
kal-faschistische Regime des Diktators Jo-
zef Tiso schaltete Oppositionelle aus und
half, slowakische Juden zu deportieren,
die meisten nach Auschwitz.
Kotleba spreche exakt jene Wählerschaft
an, die bis zu dem Journalistenmord vor
zwei Jahren von der Regierungspartei
Smer bei der Stange gehalten worden sei,
sagt der Politologe Mesežnikov: Men-
schen, die die Moderne als Zumutung emp-
finden, die auch 30 Jahre nach dem Ende
der Sowjetunion und dem Fall des Eiser-
nen Vorhangs noch unsicher sind, ob der
Wohlstand hält, und die das Gefühl haben,
Brüssel und städtische Eliten würden ih-
nen diktieren, wie sie zu denken und zu
leben hätten.
In der Sprache der ĽSNS heißen diese
Eliten »liberale Faschisten« – und Peter
Bárdy gehört ganz sicher dazu. Er leitet
die Redaktion der Nachrichten-Website
Aktuality.sk und war der Chefredakteur
von Jan Kuciak. Er sagt: »Wir denken noch
jeden Tag an Jan.« In den Fluren hängt
das stilisierte Porträt des früheren Kolle-

gen. Bárdy ließ nach dem Tod Kuciaks das
Investigativteam aufstocken, zwölf Frauen
und Männer recherchieren jetzt über die
Korruption in der Regierungspartei.
Bárdy schätzt, dass mindestens 50 Pro-
zent aller EU-Gelder, die in die Slowakei
fließen, von Politikern und ihren Kumpa-
nen in der Wirtschaft missbraucht werden.
Aber er weiß auch, dass jeder aufgedeckte
Fall den Rechten um Kotleba nützt: »Er
stilisiert sich erfolgreich als einziger nicht
korrupter Politiker.«
Vor allem berichtet Aktuality.sk über
den Mordprozess, der noch immer an -
dauert. Angeklagt ist Marián Kočner als
Drahtzieher, seine Vertraute und zwei wei-
tere Männer. Kočner soll sein Imperium
mit einer Kombination aus Erpressung
und Kumpanei aufrechterhalten haben. Er
habe systematisch kompromittierendes
Material über Beamte, Richter und Staats-
anwälte gesammelt. Zeitweise wohnte er
Tür an Tür mit dem damaligen Minister-
präsidenten und Smer-Chef Robert Fico
in einem exklusiven Apartmentkomplex
in Bratislava. Kocner schweigt und bestrei-
tet alle Vorwürfe.
Jedes Detail aus dem Prozess, so fürch-
tet Bárdy, spiele Kotleba in die Hände.
Zum Mord an Jan Kuciak verbreitet Kot-
leba eine besonders bizarre Verschwö-
rungstheorie: Hinter der Bluttat stecke ein
Komplott, das den liberalen Europafreun-
den Auftrieb verschaffen soll.
Slowakische Behörden haben versucht,
Kotlebas Partei verbieten zu lassen. Doch
die Richter am Höchsten Gericht folgten
dem Antrag nicht: Auch wenn eine Partei
gegen die Demokratie arbeite, müsse diese
das aushalten. Die ĽSNS stelle keine un-
mittelbare Gefahr dar.
Das jedoch kann sich bald ändern.
Denn dass die konservativen und libera -
len Parteien trotz aller Zerwürfnisse eine
Koalition bilden können, ist unsicher. Sie
konkurrieren um dieselbe Klientel und
sind programmatisch schwer auseinander-
zuhalten. Wenn nur eine von ihnen am
Wahltag abstürzt, ist die Parlamentsmehr-
heit kaum mehr erreichbar.
Denn mit der stärksten Partei Smer, der
ewigen Regierungspartei mit Verbindun-
gen in die Oligarchie, will niemand von
ihnen zusammenarbeiten. Wenn Smer
Ende Februar mit der Regierungsbildung
betraut werden sollte, könnte die Stunde
der Rechten gekommen sein, fürchtet der
Journalist Bárdy. Er hält Smer für skru-
pellos, »allein auf den Machterhalt« be-
dacht. Sicher würde sich selbst Smer nicht
trauen, die Faschisten offen an der Regie-
rung zu beteiligen. Doch könnten sie im
Hintergrund als Mehrheitsbeschaffer agie-
ren – ohne Verantwortung, aber mit viel
Einfluss. Jan Puhl
Mail: [email protected]

87

KILIAN KIRCHGESSNER / EPD
Kuciak-Poster in Aktuality.sk-Redaktion
»Wir denken jeden Tag an Jan«

28,3 17 %


11,0

8,0

*

*

*

12,1

8,6

13


11


9


9


7


6


5


Smer,linkspopulistisch

O’LaNO,rechtspopulistisch

ĽSNS, rechtsextrem

PS/Spolu, liberal

SNS,

SaS,liberal

Sme Rodina,

Za ľudi, liberal

Wahlumfrage in der Slowakei
»Welche Partei würden Sie wählen, wenn am
kommenden Sonntag Nationalratswahl wäre?«
Wahlergebnis
2016 in Prozent

Umfrage


  1. Februar


Quelle: Politico
* 2016 nicht angetreten

konservativ

nationalistisch
Free download pdf