SEITE R4·DONNERSTAG, 5.MÄRZ 2020·NR. 55 Reiseblatt FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG
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ie Maison Saint-Cyr
wahrtihr Geheimnis.
DasHausist geschlos-
sen,undwederheute
noch im März,wenn
inBrüsseldasArtNou-
veau&ArtDecoFesti-
val„Banad 202 0“steigtunddieMaison
Saint-Cyr für einen einzigenTag geöffn et
ist, werdeich eintr eten.Innenaufnahmen
gibtesk eine. Fotografierenistverboten.
Der Besitzer willweder seinenNamen
noch sein eKunstschätzeinder Zeitungse-
hen. Vielleicht steheich also am 29.März
wiederamSquareAmbiorix,denzweiRei-
hengestutz terPlatanen wieParaventsauf
Stelzen umrunden,undbestaunediesever-
rückteFassade aus dem Jahr 1903, di enur
vier M eter br eitzwischen ihrenunauffälli-
genNachbarnklemm t: dashellgrüneGat-
tertörchen, de ssen Stäbe sich wie Zweige
im Wind sträuben, dasriesig erunde japa-
nisc he MondfensterimDach, diebeiden
gusseisernengrünen S tengel, die denEr-
kerimersten Stockwieauf Blumenkel-
chen balancieren, un ddie schmalenge-
streiften Mauern,deren Backsteine in der
Farbe un reifer Heidelbeeren eigens für die
Maiso nSaint-Cyrgebrannt wurden.Und
ichwerde draußen bleiben,während die
Glücklichen,die in der ersten Stunde des
Vorverkaufseine Eintrittskartefür diesen
Festival-S tarergattert haben,dieTreppe
hinau fsteigen .Ist es drinnengenauso
jugendstil-versponnen undkapriziös-ba-
rock ?Umdie zu fragen, die herauskom-
men, reicht emeinFranzösisch nicht.Und
außerdem:Esist Festivalze it –und andere
Leut ehaben auchschöne Häuser!
Brü ssel bezeichnetsichals die eu ropäi-
sche Haupt stad tvon Artnouveau undArt
déco. Währen d„Banad“öffnensichdort
an drei Wochenenden imMärzdie Türen
dertollstenarchitektonischenErscheinun-
genvom Ende des neunzehnten Jahrhun-
dertsbis in dieMitteder dreißi gerJahre.
Es gibtgeführteRundgängezuFassaden
und Interieurs,zuStadt residenzen,Cafés,
Ateliers,einerehemaligenSchokoladenfa-
brik und einerenormen Ki rche in Beton
brut, GesprächeüberArchitekten,Ausstel-
lungen,eine Antiquitätenbörse, au ch ein
Familie nprogramm. Die Auswah list über-
wältigend.SchonnacheinpaarTagenVor-
besi chtigun gist manverzaubertund für
die Formensprache mediokrer Architek-
turweitgehendertaubt.
Da is tetwadas Palais de la Folle Chan-
son, ein achtstöc kiges Apartmenthausim
Art-déco-Stil ,derauf FranzösischauchSty-
le Paquetbateau nachArtder eleganten al-
tenLuxuslinerheißt.ÜberdemEinganger-
hebt sichein halbrunder Turm mit e inem
sternf örmi genLese- undRauchsalonun-
terder Kuppel. Herren mit Zigarre,die in
eine mder siebenFensternischenza cken
standen ,überbli cktenzwarnichtdasMeer,
aber siebenStraßen, die z uihre nFüßen
aufden Boulevard GénéralJacquesmün-
den, alle mit vierReihen Bäumen bestan-
den –damals, jetz tnicht mehr.Durch den
abgrundtiefenTreppen schachthat der
Künstl er Philippe Leblanceine Installati-
ongehängt:Stränge mitunzähl igen ovalen
Plexi glasspiegeln,die im Luftzug flirren.
ErwohntimParterreineinerkleinenWoh-
nungmitvierzeh nTüren,dievielleichtein-
malfür die Conciergegedachtwar.
Da is tdas Hotel Cohn-Donnaymit dem
Restaurant „DeUltiem eHallucinatie“un-
terdem Glasdach des Innenhofs,indem
derJugendstilinFormvollendungtobt.Ur-
sprünglich gehörte dasHaus e iner Kla-
vier -Virtuosin undChopin-Schülerin,was
dieGastronomendazuverlei tethat, im
Entree ein antikesweiße sKlavier aufzu-
stellen und ChopinsNocturneOpus9in
Endlo sschleifeabzuspielen,waszusam-
menmit derquiets chenden Eingangstür
zu multimativenWahnsinnführt.Aber
dasEssen is tgut. DasBierauch.
Einer ,der sei nschönes Haus–die Mai-
sonStrauve n–während desFestivalsöff-
net, is tder Kunsthi storiker OlivierBerck-
mans,vor seinerPensionierungein Mitar-
bei terderBrüsselerDenkmalschutzbehör-
de. Dieverwinkelte Immobilie zwischen
RueLutherund Rue Calvin ha tder Ar chi-
tekt Gustave Strauven,dessen Kopf auch
die Idee für die Maison Saint-Cyr ent-
sprun genist,1902 fü rsichentworfen, und
MonsieurBerckmans hatsich darin mit
seinem Befinden,seinenBildern und Bü-
chern, seinemPorzellan undseine rMu-
sch elsammlung wie in einem perfekt sit-
zenden Handschuh ein gerichtet.
Drinnen schraubt sicheine rote,stre-
ckenweise geländerlose Holztreppe vom
Souterrain bis untersDach, vorbei am
sechseckigen Speisezimmer,dem Salon
mit dem Marmorkamin bis zu den Schlaf-
kämmerchen. Im Sommer verschleiert
eine lila Glyzinie den Balkon, ein Schling-
gewächsganz im Jugendstil. Es ist alles
sehr erlesen, aber:„Wassagen Sie denn zu
dem Blickaus Ihrem moosgrünen Erker
auf die gege nüberliegendeStraßenseite,
MonsieurBerckmans?“„Horrible“,antwor-
tetder kleine Herrmit demgrauem Bart,
„ein Haus wie dieTitanic.“ Nurwirdes
nichtsoschnellhinterseinemHorizontver-
schwinden.Der Betonriegelausdensiebzi-
gerJahrenentlangder RueLuther istzwölf
Stockwerke hoch, und auchwenn ic hnicht
gefragt werde, sollteergesprengtwerden.
Warmanvormehr alshundertJahren in
Sachen Stadtges taltung nicht schon ein
Stückweiter? Ehe die Alleen abgeholzt
wurden und die Begradiger die Herrscha ft
übernahmen? Die belgischen Architekten
des Jugendstils und desfolgenden Artdéco
bauten zwarvorwiegend für daswohlha-
bende Bürgertum, aber sie entwarfenauch
kommunale Gebäude mit menschlichen
Proportionen: Krankenhäuser,Schulen,
Gartenstädtefür Arbeiter,Büros, ein Hal-
lenbad, ein Naturkundemuseum –und
auchsoeinen lustigen schwarzweißen
Schuhkartonmit gerundetenMauervor-
sprüngen,Balkonundeinerhohendiagona-
lenFensterscheibewiedasHausTenaersin
der Rue de la SecondeReine, in dasgerade
mal einstilsicherer Junggeselle passt.
DieHäuserdieserEpochenwarenausei-
nem Guss. In ihrenRäumen waltete Sorg-
falt für jedes Detail: großeGeländer-
schwünge,Bodenmosaiken,Türen,Kamin-
brüstungen, Einbaumöbel, Klinken, Lam-
pen, buntes Glas, Briefkästen,die Tapeten,
dieBeschläge;Dinge,dieihreBewohnerje-
den Tagvor Augen hatten und die anzufas-
sen eineFreude war. ManchePerfektionis-
tentrieben es auf die Spitze, wie der hoch-
geschätztebelgische Architekt Victor Hor-
ta, der eigentliche Erfinder der Artnou-
veau, ehe sie auch inWien, Darmstadt,
Riga, Turinoder GlasgowWellen schlug
und den Muffder Gründerzeit hinwegfeg-
te.AberjedesvonHortasHäusernundInte-
rieursspricht auchvon dem Bewusstsein,
dasshieretwasGanzes,Schönes,Funktio-
nales und Individuellesgeschaf fenwurde.
Um 1875 hatteerdem Architekten
Alphonse Balart assistiert,der im Brüsse-
lerViertel Laeken diekönigliche nGe-
wächshäuse rerbaute ,ein bo tanisches Ver-
saillesaus Glasund GusseisenfürPalmen,
Pomeranzen undKamelien,dessen Linien
und Ornamentikden Jugendstil vorweg-
nahmen. In denneunzigerJahrenbegann
Hortasgroße Zeit;erentwar funterande-
remdas MaisonAutrique, dasHôtel Tas-
selunddasHôtelSolvay, diebeidenLetzte-
renkeine Beherbergungsbetriebe,son-
dernPalästedes Bürgerturms.
Treten wir ins HôtelSolvayinder Ave-
nue Louise ein, durch das Tor, unter dem
einmal dieKutschen einrollten, um auf ei-
nem beheiztenVorplatz ihreFahrgästezu
entlassen.Rechtssteigendie Stufen zum
Portal an, linksvor der Mauer befindetsich
eine Gruppe bewegter monumentaler Da-
men ausweißem Marmor,die of fenbar Tu-
gendendarstellen.Beieiner,derdasEntset-
zen ins Gesichtgeschriebensteht, könnte
es sic haber auchumMadame Solvayhan-
deln, als sievonden Baukostenfür ihre
Stadtwohnung erfuhr.Der GatteArmand,
einIndustriebaron,hatteViktorHortafreie
Hand gelassen und ein unbegrenztes Bud-
getzurVerfügunggestellt.Derkonstruierte
fünf StockwerkeàdreihundertQuadratme-
terübereinemGerüstausgenietete nEisen-
träger n,dasentferntandenEi ffeltu rmerin-
nertund zwischen denkostbaren Materia-
lien sichtbar blieb. Hochmodernwaren
aucheine Warmluft-Zentralheizung und
elektrisches Licht, und um die Helle und
Leichtigkeit der Architektur zu betonen,
steigt dasTreppenhaus um einen Licht-
schacht,dervoneinerfächer förmigenGlas-
decke in Rot, Ocker,Orangeund Salbei-
grün abgeschlossen ist,Farben, die sichin
einemmehrereQuadratmetergroßenpoin-
tillistischen Bild auf demTreppenabsatz
wiederholen, das Damen bei der Lektüre
im Park zeigt.
Besucher erklimmen heute mit blauen
Plastikschluppen über den Schuhen die
Marmorstufen, vorwiegend amRand zur
Schonung des Läufersind er Mitte, und
auchjene,diederAnbli cküberwältigt, wer-
den gebeten, das Sofaunter dem Gemälde
–„Ne pa ss’assoir/nietzitten aub“–zu
meiden. Die Beletage mit den Empfangs-
räumen istein Gesamtkunstwerkaus
Licht, Glas und schimmerndemrotblon-
demHolzmitTüren,diesichwieParavents
entfalten oder inkonkavem Schwung der
Rundungdes Raums folgen. Horta verbau-
te dreiundzwanzig SortenMarmor und
siebzehnSortenedlerHölzerausMadagas-
kar,Kongo und Honduras. Das HôtelSol-
vaygehörtheute zumWeltkulturerbe. Ma-
dame S.kann den anklagendenZeigefin-
geraus demKontobuchnehmen.
Davon, wasHäuser manchmaldurchlei-
den, ehe siewiederWertschätzungerfah-
ren, sp richtdie Villa Empainaus dem
Jahr1930,einklareszweistöckigesGebäu-
de aus poliertemgrauemGranit, elegant,
kühl und minimalistisch. Vondem Haus-
herrn, Baron Louis Empain, dessenVater
die Pariser Métrogebaut hatte, hörtman,
dasseru nendli ch reich, ei nPhilanthrop,
aber wohl auc heinbisscheneinsamgewe-
sen sei.Wieerwohl so allein in diesen
Marmorhallen lebte? Ein MannvonAn-
fang zwanzig mit Schnurrbart,runder
Brille undGeheimratsecken,der sic him
Parterreeinen RauchsalonmitBar,imers-
tenStock einenFechtraum undauf der
GartenseiteeinenvoneinerPergolage-
säumt en S wimmingpoololympischen
Ausmaßes anlegenließ.ImJahr 1937
überschrie berdie Villa dem belgischen
Staat mitder Vorgabe,dassein Museum
für angewandte Kunsteinziehe. Aber
Krieg undNachkriegszeit,inder die deut-
sche Wehrma cht, die sowjetische Bot-
scha ft,später eineRadios tationund am
Ende Räuber undVandalenresidier ten,
machtenerstEmpainsPläne und dann
seinHaus zunichte.
DieBoghassian-Stiftung, diesichdem
west-östliche nKulturaustauschwidmet,
kaufte 2006 dieschwermitgenommene
Immobilie,restaurierte dieMarmo rhalle,
dieGalerie, das riesige Oberli chtimZen-
trum ,diegeometrischenschwarzen Eisen-
gelände rund legtefrische sBlattgoldauf
dieFensterlaibungen. Heute wechseln
Ausstellungen moderne rKunstunter dem
Flachdach. Der Rauchsalon istein Restau-
rant.Man sitztanMarmortischen mitgol-
denenFugenundlöf feltMousseausBitter-
schok olade undOrangen.
ImGärtnerhaushinterderVillawohnen
zwei Künstler stipendiatenderBoghassian-
Stiftung. Schön haben sie esgetrof fenmit
dem weiten Rasen, den alten Bäumen und
der Glyzinien-Pergola um den herrlichen
Pool. „Oh“, sagt die Damevonder Stif-
tung, „denPool dar fman nicht benutzen,
und ic hdenke, dieKünstlerrespektieren
das.“ DochanSommerabenden, dasFesti-
valist längstvorbei, die Besucher sindge-
gangen,undArtdécodeluxelächelt ...Bei
allem Respekt, werden sie widerstehen?
DasFestival Banadfindetvom 14. bis 29.
Märzstatt. Daskomplett eProgramm und die
Möglichkeit,Ticket szu reservieren, unter:
http://www.banad.brussels/de. Nicht alle Führungen
gibt es auf Deutsch; die Mehrzahl ist aufFranzö-
sisch, Englischund Niederländisch. Allgemeine
Informationen unter:www.explore.brussels/de.
VonKöln nachBrüsselfährtder Hochgeschwin-
digkeitszug Thalys fünfmaltäglichinknapp
zwei Stunden;Ticket sab16Euro, http://www.tha-
lys.com.
Licht:HôtelCohn-Donnay FotoEB
EinLiedvoneinemHaus:
Palais de laFolle Chanson (oben).
DieVilla Empain (Mitte) wurde
erst vorwenig en Jahren wiederher-
gerichtet, während das schlanke
Gebäude Saint-Cyr(unten)stets
ein Juwelgewesenist.
FotosLucie Burton, SophieVoituron, EB
MadameSolvay
scheint nicht
amüsiert
BrüsselfeiertimMärzein rauschendes ArtNouveau &
ArtDécoFestival–eine Vorbesi chtigu ng verzaubert
undschärft den Blickfür da sschöne Ganze
VonElsemarieMaletzke