Die Welt - 14.03.2020

(coco) #1

E


s ist eine Krankheit, wie
sie die Welt noch nicht er-
lebt hat, sie ist hochanste-
ckend, verläuft in rasender
Geschwindigkeit und
nichts hilft dagegen. Sie
beginnt mit Fieber und et-
was Kopfschmerzen und endet fast immer
tödlich. „Heiter beim Frühstück“, sagt man
„mittags schon tot“. Der „Englische
Schweiß“ (sudor anglicus), oder auch
Schweißfieber, war eine der furchtbarsten
Epidemien aller Zeiten, die England und
auch den Kontinent um die Schwelle zur
Neuzeit insgesamt fünf Mal heimsuchte
und danach verschwand. Heute vermutet
man, dass es eine Virusinfektion, vielleicht
eine Art Influenza war. Beim Ausbruch 1528
in London erkrankt auch Liz daran, die
Frau des einflussreichen Anwalts Thomas
Cromwell. Als er morgens sein Haus in
AAAustin Friars verlässt, sind die Bettlakenustin Friars verlässt, sind die Bettlaken
fffeucht, als er abends zurückkehrt, ist Lizeucht, als er abends zurückkehrt, ist Liz
schon tot. Ein Jahr später sterben auch sei-
ne beiden Töchter.

VON RICHARD KÄMMERLINGS

Hilary Mantel erzählt von diesem Schick-
salsschlag bereits in den ersten Kapiteln
des ersten Teils ihrer dreibändigen Tudor-
Trilogie, die sie 2009 mit „Wölfe“ begann
und jetzt mit „Spiegel und Licht“ vollendet.
Für Cromwell, der als Sohn eines Schmieds
unter Heinrich VIII. zu einem der mäch-
tigsten Männer seiner Zeit aufsteigt, ist der
plötzliche Tod von Frau und Töchtern auch
eine Lektion in vollkommener Ohnmacht.
WWWas Cromwell im Privaten schmerzhaft er-as Cromwell im Privaten schmerzhaft er-
lebt, wiederholt sich, kaum weniger drama-
tisch, beim Fall seines Mentors Kardinal
WWWolsey, dessen tiefen Sturz aus der Gnadeolsey, dessen tiefen Sturz aus der Gnade
des launischen Königs sein Faktotum
Cromwell aus nächster Nähe mit- und er-
staunlicherweise überlebt. Beides zusam-
men sind Cromwell, den raketenhaften
AAAufsteiger am Hof Heinrichs, eine Lehre:ufsteiger am Hof Heinrichs, eine Lehre:
Nie wieder ohnmächtig, ist seine Losung.
Im Dienste eines Königs wie Heinrich VIII.
ist das ein utopisches Lebensprogramm.
Über mehr als 2000 Buchseiten zeigt die
englische Schriftstellerin Hilary Mantel,
wie nah Thomas Cromwell dieser Utopie
gekommen ist: Cromwell, aus dessen Per-
spektive jede einzelne Seite, jedes Detail,
jede Nuance, jeder Pinselstrich dieses ge-
waltigen Historiengemäldes ausgeführt ist,
ist fast eine Art Superheld der Tudor-Ära.
Geprägt durch harte Lehrjahre als Kauf-
mann und Soldat auf dem Kontinent, wird
er zur rechten Hand, erst des Kardinals und
päpstlichen Legaten Wolsey und später des
Königs, der zur Umsetzung seiner alle Welt
empörenden Heiratsabsichten mit dem
Papsttum bricht. Cromwell ist Chefdiplo-
mat, Büroleiter, Geldbeschaffer und Lobby-
ist, er ist Troubleshooter und Problemlö-
ser, Kummerkasten und Mädchen für alles.
Den Staatshaushalt hat er ebenso im Griff
wie seinen eigenen; die Frauengeschichten
des Königs, seine geheimen Wünsche und
erratischen Pläne lässt er Wirklichkeit wer-
den. Selbst des Nachts lässt ihn Heinrich
rufen, damit er ihm einen bösen Traum
deute. Natürlich kann er ihn beruhigen.
Das ist nicht nur eine großartige Charak-
terzeichnung, sondern auch die Vorausset-
zung für Mantels Poetik des historischen

Romans: Wie sonst könnte sie mit der ver-
meintlichen Beschränkung des Blickwin-
kels ein Epochenpanorama malen, das von
Schlafgemächern der (wechselnden) Köni-
ginnen, den Verliesen der Todgeweihten im
Tower bis aufs diplomatische Parkett von
Paris oder Rom führt? Die erlebte Rede des
Helden lässt viele Stimmen widerhallen.
Cromwell trifft alle, verhandelt und flirtet
mit allen, er schmeichelt, droht oder er-
presst, sammelt Beweismaterial, hat überall
Spione und Berichterstatter und liest aus
kleinsten Zeichen die größten Absichten
heraus. Er allein ist die Mitte eines Kom-
munikationsnetzes, das vom Küchenjungen
bis zum Gesandten des Kaisers, vom Kam-
merdiener bis zum Scharfrichter reicht.
Und dort auch endet.
Jeder der drei Bände führt zum Schluss
auf das Schafott; in „Wölfe“ trifft das Beil
Cromwells erzkatholischen Gegenspieler
Thomas More, den Mantel als sadistischen
Dogmatiker entwirft. „Falken“ (der engli-
sche Titel „Bring Up the Bodies“ trifft die
AAAtmosphäre besser) erzählt mitleidend undtmosphäre besser) erzählt mitleidend und
atemraubend von Glanz und Ende Anne
Boleyns (und ihrer angeblichen Liebhaber),
deren Niedergang von Cromwell mit uhr-
werkartiger Präzision choreografiert wird.
Er ist auf dem Höhepunkt seiner Macht.
WWWessen Kopf im letzten Teil „Spiegel undessen Kopf im letzten Teil „Spiegel und
Licht“ nun am Ende rollt, ist auch ohne je-
de Spoilerabsicht klar. Doch wie es dazu
kommt, wird in Mantels virtuoser Erzähl-
technik in allergrößter Auflösung vorge-
ffführt. Wenn Epidemien Naturkatastrophenührt. Wenn Epidemien Naturkatastrophen
in Zeitlupe sind, so ist „Spiegel und Licht“
die literarische Entsprechung. In dieser Mi-
kroskopie der politischen Intrige ist jedes
Detail von Bedeutung. Cromwell wird end-
gggültig klar, dass er verloren ist, als die Her-ültig klar, dass er verloren ist, als die Her-
ren im Kronrat ihre Hüte aufbehalten als
seiner vom Wind weggeweht wird.
Die ersten beiden Bände wurden jeweils
mit dem Booker-Preis ausgezeichnet; der
dritte Band, der mit gut 1100 Seiten mit Ab-
stand der umfangreichste ist, fällt in keiner
WWWeise ab. Die drei Bücher sind auf so viel-eise ab. Die drei Bücher sind auf so viel-
fffältige Weise motivisch miteinander verwo-ältige Weise motivisch miteinander verwo-
ben, dass man sie ohnehin als ein gewalti-
ges Werk betrachten muss, wenn man so
will, als „Mann ohne Eigenschaften“ der
Tudor-Zeit. Mit Musils essayistischem Ver-
fffahren verbindet Mantel die extreme Deh-ahren verbindet Mantel die extreme Deh-
nung der Zeit. Anders als das konventionel-
le, auf actionreiche Handlung und Span-
nung ausgerichtete historische Erzählen
geht Mantel ins Allergenaueste, eng an den
historischen Quellen und der Forschung
und zugleich mit größter Freiheit, um ihre
Lücken und Widersprüche mit wissen-
schaftlich präziser Einbildungskraft zu be-
arbeiten.
Der historische Roman schien seine gro-
ße Zeit hinter sich zu haben, in den Achtzi-
gern war er die Gattung der Stunde als iro-
nische Form der auktorialen Totalverfü-
gggung über die Welt. Wenn ohnehin allesung über die Welt. Wenn ohnehin alles
Fiktion sein sollte, auch die Geschichts-
schreibung, dann konnte der Roman sich
alle Freiheit nehmen und wild fabulieren,
aktualisieren oder spintisieren. Spätestens
in den Nullerjahren schienen die TV-Serien
ihm den Rang abgelaufen zu haben. Doch
Hilary Mantel zeigt, wie der Roman sich
umgekehrt das Erzählprinzip von Serien –
mit schillernden Nebenhandlungen, gro-
ßem Figurenarsenal, Detailtreue des Set-

ting und theaterreifer Dialogkunst – zu ei-
gen machen und damit triumphieren kann.
Die drei Bände sind durchaus mit den Staf-
fffeln von Serien vergleichbar; eine künftigeeln von Serien vergleichbar; eine künftige
Adaption ist nur eine Frage des Budgets.
Die Regentschaft Heinrichs VIII., die das
Ende seines Lordsiegelbewahrers Crom-
well nur um wenige Jahre überdauerte, ist
gerade heute von allergrößtem Interesse,
war es doch die Schlüsselzeit der Loslösung
von Rom und der Beginn des modernen
englischen Staats mit seinem bis heute
fffortwirkenden Sonderweg einer nationa-ortwirkenden Sonderweg einer nationa-
len, anglikanischen Kirche. Den Brexit
konnte Mantel nicht voraussehen, und sie
versucht auch im Abschlussband keine plat-
ten Bezüge zur politischen Gegenwart her-
zustellen. Gleichwohl ist ihre Geschichte
eine absolut heutige: Cromwell ist ein
hochmoderner Mensch, ein Dialektiker der
AAAufklärung, was zugleich einiges über dieufklärung, was zugleich einiges über die
höfische Epoche und ihren zynisch-rationa-
len Machiavellismus sagt.
Seine Vorstellungen über das Geschlech-
terverhältnis sind eher zeituntypisch; Söh-
ne und Töchter will er auf Augenhöhe erzie-
hen. Auf dem Schlachtfeld männlichen Ehr-
geizes sind die Frauen die Opfer. Als selbst-
verständliche Feministin ist die Trilogie
trotz ihrer Hauptfigur auch eine Ge-
schichtsschreibung aus weiblicher Sicht.
Anne Boleyn, die Cromwell zur eigenen
Machtsicherung im Auftrag des Königs
stürzt, lässt sie poetische Gerechtigkeit wi-
derfahren: Diese Gemälde werden bleiben
und unser Bild der Geschichte für immer
prägen.
Es gibt ein berühmtes Porträt von Tho-
mas Cromwell, das Hans Holbein der Jün-
gere gemalt hat. Es zeigt einen leicht be-
leibten, selbstbewussten, gefährlich lauern-
den Mann. In „Wölfe“ wird die Szene ge-
schildert, als das Gemälde dem Modell prä-
sentiert wird. Der kaiserliche Botschafter,
ein erfahrener Diplomat, der mit Cromwell
oft verhandelt, ist vom Bild enttäuscht:
„Oh nein, nein, nein, nein, nein. Ihr protes-
tantischer Maler hat das Ziel dieses Mal
verfehlt. Denn man denkt nie an Sie allein,
sondern immer in Gesellschaft, wo Sie die
Gesichter anderer Leute mustern, als ob
Sie selbst sie malen wollten. Bei Ihrem An-
blick denken andere Männer nicht ‚Wie
sieht er aus?‘, sondern ‚Wie sehe ich aus?‘“.
Cromwell in Gesellschaft – der Mann,
der alle anderen mustert und in Gedanken
malt, das ist die Essenz von Mantels gro-
ßem Opus, einem der bedeutendsten Er-
zählwerke unserer Zeit. In „Spiegel und
Licht“ setzt ein anderes Bildnis Holbeins
den Fall Cromwells in Gang. Holbein malt
Anna von Kleve, und allein auf Grund des
Porträts entscheidet sich Heinrich dafür,
sie zur Frau zu nehmen – eine politische
Ehe, vermittelt von Cromwell aus Gründen
der Staatsräson. Doch der Augenschein
reicht an das Bild nicht heran; die Schön-
heit des Gemäldes findet der König in der
realen Gattin nicht wieder, was ihn tief ent-
täuscht. Es ist der Triumph der Kunst, die
Wirklichkeit in den Schatten zu stellen. Die
Geschichte Englands leuchtete nie heller
als in Hilary Mantels Erzählung.

Hilary Mantel: Spiegel und Licht (Tudor-
Trilogie, Bd. 3). Aus dem Englischen von
Werner Löcher-Lawrence. Dumont, 1100
S., 32 €.

DDP/ PICTURE PRESS/ EYEVINE

/ DAVID LEVENE

BLUT,


SCHWEISS,


TRÄNEN


Wenn das Gemälde die


Wirklichkeit in den Schatten stellt:


„Spiegel und Licht“,


der dritte Band von Hilary Mantels


Tudor-Trilogie, ist ein Triumph


des historischen Erzählens


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14.03.20 Samstag,14.März2020DWBE-HP


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DIE WELT SAMSTAG,14.MÄRZ2020 SEITE 25

Ein Journal für das


literarische Geschehen


Gegründet von Willy Haas, 1925

INHALT


Proteste gegen Woody AllensMemoiren, S. 27Fragen an den Chef der Frankfurter Buchmesse, S. 27 Robert ByronsReisen, S. 28


Hölderlin-Gedichte aus der Maschine, S. 29Feuilleton-Beobachtungen vom Perlentaucher, S. 30Bücher von Peter Keglevic, S. 32


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