Die Welt - 14.03.2020

(coco) #1

31


14.03.20 Samstag,14.März2020DWBE-HP


  • Belichterfreigabe: ----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
    Belichter: Farbe:Belichter: Farbe:Belichter:


DWBE-HP

DW_DirDW_DirDW_Dir/DW/DW/DW/DW/DWBE-HP/DWBE-HP
14.03.2014.03.2014.03.20/1/1/1/1/Kul2sa/Kul2sa PKRUEGE1 5% 25% 50% 75% 95%

DIE WELT SAMSTAG,14.MÄRZ2020 DAS FEUILLETON 31


E


s gibt vermutlich für jeden Men-
schen einen Fluchtpunkt. Einen Ort,
eine Zeit, zu dem, zu der man sich,
ganz genau wieso weiß man meis-
tens nicht, zugehörig fühlt, weil sie
einem zu entsprechen scheinen. Wo man sich
hinträumt, wenn einem die wahre Wirklichkeit
wieder mal zu viel wird. Einen geschichtlichen
Ort, den es so wahrscheinlich gar nicht gegeben
hat, der nie so schön war, wie wir ihn in unserem
Zeitmaschinentraum gern werden lassen.

VON ELMAR KREKELER

Daniel Hope hat, sagt er, aus jeder Wohnung,
die er bezog, und er war lange ein Meister des
Umziehens, eine Jugendstilwohnung gemacht.
Jahrzehnte lang Artefakte gesammelt, Plakate,
Flacons. Sich umgeben mit dem Gesang und
dem Echo des melancholischen Geistes der vor-
vergangenen Jahrhunderwende. Wenn er die
Zeitmaschine von H. G. Wells zur Verfügung hät-
te, sagt er, würde er sich in den Salons von Paris
herumtreiben, auf den Herrenhäusern von Eng-
land, in den Ringstraßenpalais, den Villen vor
Berlin. Unter den „Schlafwandlern“ (Christo-
pher Clark) eines grenzenlosen Europas auf ih-
rem Weg zwischen gigantischem Reichtum und
größtem Elend in die Urkatastrophe des Ersten
WWWeltkriegs. In eine Zeit, die unserer mit einigereltkriegs. In eine Zeit, die unserer mit einiger
Sicherheit noch viel ähnlicher war, als die gern
als schlechthiniger Spiegel der Gegenwart be-
zeichneten röhrenden Zwanziger.
Nun sitzt er hier hoch über Berlin, in einem
Salon von relativ großer Zwanzigerhaftigkeit.
Ein Weltgeiger, ein globaler Musikmanager, Fes-
tivalchef, Orchesterleiter, unermüdlicher, ubi-
quitärer Musikerklärer, Geschichtsvermittler,
Geschichtensucher. Dass er mal so heimisch
werden würde wie ausgerechnet in Berlin, hätte
Hope wohl selbst nicht gedacht. Vielleicht er-
klärt das die Sehnsucht nach einem Sehnsuchts-
ort. Er kommt aus einer Familie der Flüchtlinge,
der Widerstandskämpfer, sagt er.
Seine Großeltern mussten 1935 aus Deutsch-
land nach Südafrika fliehen. Seine Eltern flohen
1 974 zurück nach Europa, Daniel war da gerade
ein Jahr alt, nach London. Da sind sie – der Vater
war Schriftsteller, die Mutter arbeitete als Pri-
vatsekretärin bei Hopes erstem Leitbild Yehudi
Menuhin – 18 Mal umgezogen, Beethovens auch
schon legendäre Wiener Wohnungswechselei
beispielsweise nimmt sich gegen die der Jugend
des jetzigen Präsidenten des Bonner Beethoven-
hauses geradezu lächerlich aus.
Jetzt ist er sesshaft in Berlin, länger als zehn
Tage ist er nicht unterwegs im Monat (in den
zehn Tagen dann aber vor der Corona-Krise gern
auch mal in zehn Ländern auf allen Kontinen-
ten), wohnt mit Frau und zwei Söhnen keine
zehn Minuten von der Villa weg, die mal seiner
Familie gehörte. Er geht die Wege der Urahnen
nach. Geistern, sagt er, begegnet er vielen. Er, ein
geradezu aberwitzig charmanter rothaariger
Meltingpot der Kulturen, deutsch, jüdisch, irisch,
englisch, afrikanisch, katholisch getauft, protes-
tantisch konfirmiert, durch die russische Geigen-
schule gegangen, fühlt sich wohl hier. Angekom-
men. Hier sagt er, darf man sein, wie man will.

Eigentlich, sagt er, hätte er bei dem, was jetzt
„Belle Epoque“ heißt erst an ein Fin-de-Siecle-
AAAlbum gedacht. Er macht gern Konzeptalben,lbum gedacht. Er macht gern Konzeptalben,
musikalische Geschichtsbilder, kompositorische
Themenabende. Das war, merkte er schnell, aber
zu klein gedacht, von der Zeit her, aber auch vom
Ort. Fin de Siecle wäre ein französischer Aus-
schnitt geworden einer gesamteuropäischen
Epoche, die mehr als vier Jahrzehnte andauerte,
die Friedenszeit zwischen 1871 und 1914.
Eine Zeit, der explodierenden Schönheit und
des ausbrechenden sozialen Elends, zwischen
„Euphorie und Fatalismus“ (Hope). Eine Epoche
bis dahin ungekannter musikalischer Sinnlich-
keit, die sich aussang auf der Oberfläche extre-
mer gesellschaftlicher Spaltungen, scheinbar mit
ihnen nichts zu tun haben wollte, ein neues mu-
sikalisches Biedermeier. Realismus gab es in den
anderen Künsten, in der Musik fand er eher
nicht statt. Oder anders. Versteckter. Eher als
musikgeschichtlicher Prozess. Als Entwicklung,
die Hope in „Belle Epoque“ in all ihrer, den Hö-
rer manchmal bis an den Rand des Zucker-
schocks führenden Fülle vorführt.
Lange trug er das Projekt in seinem Hinter-
kopf mit sich herum. Und immer mehr Stücke
kamen zusammen. Es wurde es immer wilder in
seinem Arbeitszimmer. So geht das meistens,
sagt er, erst ist nichts da, dann weiß er nicht, was
er weglassen soll. So ist am Ende ein Doppel-
album daraus geworden. Sortiert nach Kammer-
musik- und Orchesterstücken, eingespielt mit
seinem Zürcher Kammerorchester und Freun-
den wie dem Pianisten Simon Crawford-Phi-
lipps. Fein sortiert nach Entstehungsjahren.
Es gibt einen Satz, sagt Hope, in dem für ihn
der Geist der Zeit eher zufällig zusammenge-
fffasst ist. „Ich war traurig, ohne eigentlich zu wis-asst ist. „Ich war traurig, ohne eigentlich zu wis-
sen, warum, doch felsenfest davon überzeugt, al-
les Recht der Welt dafür zu haben.“ Ernest
Chausson hat den Satz gesagt. Ein großer Mann,
Komponist, Mäzen, wäre auch außerhalb Frank-
reichs so groß geworden wie Debussy und Ravel,
die er gefördert hat, wenn er nicht – 44 war er da


  • Fahrrad gefahren und eines schönen Junitages
    ungebremst in eine Steinmauer gerast wäre.
    Nicht nur in seinem Satz kulminiert alles. Für
    Chaussons Konzert für Geige, Klavier und
    Streichquartett gilt das gleiche. Ein Stück, 1892
    uraufgeführt, ist eine Art (vielleicht unbewuss-
    ter) musikalischer Selbstanalyse seiner Zeit, in
    dem sich wie in keiner anderen Komposition al-
    les sich spiegelt, der Aufbruch und der Toten-
    tanz, die schwelgerische Beschwörung einer gro-
    ßen musikalischen Vergangenheit und eine im-
    mer noch geradezu beklommen machende Vo-
    rausschau dessen, was kam.
    Drumherum, in einer wegen der geradezu
    goldbrokatenen Schönheit des Spiels von Hope
    süchtig machenden, globaleuropäischen Prali-
    nenschachtel liegen Träumereien von Debussy,
    Nachtstücke von Schönberg (ja, dieser Spätro-
    mantiker), Berg und Elgar, herrliche Raritäten
    von Enescu und Koechlin, Rachmaninow und
    Bridge. Man will literweise Lindenblütentee
    trinken dazu und Madeleines reintunken. Und
    dann kommt „À Chloris“, die geradezu neoklas-
    sisch schwebende Bachparaphrase von Reynaldo
    Hahn, dem musikalischen Tapezierer der Roma-


ne von Marcel Proust. Und dann darf Debussy
einen Scherz machen.
Dann verschwindet alles im Nichts. In einem
Klang, der kein Klang mehr ist, sagt Hope. Einem
AAAlien von Klang. Dem Schluss von Anton vonlien von Klang. Dem Schluss von Anton von
WWWeberns „Vier Stücken“. Ein Klang, der ist wieeberns „Vier Stücken“. Ein Klang, der ist wie
ein Wegspuken der Musik ins All.
Hope wollte die schöne Epoche nicht in
Schönheit sterben lassen. Wollte mit dieser
geradezu nach innen explodierten Musik uns
aufrütteln am Ende. Zeigen, wie nah wir uns
sind. Weberns Zukunft und unsere Gegen-
wart. Uns mit ihm, mit seiner Zeit in einen
Dialog verwickeln.
Das will er immer. Hope, der manische Musik-
sachensucher, der „Hobbyhistoriker“ (Hope
üüüber Hope) wird nicht müde zu tun, was er alsber Hope) wird nicht müde zu tun, was er als
WWWeltvirtuose eigentlich nicht tun müsste. Aus-eltvirtuose eigentlich nicht tun müsste. Aus-
brechen aus den Reservaten der Klassik. Nicht
nur in Konzersälen, sondern auch in Gefängnis-
sen spielen, in Krankenhäusern, Radiosendun-
gen machen. Hope ist ein unermüdlicher Media-

tor. Ein Anstifter. Menschen will er anstecken
mit Musik von Komponisten, um die sich der –
vorsichtig formuliert – strukturkonservative
Konzertbetrieb – weniger vorsichtig formuliert –
einen Dreck schert, weil sie schlecht klicken an
den virtuellen Konzertkassen.
Geschichten erzählen will er von einer ande-
ren Musikgeschichte. Von einer anderen Ge-
schichte auch. Er war einer der ersten, der klassi-
sche Konzerte gegen Rechts organisierte, Musik
aufnahm von Komponisten, die von den Deut-
schen im Holocaust ermordet wurden.
Dass Musik nicht mehr tun kann, als hinzu-
weisen auf diese andere Geschichte, dessen ist er
sich bewusst. Dass sie, dass er trotzdem etwas
bewegen, aufklären kann, daran glaubt er. „Ohne
Geschichte, ohne Kenntnis von Geschichte sind
wir nichts, wissen wir nicht, wer wir sind. Wenn
wir nicht wissen, wer wir sind, gehen wir blind,
ohne zu schauen.“ Sind verurteilt, die Wege
nachzugehen, die schon einmal in die Katastro-
phe führten. Die Wege der Schlafwandler.

WWWürde gern mit ürde gern mit
einer Zeitmaschine in
Marcel Prousts Salons
reisen: Daniel Hope
mit seiner Guarneri

INGE PRADER

Der
Sound

der Schlafwandler


Sound


Schlafwandler


Sound


Daniel Hope ist Violinvirtuose, Orchesterleiter,


Festivalchef, Jetzt hat er ein Album aufgenommen mit


Musik der Belle Epoque. Warum ausgerechnet jetzt?


E


s ist jetzt vielleicht doch nicht die Zeit für
öffentliches Lecken und Schlecken. Wie ja
üüüberhaupt die Epoche der Geschmackshy-berhaupt die Epoche der Geschmackshy-
pertrophie sich langsam dem Ende zuneigt. Bloß
die Kunst fährt noch immer üppig auf. Ungezähl-
te Reihen von Kleingebäck hat Elizabeth Willing
(((Australierin, Bachelor plus Master of Fine Arts)Australierin, Bachelor plus Master of Fine Arts)
an die weiße Wand geklebt und allen Ernstes zum
AAAblutschen freigegeben.blutschen freigegeben.

VON HANS-JOACHIM MÜLLER

Man ist nicht ohne Bedenken nach Basel gefah-
ren und hat sich im Museum Tinguely die Aus-
stellung „Amuse-bouche“ angesehen. Nicht allein
wegen des fehlenden Mundschutzes. In Kleinge-
bäck zu beißen käme ohnehin nicht infrage. Auch
fffand man den berüchtigten Appetithappen, derand man den berüchtigten Appetithappen, der
gerne als „Gruß aus der Küche“ auf den Tisch
kommt, schon immer etwas überflüssig. Aber
mehr noch beschäftigte beim Grenzübertritt die
Frage, ob es der Kunst, die derart auf Sinnlichkeit
reduziert erscheint, womöglich doch etwas an
Sinn gebrechen könnte. Was soll man schon dazu
sagen, wenn Janine Antoni in ihrer Fotoarbeit
„Mortar and Pestle“ eine Zunge zeigt, die an ei-

nem Augapfel schleckt? Man hat das noch nicht
aaausprobiert, aber ekelig sieht es in jedem Fall aus.usprobiert, aber ekelig sieht es in jedem Fall aus.
Nun ist es ja immer verdienstvoll, wenn man
etwas Ordnung schafft. Das Museum, das sich in
der Hauptsache der Werkpflege seines Schweizer
Namenspatrons widmet, hat vor Jahren auch
schon das künstlerische Riechen und Tasten in
umfangreichen Recherchen zum Thema ge-
macht. Wobei die schlimmen Dinge nicht immer
exakt zuzuordnen sind. Dieter Roths berüchtig-
tes „Schimmelbild“ aus dem Jahr 1969, das jetzt
wieder im Aufgebot ist, bleibt – zumindest für die
verzweifelnden Konservatoren und Restaurato-
ren – auch ein beträchtliches olfaktorisches Risi-
ko. Anders als der geschmacks- und geruchsfreie
Schimmelprozess, den Sam Taylor-Johnson in ih-
rem Zeitraffervideo vorführt. Wie da über dem
Obst langsam, aber stetig der graue Belag wächst,
das kommt einem vor wie eine Parabel auf die fa-
tale Verfallszeit, zu der wir Leben sagen.
Es ist dann doch recht vergnüglich gewesen in
der Schau vom Geschmack, der hier ganz ohne
kulturelle Ableitungen auskommt und sich auf
basale Alltagskategorien wie süß, salzig, scharf,
bitter oder sauer konzentriert. So will einen
WWWarhols Siebdruck „Campbell‘s Soup“ genausoarhols Siebdruck „Campbell‘s Soup“ genauso

auf den richtigen Geschmack bringen wie Beuys’
seltsames Duo aus Zitrone und Glühbirne, das
unter dem Namen „Capri Batterie“ des Künst-
lers ganze Italien-Schwärmerei illuminiert. Un-
ter Quarantäne war das Land ja damals auch
noch nicht.
Dass Daniel Spoerri, neben Jean Tinguely ein
Garant der vorwiegend heiteren Schweizer
Nachkriegskunst, mit seinen Eat-Art-Menüs er-
giebig vertreten sein würde, war zu erwarten.
Niemand hat ja so gern den Tisch gedeckt und
aaaus den Resten opulenter Dinners wandtauglicheus den Resten opulenter Dinners wandtaugliche
Erinnerungsstücke gemacht. Sein Markenzei-
chen: die Fixierung ganzer Bistrotischauflagen,
die als „Fallenbilder“ mit soliden Aufhängevor-
richtungen versehen worden sind. Das sieht zwar
selten einladend aus, aber zumindest die über-
vollen Aschenbecher wirken doch wie kostbare
Archivalien einer abgetanen Vergnügungssache.
So wie fast niemand mehr versteht, dass man ein-
mal sinnend vor Rémy Zauggs sauberen Schrift-
bildern stand und sich in Erwartung höherer Er-
kenntnis den linguistischen Charme eines grün
grundierten Satzes gefallen ließ: „Und wenn ich
einen unreifen Apfel esse, das giftige Grün nicht
mehr vorhanden wäre.“

So ist es. Angestrengte Nachhilfe in Ge-
schmackssicherheit indes sollte niemand er-
warten. Auch gibt es so viel nicht zu lernen in
der Ausstellung. Immerhin erfährt man, dass
die italienischen Futuristen, die einst so rabiate
Sprüche draufhatten, im fortgeschrittenen Al-
ter eher um eine „cucina futurista e pasta-
sciutta“ besorgt waren. Ansonsten geben
Kunstschelme wie Urs Fischer das Niveau vor,
der ein wüstes Loch in die Wand gehackt hat,
aus dem, wenn der Bewegungssensor funktio-
niert, eine Zunge züngelt und sich bei Strom-
ausfall oder Publikumsmangel in ihren elektro-
mechanischen Schlund zurückzieht.
Überhaupt der Publikumsmangel. Niemand
an der Schleckwand. Unbenutzt der Getränke-
automat mit vermutlich unbekömmlichem Sau-
erkrautsaft, den das Berliner Duo „Slavs and Ta-
tars“ aufgestellt hat. Geradeso wie Jorinde
Voigts Glas mit Honig vom Schliersee und einer
Beigabe CBD-Wohlfühltropfen unverkostet
bleibt. Gerne hält man sich eben in Zeiten, in
denen einem vor dem Phantombild des Virus
mit seinen bescheuerten Saugnäpfen der Appe-
tit vergeht, auch die Kunst etwas vom Leibe.
Aber dafür kann die Ausstellung ja nichts.

Die Grenzen des guten Geschmacks


Die Baseler Ausstellung „Amuse-bouche“ zeigt Geschmackskunst – und lädt sogar zum Mitessen ein. Das kommt gerade nicht so gut an


IIIss mich! ss mich!
Andy Warhols Suppendosen-
siebdruck von 1969

BPK / STAATSGALERIE STUTTGART

© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT-2020-03-14-ip-5 d20602573016a96a04d0a42edfd578ea
Free download pdf