Die Welt - 14.03.2020

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14.03.20 Samstag,14.März2020DWBE-HP


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6 POLITIK DIE WELT SAMSTAG,14.MÄRZ


F


rançois Jullien gehört er zu
den wirkungsstärksten und
meist übersetzten Philoso-
phen Frankreichs. Dennoch
ist er dem breiten Publikum
nicht bekannt, weil er das Fernsehen
meidet, die große Bühne der Oberfläch-
lichkeit. Jullien, 68, Philosoph, Helle-
nist und Sinologe, hat Umwege gewählt,
die ihn nach China, nach Japan und
über die Literatur zurück zur Philoso-
phie geführt haben. Sein einziges Ziel
war, anders zu denken. In über 40 Bü-
chern hat er ein beispiellos breites Feld
der Philosophie bearbeitet. Julliens
jüngste Bücher handeln von den „Res-
sourcen des Christentums“ und „Vom
wahren Leben“, das er komplett ohne
Computer und Smartphone führt.

VON MARTINA MEISTER
AUS PARIS

WELT: François Jullien, mit keinem
Ihrer Bücher haben Sie so viel Auf-
merksamkeit erregt wie mit „Es gibt
keine kulturelle Identität“. Was stört
Sie am Konzept der Identität?
FRANÇOIS JULLIEN: Ich habe nichts
gegen die Identität als solche einzu-
wenden. Das ist ein legitimes Konzept,
das sich in der griechischen Antike ent-
wickelt hat. Die Ontologie der Grie-
chen geht von einem Sein aus, das
gleich bleibt. Das ist für jeden nachvoll-
ziehbar, denn wir haben als Subjekte
natürlich alle eine Identität. Unser
Ausweis ist eine Art Beleg dafür. Das
Foto mag sich über die Jahre verän-
dern, weil wir altern, aber es bleibt ein
wiedererkennbarer Kern, eine Art bio-
logischer Sockel, der zwischen Geburt
und Tod gleich bleibt. Davon machen
wir sozial Gebrauch, dagegen ist nichts
einzuwenden.

Aber Sie haben einen Einwand, wenn
das Konzept der Identität auf Grup-
pen oder Nationen übertragen wird...
Richtig. Die Kultur kennt keine Geburt
und keinen Tod, keinen Anfang und kein
Ende, genauso wenig wie das Kollektiv.
Beide kann man daher nicht dem Sche-
ma der Identität unterordnen. Letztere
geht außerdem mit der Vorstellung von
kultureller Differenz einher, die ich für
komplett suspekt halte.

Warum?
Differenz setzt voraus, dass man ein-
ordnet. Man sucht Unterschiede, bis
man zur Essenz vorstößt, wie es Aristo-
teles formuliert hat, um dann Typolo-
gien zu erstellen. Ich weiß, dass sie die
AfD in Deutschland um dieses Thema
intensiv kümmert, aber selbst innerhalb
eines Landes wie Deutschland gibt es
enorme kulturelle Unterschiede. Doch
indem man die Identität qua Differenz
bestimmt, schafft man automatisch ei-
ne Trennung. Man isoliert die einen von
den anderen.

Was schlagen Sie stattdessen vor?
Ich schlage vor, von écartzu sprechenzu sprechenzu sprechen,,
was man nicht ganz glücklich mit Ab-
stand übersetzen kann. Abstandlässt
sich nicht einordnen, er schafft eher
Unordnung, er stört, wie eine Abwei-
chung von der Norm. Man kann diesen
Abstand ausschöpfen, studieren, aus-
werten, sich daran bereichern. Vor al-
lem kann man den anderen noch sehen,
wenn Abstand herrscht. Es entsteht ein
Zwischenraum, ein Spannungsverhält-
nis. Genau dort verorte ich die Möglich-
keit eines effektiven und intensiven Ge-
meinsamen, das man nicht mit Assimi-
lation verwechseln darf.

Das ist eine imminent politische Bot-
schaft....
Richtig. Ich halte das für politisch
wichtig. Auslöser, dieses Büchlein zu
schreiben, waren die letzten Präsident-
schaftswahlen in Frankreich, als Alain
Finkielkrauts „Identité malheureuse“
erschien (Die unglückliche Identität)
und Alain Juppé „L’identité heureuse“
(Die glückliche Identität) veröffent-
lichte. Es wurde mit dem Konzept der
Identität regelrecht gepfuscht und
man hat sich im Begriff vertan. Mein
Ziel war es, ein stichhaltiges Konzept
zu entwickeln.

Warum ist der Begriff der kulturellen
Identität rechts wie links zu einer po-
litischen Obsession geworden?
Weil es sich um eine Wahnvorstellung
handelt. Nichts ist verunsichernder als
Wahnvorstellungen. Ideen kann man
einordnen. Aber hier werden wir von et-
was überwältigt. Dabei handelt es sich
um eine schlichte Verwechslung zwi-
schen Personen und Kulturen. Die Wahl
zwischen toleranter Offenheit und re-
aktionärer Rückzug ist falsch, weil das
Konzept nicht stimmt.

Frankreich reibt sich schon länger an
diesen Fragen, Was raten Sie den
Deutschen?
Eine Debatte zu führen und dabei die
richtigen Werkzeuge zu benutzen,

nicht falsche Konzepte. Frankreich ist
ein besonderer Fall, weil das Land
durch die islamistischen Attentate
traumatisiert wurde und auch der Lai-
zität hier eine wichtige Rolle spielt.
Aber auch in Deutschland wird sich die
Frage früher oder später stellen, die
AfD tut es bereits. Allerdings mit fal-
scher Begrifflichkeit.

Mit der Identität begraben Sie gleich-
zeitig auch die Vorstellung, dass es
kulturelle Werte gibt. Warum?
Ich verabschiede mich ganz und gar
nicht davon. Das ist ein wichtiger Be-
griff, aber er ist moralisch. Die Kultur
hat nichts mit Moral zu tun. Werte kann
man predigen. Ich spreche deshalb von
kulturellen Ressourcen. Die lassen sich
weder predigen noch schließen sie sich
gegenseitig aus. Man nutzt sie oder man
lässt es bleiben.

Was muss man sich unter einer Res-
source vorstellen?
Für mich ist der Plural wichtig. Es geht
um Ressourcen: Sie sind unerschöpf-
lich. Sie haben nichts mit Besitz oder
Reichtum zu tun, den man vererbt, der
endlich und begrenzt ist. Wenn man sei-
nen Kindern dagegen Ressourcen wei-
tergibt, dann nur in dem Sinne, dass
man ihnen die Fähigkeit überlässt, diese
auszuschöpfen. Das ist sehr viel for-
dernder. Es handelt sich um ein Potenti-
al und eine Verantwortung: Ich bin ver-
antwortlich für kulturelle Ressourcen,
in die ich hineingeboren wurde, wie ich
es für die Ressourcen der Natur bin.

Was entgegnen Sie den so genannten
Identitären, die mit spektakulären

Aktionen einen Grenzpass zwischen
Italien und Frankreich sperren, um
Migranten an der Überquerung zu
hindern?
Es gibt nur eine Lösung: Wir müssen
ganz offen über Migration sprechen. Es
gibt das Asylrecht, die Pflicht zur Auf-
nahme. Daran ist nicht zu rütteln. Aber
ich höre von Einwanderfamilien in
Frankreich, die ihren Kindern verbie-
ten, zu Hause Französisch zu sprechen.
Sie positionieren sich absichtlich außer-
halb des Gemeinsamen. Das ist inakzep-
tabel und der Staat muss einschreiten.
Die Politiker müssen wirklich wachsam
bleiben. Sie wissen sehr genau, dass Vla-
dimir Putin den Exodus in Syrien pro-
voziert hat, einzig und allein um Europa
zu destabilisieren. Die Flüchtlinge kön-
nen nicht nach Russland und erst recht
nicht nach China. Europa ist ihre einzi-
ge Möglichkeit. Putin verfolgt mit die-
sem Krieg und seinen Massakern ganz
gezielt politische Ziele.

Das wäre ein extrem zynisches Kal-
kül...
Zynisch sicher, aber außerordentlich
wirksam. Putin hat da keine Bedenken.
Er kommt vom KGB und macht genau
so weiter. Den Chinesen kommt das üb-
rigens zupass. Man muss sich nur um-
hören, was sie sagen. Die Migration, die
wir erleben, ist auch nicht mit der zwi-
schen Mexiko und den USA zu verglei-
chen, wo es um wirtschaftliche Aspekte
geht. In diesen wirklich elenden Schich-
ten der Bevölkerung, die flüchten, wird
der Islam zu einem exklusiven Dogma.
Das Ganze ist ein trojanisches Pferd,
das Europa zerstören soll. Die Konse-
quenzen erleben wir bereits in Frank-

reich wie in Deutschland. Wir können
darauf jetzt nur mit einem intelligenten
Konzept kultureller Abstände und Ei-
genheiten reagieren. Genauso braucht
es aber auch starke, politische Antwor-
ten, die dem neuen russischen, chinesi-
schen und amerikanischen Imperialis-
mus etwas entgegenhalten.

Emmanuel Macron hat das versucht.
Jetzt reicht er den Russen die Hand,
was Deutsche und Osteuropäer er-
zürnt. Welche politische Antwort
könnte es geben?
Es gibt nur eine einzige: Europa. Ent-
weder wir machen Europa oder nicht.
Die EU war mal ein Ideal des Friedens
in der Nachkriegszeit, dann wurde es
zum bürokratischen Monster, dem es
nur noch um Handelsüberschüsse ging.
Es braucht jetzt einen Schulterschluss
zwischen Deutschen und Franzosen,
weil sie zusammen ausreichend Ge-
wicht haben.

Die Entzauberung Europas hängt Ih-
rer Meinung nach damit zusammen,
dass es sich von seinen christlichen
Wurzeln abgetrennt hat. Welche Kon-
sequenzen hat das?
Europa vermeidet die Frage des Chris-
tentums, weil sie stört, verunsichert
und weil man sich einfach nicht mehr
traut, sie zu erwähnen. Das wurde deut-
lich, als die Europäer die Präambel zur
Verfassung schreiben wollten. Man
wollte definieren, was das Wesen Euro-
pas ist. Die Polen sagten: Europa ist
christlich. Die Franzosen erröteten und
behaupteten: Europa ist laizistisch, auf-
klärerisch. Man konnte sich nicht eini-
gen. Die Folge: Europa ist in der Krise.

Es geht Ihnen dabei also nicht um die
Frage, ob man gläubig ist oder nicht.
Es geht ihnen um das Christentum als
Ressource?
Exakt. Die klassische Frage des Glau-
bens hat ihr Verfallsdaten längst über-
schritten, die Kirchen sind leer, und sie
hindert uns daran, das Christliche als
mögliche Ressource Europas zu sehen.
Wir können 20 Jahrhunderte Geschich-
te nicht einfach auslöschen. Das Chris-
tentum ist gegenwärtig. Es zu verdrän-
gen, ist fatal. Doch solange wir Europä-
er uns diese Fragen nicht stellen, solan-
ge wir das Christliche nicht weiterden-
ken oder damit abrechnen, bleibt Euro-
pa ein leeres Wort.

Sie selbst haben viele Ressource aus-
geschöpft. Sie lesen die Griechen im
Original, genauso wie die chinesi-
schen Denker. Warum war für Sie der
Umweg über China so wichtig?
Um anders zu denken. Ich habe Chine-
sisch gelernt, um Platon besser zu le-
sen. Wir Europäer sind Erben der Grie-
chen. Aber was wissen wir über uns, so-
lange wir dieses Erbe nicht hinter uns
lassen? Ich habe mich bewusst für eine
Denken des Anderswo entschieden.
Durch den größtmöglichen Abstand ei-
ner entwickelten Kultur wollte ich un-
ser europäisches Denken wie ein Kon-
zept von außen betrachten. Es ist sagen-
haft erfrischend, in eine Sprache und
somit in ein Denken einzutauchen, das
nicht wie das eigene funktioniert in Be-
griffen wie Sein, Freiheit, Wahrheit. Das
eröffnet völlig neue Möglichkeiten des
Denkens und Hinterfragens all dessen,
was wir für Gegeben halten.

Was haben Sie als Kenner und Liebha-
ber Chinas...
Moment, ich liebe China nicht. Ich inte-
ressiere mich für China als Zwischen-
raum, nicht wie die meisten Franzosen,
die China gegenüber nur zwei Gefühle
kennen: blinde Anbetung oder dumme
Feindschaft.

Das Coranavirus nährt im Augenblick
vor allem alte Muster der Feind-
schaft...
Es zeigt uns vor allem, wie es um das
bürokratisches, totalitäre Regime Chi-
nas steht: Einen ganzen Monat lang ha-
ben sie versucht, das Problem unter
den Teppich zu kehren und schließlich
den armen Arzt beschuldigt. Aber das
Virus ist ihrer totalen Kontrolle ent-
wischt. Das Regime nutzt die Epidemie
nun, um die Freiheit noch weiter ein-
zuengen, aber das System zeigt erste
Risse. Das Virus schwächt auch die
Macht Xi Jinpings.

Wird uns China „auffressen“, wie vie-
le fürchten?
Ich wehre mich gegen diese Sichtweise,
aaaber es besteht überhaupt kein Zweifelber es besteht überhaupt kein Zweifel
daran, dass China stärkste Wirtschafts-
macht wird. China folgt einer hegemonis-
tischen Logik. Die Chinesen wollen Ra-
che, sie wollen Macht und sie werden sie
bekommen. Der Weg dorthin führt über
die Seidenstraße. Sie sind dabei viel ge-
schickter als die Europäer es waren, die
kolonisiert haben. Sie spielen Go, nicht
Schach. Beim Schach schaltet man den
Gegner aus, beim Go macht man einen
Zug hier, einen Zug dort und baut seinen
Einfluss aus. Die Frage lautet eher: Wird
Europa diese Phase des Abstiegs und Nie-
dergans überleben? Es liegt in unserer
VVVerantwortung. Europa ist zu histori-erantwortung. Europa ist zu histori-
scher Intelligenz fähig und kann in zwan-
zig Jahren mit einer neuen Initiative wie-
der das Heft übernehmen, denn der neue
Imperialismus von Trump, Erdogan und
Xi wird sich abnutzen.

Was ist das „wahre Leben“, von dem
Sie in ihrem jüngsten Buch schreiben?
Man sollte es nicht positiv definieren,
sondern negativ, sonst landet man bei
der unendlichen Wiederholung des Pa-
radieses. Das wahre Leben ist das Nein
zum Nicht-Leben. Es bedeutet, sich dem
Pseudo-Leben entledigen, das das wahre
Leben überlagert, was, zugegeben, im-
mer schwieriger wird. Früher konnte
man den Feind, die Unterdrückung und
Entfremdung benennen. In Zeiten der
globalisierten Märkte, des Internets, der
Vermarktung des Intimen, ist das Un-
wahre sehr viel diffuser und ein Umfeld,
in dem die Arbeit des Philosophen im-
mer schwieriger wird. Ich persönlich ha-
be aus diesem Grund kein Smartphone,
keinen Computer. Da inzwischen alles
im Internet ist, verlangt mir diese Ver-
weigerung eine Überlebensstrategie ab.
Die hat ihren Preis. Aber sie gibt mir
Raum, zu denken.

TFrançois Jullien: Es gibt keine kultu-
relle Identität. Aus dem Französischen
von Erwin Landrichter. Suhrkamp

François Jullien: Ressourcen des Chris-
tentums. Zugänglich auch ohne Glau-
bensbekenntnis. Aus dem Französi-
schen von Erwin Landrichter. Güters-
loher Verlagshaus

EAN-FRANCOIS PAGA/ OPALE/ LEEMAGE/ LAIF

„Es wurde mit dem


Konzept der Identität


GEPFUSCHT“


François Jullien ist einer der meist übersetzten französischen


Philosophen – doch er lebt eher zurückgezogen. Mit seiner Ablehnung


des Konzepts der kulturellen Identität sorgt er für Aufmerksamkeit


und schlägt einen anderen Begriff vor


E


s war ein zähes Treffen: Die EU-
Innenminister konnten sich bei
ihren Beratungen am Freitag in
Brüssel nicht auf eine Aufnahme min-
derjähriger Flüchtlinge aus Griechen-
land einigen. Jetzt will eine „Koalition
der Willigen“ aus sieben bis acht Län-
dern vorangehen. Nach Angaben von
EU-Innenkommissarin Ylva Johansson
wollen sie rund 1600 unbegleitete min-
derjährige Migrantenund andere Mig-
ranten wie kranke Kinder und deren El-
tern von den griechischen Inseln holen.
Voraussetzung ist, dass sie vor dem 1. Ja-
nuar dort angekommen sind. Damit soll
verhindert werden, dass die Entschei-
dung weitere Migranten zur Flucht aus
dem Transitland Türkei in Richtung Eu-
ropa animiert („Pull-Faktor“).

VON CHRISTOPH B. SCHILTZ
AUS BRÜSSEL

Auf den ägäischen Inseln leben mehr
als 40.000 Migranten in völlig überfüll-
ten Lagern, etwa 2000 von ihnen sind
minderjährig. Neben Deutschland gehö-
ren auch Frankreich, Irland, Finnland,
Portugal, Luxemburg und Kroatien zu
den aufnahmewilligen Ländern. Wer
welche Migranten nimmt, ist noch unge-
klärt. Deutschland will vor allem kranke
Kinder aufnehmen. Es dürften einige
hundert werden. Die Zahl fällt aber
kaum ins Gewicht.
Zum Vergleich: Jeden Tag kommen
heute noch rund 300 neue Asylsuchende
nach Deutschland. Aus Sicht von Exper-
ten ist die Entscheidung zur Aufnahme
von minderjährigen und kranken Kin-
dern aber nur ein Tropfen auf dem hei-
ßen Stein. EU-Diplomaten sagten, es sei
zu befürchten, dass schon bald weitere
Kinder auf die griechischen Inseln kom-
men. Darum sei es wichtig, dass die Tür-
kei ihre Grenzen wieder strikt über-
wacht und Migranten damit keine Chan-
ce auf eine Überfahrt zu den grie-
chischen Inseln hätten.
Zur Entlastung Griechenlands kün-
digte EU-Innenkommissarin Johansson
auch ein freiwilliges Programm für
Migranten zur Rückkehr in ihre Heimat
an. Einen Monat lang können sich bis
zu 5000 Migranten melden, die vor
dem 1. Januar in die Flüchtlingslager
auf den griechischen Inseln gekommen
sind. Im Gegenzug erhalten sie 2000
Euro. Die Rückkehrprämie ist bewusst
relativ hoch angesetzt. Die EU will un-
bedingt vermeiden, dass die Rückkeh-
rer von ihren Freunden und Verwand-
ten in der Heimat als „Versager“ ange-
sehen werden.
Kein großes Thema bei Treffen der
Innenminister war die angebliche Ge-
walt, die griechische Grenzschützer ge-
genüber Asylsuchenden aus der Türkei
an der Grenze angewendet haben sol-
len. „Wir sind bestürzt, dass Kommissi-
onspräsidentin Ursula von der Leyen
das rigorose Vorgehen der griechischen
Regierung gegen Schutzsuchende und
das Aussetzen fundamentaler Grund-
rechte in ihrer ersten Reaktion ohne
Einschränkung unterstützt hat“, er-
klärte die Organisation Ärzte ohne
Grenzen(MSF). Auch MSF-Mitarbeiter
seien von griechischen Sicherheitskräf-
ten bedroht worden.
Jürgen Bast, Professor für Europa-
recht an der Universität Gießen kriti-
sierte zudem, dass Migranten ohne An-
hörung verhaftet oder zurückgeschickt
worden seien. Das sei „europarechts-
widrig“. Bast weiter: „Das steht doch im
erheblichen Konflikt mit der Aufgabe
der EU-Kommission, Hüterin der Ver-
träge zu sein.“ Laut ARD kritisierte auch
das UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR),
dass Migranten teilweise in Schnellver-
fahren ohne Verteidiger an der grie-
chischen-türkischen Grenze abgeurteilt
würden. Griechenland verweist dagegen
darauf, dass sich die Migranten an der
griechisch-türkischen Grenze weitge-
hend in einem militärischen Sperrgebiet
befänden und im Land eine „Notstands-
situation“ herrsche.
Die EU-Innenminister vertreten die
Ansicht, dass sich die Europäische Kom-
mission um mögliche Rechtsverstöße
kümmern müsse. Intern wird aber be-
merkt, dass es „ein schmaler Grad ist
zwischen humanitären Erfordernissen
und dem konsequenten Schutz der euro-
päischen Außengrenze“. Insgesamt hof-
fen die EU-Länder, dass sich die Lage
spätestens nach dem für Dienstag ge-
planten Treffen zwischen dem türki-
schen Präsidenten Erdogan, Frankreichs
Staatspräsident Macron, dem britischen
Premierminister Johnson und Kanzlerin
Merkel wieder beruhigen wird.

2 000 Euro


Prämie für


RRRückkehrerückkehrer


EU-Minister wollen


Griechenland entlasten


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