Maria
Mitchell
1818–1889
Entdeckte als erster Mensch einen
Kometen mit dem Teleskop; erste
Berufsastronomin in den USA
S
ORGE DAFÜR, dass du die erste Frau
irgendwo bist“, riet ein Redakteur
der aufstrebenden Fotografin Dickey
Chapelle. Zu der Zeit verschärfte sich
gerade der Zweite Weltkrieg. Chapelle
befolgte den Rat. Mit einer Einheit
Marines schmuggelte sie sich 1945 in der Schlacht um
die Insel Okinawa an Land. Damit setzte sie sich über
ein Verbot von Journalistinnen in Kriegsgebieten hin-
weg, was sie vorübergehend ihre Presseakkreditierung
kostete, ihr aber den Ruf als furchtlose Kriegskorres-
pondentin eintrug.
Seit der Gründung von NATIONAL GEOGRAPHIC
im Jahr 1888 leisteten Frauen immer wieder Großes in
der Wissenschaft und auf Erkundungsreisen, erlang-
ten dafür aber oft wenig Anerkennung. Sie vermaßen
den Meeresboden, erklommen die höchsten Gipfel,
stellten Tiefseetauchrekorde auf und flogen um die
Welt. Ihre Überzeugungskraft brachte sie an Kriegs-
fronten, und sie überquerten ganze Kontinente.
„Es gibt keinen Grund, warum eine Frau nicht über-
all hingehen kann, wo ein Mann hingeht – und darü-
ber hinaus“, sagte die Entdeckerin Harriet Chalmers
- „Wenn eine Frau gern reist, wenn sie Fremdes,
Geheimnisvolles, Verlorenes liebt, dann wird nichts
sie zu Hause halten.“
Und doch waren Frauen dem Magazin oft nur eine
Randbemerkung wert, überschattet von berühmten
Ehemännern. „Verdammt, verdammt, verdammt!“,
heißt es 1933 im Tagebuch einer frustrierten Anne
Morrow Lindbergh über das Leben an der Seite ihres
Fliegergatten Charles. Sie machte als erste amerika-
nische Frau den Segelflugschein. „Ich bin es so leid,
immer nur das ‚Dienstmädchen des gnädigen Herrn‘
zu sein.“ Andere wurden ignoriert. Als die Geografin
Marie Tharp Anfang der Fünfzigerjahre einen Beweis
für die Theorie der Plattentektonik vorlegte, tat ein
Kollege dies als „Frauengerede“ ab. In den Zwanziger-
jahren veröffentlichte die Journalistin Juliet Bredon
ihre Artikel in NATIONAL GEOGRAPHIC unter einem
Männernamen. Selbst Frauen, die zu ihrer Zeit Welt-
ruhm erlangten wie die Astronomin Maria Mitchell
im 19. Jahrhundert, kämpften um gleiche Bezahlung.
Im NATIONAL GEOGRAPHIC-Archiv schlummern
Millionen Fotos und Dokumente. Stapel von Mikro-
filmen mit verblichenen Manuskripten und Ordner
voller Briefe enthüllen die Geschichten der Pionierin-
nen, die für unser Magazin arbeiteten. Einige stellen
wir auf den Folgeseiten vor.
Im 19. Jahrhundert richteten die
Bewohner der Insel Nantucket in
Massachusetts ihre Teleskope auf
das Meer aus, um die Rückkehr ihrer
Walfang- und Fischerboote nicht zu
verpassen. Das Glas von Maria Mit-
chell jedoch zeigte zu den Sternen.
Schon als Kind half Mitchell ihrem
Vater, einem Amateurastronomen,
komplexe Navigationsberechnun-
gen für Kapitäne auf Walfängern zu
erstellen oder die Bewegungen von
Himmelsobjekten aufzuzeichnen.
Am 1. Oktober 1847 um 22.30 Uhr
erspähte die 29-Jährige durch ihr
Teleskop etwas, das nicht auf ihren
Sternenkarten verzeichnet war: einen
Kometen.
Ihre Entdeckung und die daraus
resultierende Karriere machten sie
zur ersten Berufsastronomin der USA.
Als erste Frau wurde sie in die Ame-
rican Academy of Arts and Scien-
ces gewählt. Sie besuchte weltweit
Observatorien, war eine Fürspreche-
rin der Frauen in der Wissenschaft,
setzte sich gegen die Sklaverei und
für das Frauenwahlrecht ein.
Am neu gegründeten Vassar
College lehrte Mitchell Astronomie
und untersuchte Planeten, Sterne,
Kometen und Finsternisse – und sie
kämpfte darum, das gleiche Gehalt
zu bekommen wie ihre männlichen
Kollegen. Der von ihr entdeckte
Komet 1847-VI wurde unter dem
Namen „Miss Mitchell’s Comet“
bekannt. Ein Mondkrater wurde
ebenso nach ihr benannt wie ein
Frachtschiff im Zweiten Weltkrieg,
die „S. S. Maria Mitchell“. 1888, ein
Jahr vor ihrem Tod, gründete ihr
Bruder, der Meeresforscher Henry
Mitchell, mit anderen zusammen die
National Geographic Society.
FOTOS AUF DEN VORIGEN SEITEN: BETTMANN/GETTY
IMAGES (MITCHELL, LINDBERGH, ANABLE); THOMAS J.
ABERCROMBIE (JOHNSON); RICHARD H. STEWART (PUGH);
MILO WOODBRIDGE WILLIAMS (GRIFFIN); AMADO ARAÚZ,
MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG DER ARAÚZ-SAMM-
LUNG (TORRES DE ARAÚZ); JOHN TEE-VAN (BOSTELMANN);
JOSEPH H. BAILEY (THARP)
Frauen: Jahrhundert des Wandels
EINE GANZJÄHRIGE SERIE
116 NATIONAL GEOGRAPHIC