der AUN zufolge sind die Sicherheitsmaßnah-
men notwendig. Einige meinen allerdings, die
Mädchen würden zu sehr abgeschirmt. „Gleich
nach der Freilassung wurden sie von der Regie-
rung in einer Einrichtung in Abuja festgehalten.
Danach brachte man sie zur AUN“, so Anietie
Ewang, nigerianische Forscherin bei Human
Rights Watch, die den Fall aufmerksam verfolgt.
„Es scheint, dass sie in jeder Phase abgeschottet
werden.“ Für jede von ihnen übernehmen die
nigerianische Regierung und private Spender
mindestens sechs Jahre lang die Ausbildungs-
kosten. Einige Mädchen interessieren sich für
ein Jurastudium, andere wollen Schauspielerin-
nen, Schriftstellerinnen oder Buchhalterinnen
werden. 15 Schülerinnen haben das Highschool-
Programm der NFS abgeschlossen und studieren
jetzt an der Universität.
Mary K., die am Tag nach der Entführung
geflohen war, kam 2014 auf den Campus, ohne
ein Wort Englisch zu sprechen. Nach zwei Jah-
ren schaffte sie es auf die AUN. Anfangs hatte
sie es nicht leicht. Sie wusste, dass die anderen
über sie redeten, und erwog, an eine andere Uni-
versität zu wechseln. Inzwischen bewegt sie sich
frei auf dem Campus und scheint alle zu kennen.
Einmal die Woche gibt sie einer Gruppe Schüle-
rinnen Nachhilfe in Zeitmanagement und Eng-
lisch und unterstützt bei der Vorbereitung auf
die drei standardisierten Aufnahmeprüfungen
der AUN. Dieses Jahr verbringt sie ein Auslands-
semester in Rom. Nicht alle Opfer des Konflikts
mit Boko Haram haben solche Möglichkeiten.
Im Bundesstaat Borno, dem Epizentrum der
Krise, fand zwei Jahre lang kein Unterricht
statt. Dort und in zwei benachbarten Staa-
ten wurden um die 500 Schulen zerstört, 800
geschlossen und über 2000 Lehrkräfte getötet.
ETWA 25 KILOMETER vom AUN-Campus entfernt
steht Gloria Abuya um fünf Uhr morgens auf
und läuft zwei Stunden vom Flüchtlingslager
zur Schule. Als die Boko-Haram-Milizen 2014
in Glorias Heimatort Gwoza einfielen, töteten
sie die Männer und befahlen den Ehefrauen,
die Leichen zu begraben. Später nahmen sie
die Mädchen mit. Gloria blieb zwei Monate in
Gefangenschaft. Sie entkam eines Abends, als
ihre Bewacher beteten.
Frauen, die aus Boko-Haram-Gefangen-
schaft zurückkehren, werden in ihren Dörfern
oft gefürchtet, Familien verstoßen ihre Töch-
ter. Gloria weiß nicht, ob und wann sie je in
ihr altes Leben zurückkehren kann. „Zu Hause
gibt es nichts, zu dem ich zurückkehren könn -
te“, sagt sie.
Im Mai 2019, eine Woche vor Beginn der Som-
merferien, steckten die Chibok-Schülerinnen
mitten in den Vorbereitungen des Jahrestags
ihrer Freilassung. „Es ist sehr traurig, weil wir
an unsere Schwestern im Wald denken“, sagte
Amina Ali, als sie sich nach einer ganztägigen
Probe für die Festlichkeiten zum Abendessen
umzog. „Und uns – uns geht es gut.“ Am nächs-
ten Tag führte die Theatergruppe ein Stück auf,
in dem zwei Mädchen entführt werden, um
Lösegeld zu erpressen, und die Familien um ihre
Freilassung kämpfen. Es war eine Satire auf die
Unfähigkeit der Polizei, faule Amtsträger und
geldgierige Entführer. Als die „Gefangenen“ frei-
gelassen wurden und zu ihren Familien zurück-
kehrten, war der Applaus stürmisch.“
IN ABUJA BERICHTEN DIE FAMILIEN von drei ver-
missten Mädchen; sie hätten keine Telefonnum-
mer, die sie anrufen könnten, um Neuigkeiten zu
erfahren. Bei neuen Nachrichten würde man sie
nicht vorab informieren, und seit einem span-
nungsgeladenen Treffen mit Präsident Muham-
madu Buhari im Jahr 2016 gäbe es auch keinen
Kontakt mehr zur Regierung. Die äußert sich
inzwischen kaum noch zu den Vorfällen. Im
April 2019, am fünften Jahrestag der Entfüh-
rung, hatte Buhari den Nigerianern erklärt, es
würden „vielfältige Anstrengungen zur Freilas-
sung der Chibok-Mädchen unternommen“.
Als dann der Sommer nahte, erfuhr man an
der AUN, dass die Terroristen die Häuser der
Familien mehrerer Chibok-Schülerinnen nieder-
gebrannt hätten. Sicherheitschef Lionel Rawlins
riet den jungen Frauen davon ab, nach Hause zu
fahren. Etwa 90 von ihnen fuhren trotzdem. Für
manche von ihnen war es erst der zweite Som-
mer seit der Freilassung, sie sehnten sich nach
ihren Familien.
Aber an der AUN sorgt man sich nicht nur
um ihre Sicherheit: Die meisten der Frauen sind
über 20, und in der Region ist es nicht üblich,
Nachdem Esther Jo-
shua freikam, erhielt
sie einen Anruf von
ihrer Freundin. Patience
Bulus war schon frü-
her geflohen und stu-
diert jetzt in den USA.
Patience riet Esther,
diese zweite Chance
zu ergreifen. „Das ist
die beste Gelegen -
heit, etwas Gutes
für uns zu erreichen“,
sagte sie.
DIE CHIBOK-SCHÜLERINNEN 95