National Geographic Germany - 03.2020

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so lange zur Schule zu gehen. Hätten sie nicht


Jahre in Gefangenschaft verbracht, dann hät-


ten viele jetzt schon eine eigene Familie. Als


im vorigen Herbst acht Studentinnen nicht


zurückkehrten, hieß es, die Hälfte von ihnen


habe geheiratet.


Am Sonntag vor der Heimfahrt hielt ihnen

ein Pastor eine Predigt. „Einige von euch


haben Schlimmes durchgemacht; sie sind vom


Schatten des Todes gestreift worden“, sagte er.


„Amen!“, erwiderten die Mädchen. „Manche von


euch fahren jetzt weg. Manche haben Angst.“


Er hob die Stimme. „Habt keine Angst! Wer in


Angst lebt, zieht die Gefahr auf sich.“ Grace


Dodo, eine grazile Studentin, die am Stock geht,


legte den Kopf zur Seite und antwortete mit den


anderen: „Ja!“


„Ich möchte, dass ihr nach Hause fahrt und

zurückkommt und euren Abschluss macht“,


sprach der Pastor. Während Esther Joshua für


die Heimfahrt packte, verlebte Patience Bulus


den Sommer auf dem idyllischen Campus des


Dickinson College in Carlisle, Pennsylvania.


2018 hatte die frühere AUN-Präsidentin Margee


Ensign dort ein College-Vorbereitungsprogramm


gegründet und vier der Chibok-Schülerinnen


aufgenommen. Patience studierte in Ruhe, wie


eine ganz normale Studentin. Im April 2019


sprach sie bei einer Forumsdiskussion im US-


Capitol über die Krise in Nigeria. Seitdem ist


sie mit ihrem breiten Lächeln und den bunten


Kopftüchern auf dem ganzen Dickinson-Cam-


pus bekannt. Man spricht sie an und fragt sie


nach ihrer Geschichte. Und dann erzählt sie.


Warum auch nicht? Sie will Psychologie studie-


ren und Therapeutin werden oder mit Flücht-


lingen arbeiten. Statt zur Therapie geht sie jetzt


zur Karriereberatung. „Vergessen werde ich es


nie“, sagt Patience. „Aber ich tue so, als hätte ich


es vergessen. Ich muss nach vorn schauen.“ j


Aus dem Englischen von Ina Pfitzner


Nina Strochlic ist Redakteurin bei NATIONAL
GEOGRAPHIC. Die französische Fotografin
Bénédicte Kurzen hat sich auf Westafrika und
den Nahen Osten spezialisiert.


Letztes Jahr im Mai fei-
erten Schülerinnen und
Lehrkräfte den Jahres-
tag der Freilassung. Es
wurden Gedichte ver-
lesen, Reden gehalten
und ein Theaterstück


über eine fiktive Ent-
führung aufgeführt.
Am Ende ließen die
Mädchen Luftballons
steigen, darunter
112 schwarze – einen
für jede Vermisste.

DIE CHIBOK-SCHÜLERINNEN 97
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