so lange zur Schule zu gehen. Hätten sie nicht
Jahre in Gefangenschaft verbracht, dann hät-
ten viele jetzt schon eine eigene Familie. Als
im vorigen Herbst acht Studentinnen nicht
zurückkehrten, hieß es, die Hälfte von ihnen
habe geheiratet.
Am Sonntag vor der Heimfahrt hielt ihnen
ein Pastor eine Predigt. „Einige von euch
haben Schlimmes durchgemacht; sie sind vom
Schatten des Todes gestreift worden“, sagte er.
„Amen!“, erwiderten die Mädchen. „Manche von
euch fahren jetzt weg. Manche haben Angst.“
Er hob die Stimme. „Habt keine Angst! Wer in
Angst lebt, zieht die Gefahr auf sich.“ Grace
Dodo, eine grazile Studentin, die am Stock geht,
legte den Kopf zur Seite und antwortete mit den
anderen: „Ja!“
„Ich möchte, dass ihr nach Hause fahrt und
zurückkommt und euren Abschluss macht“,
sprach der Pastor. Während Esther Joshua für
die Heimfahrt packte, verlebte Patience Bulus
den Sommer auf dem idyllischen Campus des
Dickinson College in Carlisle, Pennsylvania.
2018 hatte die frühere AUN-Präsidentin Margee
Ensign dort ein College-Vorbereitungsprogramm
gegründet und vier der Chibok-Schülerinnen
aufgenommen. Patience studierte in Ruhe, wie
eine ganz normale Studentin. Im April 2019
sprach sie bei einer Forumsdiskussion im US-
Capitol über die Krise in Nigeria. Seitdem ist
sie mit ihrem breiten Lächeln und den bunten
Kopftüchern auf dem ganzen Dickinson-Cam-
pus bekannt. Man spricht sie an und fragt sie
nach ihrer Geschichte. Und dann erzählt sie.
Warum auch nicht? Sie will Psychologie studie-
ren und Therapeutin werden oder mit Flücht-
lingen arbeiten. Statt zur Therapie geht sie jetzt
zur Karriereberatung. „Vergessen werde ich es
nie“, sagt Patience. „Aber ich tue so, als hätte ich
es vergessen. Ich muss nach vorn schauen.“ j
Aus dem Englischen von Ina Pfitzner
Nina Strochlic ist Redakteurin bei NATIONAL
GEOGRAPHIC. Die französische Fotografin
Bénédicte Kurzen hat sich auf Westafrika und
den Nahen Osten spezialisiert.
Letztes Jahr im Mai fei-
erten Schülerinnen und
Lehrkräfte den Jahres-
tag der Freilassung. Es
wurden Gedichte ver-
lesen, Reden gehalten
und ein Theaterstück
über eine fiktive Ent-
führung aufgeführt.
Am Ende ließen die
Mädchen Luftballons
steigen, darunter
112 schwarze – einen
für jede Vermisste.
DIE CHIBOK-SCHÜLERINNEN 97