2020-02-28 trend

(Jacob Rumans) #1

N


eue Leser, die das Jahr 2020 mit
dem festlichen Vitaminstoß eines
trend-Abos eröffneten, sollten vielleicht
wissen, dass jedes zweite Essay-Thema an
einer Bar-Theke gefunden wird. Idealer-
weise im Rahmen eines kleinen Rudels,
das nur über Neues und Entlegenes dis-
kutiert.
Verblüffend vielleicht, dass das heutige
Thema nicht schon früher aufstieg. Denn
die Unternehmer und Topmanager mei-
nes Rudels haben sich gewiss oft im Stil-
len gefragt, ob ihre fantasievolle Über-
windung von geschäftlichen Hindernis-
sen und die schöpferische Findung neuer
Produkte nicht auch mit Kunst zu tun
haben.
Eine berechtigte Frage, wie sich zeigen
wird. Sie wurde bisher nur nicht gestellt.
Teils, weil die Unternehmer mit einer
merkwürdigen, eigentlich artfremden Be-
scheidenheit zögern, sich als Künstler auf-
zuspielen. Teils auch deshalb, weil man in
den Ländern D, A und CH nie gelernt hat,
übermütig über Kunst zu sprechen.
Im deutschen Sprachraum sind die
Peniblen daheim. Ihr Genauigkeitsfana-
tismus nützt zwar dem weltweit erfolg-
reichen Maschinenbau sowie dem glän-
zenden Ruf von „Made in Austria“, „Made
in Germany“ und „Swiss Made“. Er ver-
hindert aber jene unverkrampfte Ober-
flächlichkeit, mit der Franzosen über
Kunst sprechen und dafür mit dem Attri-
but „Esprit“ belohnt werden.


H


ierzulande ist jedes Kunstgespräch
todgeweiht, schon in der ersten Mi-
nute. Einer sagt immer: „Wir müssen zu-


erst die Kunst definieren.“ Und ein Zwei-
ter sagt immer: „Kunst kommt von Kön-
nen.“ Beides führt zu sofortiger
Schüttellähmung.
Der Weg über die Definition würde ein
Jahr dauern, ehe man in die Tiefe gehen
könnte. Denn es gibt 1.460 Zugänge zur
Kunst, wie der maßgebliche Forscher
Andreas Mäckler schreibt. Als Kunsthis-
toriker und Schriftsteller hat er alle stu-
diert. Zum Millennium zog er per Buch
einen Schlussstrich: „1.460 Antworten

auf die Frage: Was ist Kunst?“ (Du Mont,
Köln 2000, 284 Seiten).
Dieses Werk liegt seither überall, wo
Kunst im Mittelpunkt steht, in den Bien-
nale-Pavillons, in Kassels „documenta“,
in den großen Galerien und Museen,
auch im Philosophicum Lech, das wie
sein Mastermind Univ.-Prof. Konrad
Paul Liessmann kunstaffin program-
miert ist. Selbst im Louvre fand der „zu
Tränen gerührte“ Autor Mäckler ein Ex-
emplar. Vielleicht sind die Franzosen ja
doch heimliche Streber und Tiefgänger,
nicht nur intellektuelle Hallodris, die auf
den Wellenkämmen der Künste surfen.
Das Buch empfehle ich mit fünf von
vier möglichen Federn. Dem ersten Kapi-
tel verdanken wir einen neuen Blick auf
den Satz „Kunst kommt von Können“.
Der Ekel, den Kunstfreunde für diesen
Satz empfinden, rührt von reaktionären
Feinden moderner Kunst her, die ihn oft
verwenden. Sie sprechen jedem Maler
das „Können“ ab, der eine Kuh nicht na-
türlich, sondern abstrakt malt. Und wer
als Musiker in Zwölfton komponiert, hat
für sie weder Können noch Ohren.
„Kunst kommt von Können“ wurde
von diesen Gestrigen entwertet. Tatsäch-
lich aber ist dieser Satz weder banal noch
dumm. Ganz im Gegenteil führt er in die
tiefen Ur-Gründe der Kunst. Dorthin, wo
Unternehmer manche innere Verwandt-
schaft mit Künstlern entdecken können.

D


er Kunstbegriff hat einen handwerk-
lichen Ursprung und wurzelt im
griechischen Wort „techne“ – laut Aristo-
teles die Fähigkeit, ein Produkt herzu-
stellen bei gleichzeitigem Vorwissen, wie
dies am besten geht. Bei Unternehmern
vorstellbar als Produktionsgeheimnisse,
die jenen der Konkurrenz überlegen sind.
Bei bildenden Künstlern ein Wissen über

Antworten auf
die Frage, ob denn nicht
die fantasievolle Bewälti-
gung unternehmerischer
Herausforderungen und
der kreative Prozess, neue
Produkte zu erfinden, zu
einer neuen Kunstgattung
erhoben werden sollte.

HELMUT A. GANSTERER


Ist der Unternehmer


ein Künstler?


Eigentlich schon – solange wir die Künstler nicht fragen.


„Ich sage: Die Kunst ist eine
ansteckende Tätigkeit, je ansteckender
sie ist, desto besser ist sie.“
Tolstoj

18 TREND | 09/

Free download pdf