2020-02-28 trend

(Jacob Rumans) #1

DER


SEELIGEN


BIERINSEL


D


er Prater ist mit ziem-
licher Sicherheit das
berühmteste und be-
liebteste Naherho-
lungsgebiet der Wie-
ner. Vor mehr als 250
Jahren hat Kaiser Jo-
seph II. das weitläufi-
ge, sechs Quadratkilo-
meter große Areal für die Öffentlichkeit
geöffnet. Davor vergnügte sich vor allem
der Hochadel hier und ging im Geäst auf
die Pirsch. Heute darf sich im Prater aber
jeder vergnügen. Jogger, die über die
schnurgerade Hauptallee jagen, ebenso
wie Flanierer, die ein Stückchen Natur
genießen wollen. Und natürlich alle, die
es in den Wurstelprater verschlägt. Dort,
wo das Riesenrad pflichtbewusst seine
Runden dreht, zwischen Autodrom,
Tagada und Langosbuden, ist Amüse-
ment quasi Pflicht.
Und an dieser Stelle kommt das
„Schweizerhaus“ ins Spiel. Denn zum
Pflichtprogramm eines Praterbesuchs ge-
hört tunlichst die Einkehr in diese legen-
däre Gaststätte, die sich in unmittelbarer
Nähe zum 117 Meter hohen Kettenkarus-
sell „Prater Turm“ befindet. Seit gut einem
Jahrzehnt erregt das überdimensionierte
Ringelspiel bei Besuchern Schwindel. Das
„Schweizerhaus“ tut dies auf gewisse Wei-
se ebenfalls, hat allerdings schon ein paar
Jährchen mehr auf dem Buckel.

FAMILY BUSINESS. „Die Geschichte des
Ortes reicht bis tief ins 18. Jahrhundert
hinein“, erzählt Karl Kolarik, der 34-jäh-
rige Geschäftsführer der Gaststätte, und
sein Vater Karl Jan ergänzt den Ge-
schichtsexkurs des Sohnes: „Hier standen
im Laufe der Zeit Wirtshäuser, die Na-
men wie „Tabakspfeife“, „Zum russischen
Zaren“ oder „Schweizer Meierei“ trugen.
Aber spätestens ab den 1840er-Jahren,
als der Architekt Eduard van der Nüll

hier ein Haus im alpenländischen Stil
baute, heißt es ‚Schweizerhaus‘.“
Heuer im Frühling, wenn im Prater die
Bäume wieder blühen, beginnt für die
Kolariks jedenfalls eine ganz besondere
Saison. Seit genau 100 Jahren ist das
„Schweizerhaus“ nun nämlich im Famili-
enbesitz. Karl Kolarik, der Vater von Karl
Jan – Vornamentradition ist Programm
im Hause Kolarik –, hat es 1920 über-
nommen. Der damals 19-jährige Flei-
schermeister hat dann sukzessive aus dem
leicht angeranzten Etablissement die Pil-
gerstätte geformt, die heute so geschätzt
wird. Und das, obwohl nach dem Zweiten
Weltkrieg der Wurstelprater in Schutt
und Asche lag. Auch das „Schweizerhaus“.
„Mein Vater war sehr einfallsreich“, er-
innert sich Karl Jan Kolarik und erzählt
im Schnelldurchlauf, wie der findige Seni-
or mit den Rohscheiben die Kartoffelchips
erfand, mit der ersten Schauküche Wiens
für Transparenz im Gastrogewerbe sorgte

und den berühmten „Radomat“, eine Ma-
schine, die Bierrettich in feine Scheiben
säbelt, patentieren ließ. Natürlich war er
auch nicht vor kleinen Rückschlägen ge-
feit. Der „Wurstomat“, der nach Münzein-
wurf und Drehen einer Kurbel gebratene
Würstel ausspuckte, wurde nicht gerade
zum euphorisch gefeierten Publikumshit.
Aber letztlich sorgte der Alte dafür, dass
in den harten Jahren des Wiederaufbaus
die Wiener in seinem sagenhaften Gast-
garten mit den eigenhändig gepflanzten
Nuss- und Kastanienbäumen einen Ort
fanden, wo sie die Alltagsqualen gut sein
lassen konnten. So etwas gräbt sich in die
DNA der Stadt ein und wird mit der Zeit
zu einer Art Wienkulturerbe von Welt.
Vor allem, da der lauschige Garten mit
seinen 1.400 Sitzplätzen gesellschaftliche
Hierarchien aufhebt.

DIE HARTEN IM GARTEN. Das sieht auch
Star-Kabarettist Andreas Vitásek so, der
regelmäßig in der Prater-Institution ein-
kehrt: „Das ‚Schweizerhaus‘ ist gelebte
Sozialdemokratie. Der Bankdirektor sitzt
neben dem Hackler, und vorm Kellner
sind alle gleich“, resümiert der Satiriker,
der seit frühen Kindertagen ins „Schwei-
zerhaus“ kommt. Der Ort ist heute noch
ein Fluchtpunkt für ihn. „Am liebsten
gehe ich im Frühling hin, am späten Vor-
mittag, wenn es noch ein bisschen

VON MANFRED GRAM

Seit 100 Jahren führt die Familie Kolarik das SCHWEIZERHAUS im


Wiener Prater. Zwischen Stelzen und Budweiser, Tradition und


Moderne wird seitdem Wiener Kultur erbe geschaffen.


90 TREND | 09/2020

TREND
PRIVAT

JUBILÄUM

FOTOS: SCHWEIZERHAUS/HEINZ TESAREK, LUKAS ILGNER
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