Der Standard - 24.02.2020

(C. Jardin) #1

Kultur


Die Klimakrise istinder Welt desPopangekommen:


Grimes’neues Album„Miss Anthropocene“.


KANADISCHE MUSIKERIN

FußballerSebastian Prödl will


noch nichtbilanzieren.


NEUSTART IN ITALIEN

Seite 14 SPORTSeite 17

MO., 24.FEBRUAR202 0 13


Kultur


Foto: AFP


KURZ GEMELDET


AktivistJoshuaWong
fordertBerlinale-Boykott
Berlin –Wegen der Ablehnung
eines Dokumentarfilms des chine-
sischen Dissidenten Ai Weiwei
durch die Berlinale hat der Hong-
konger Demokratieaktivist Joshua
Wong in der Welt am Sonntag
einen Boykott gefordert. „Die Ge-
sellschaft sollte das Festival boy-
kottieren, um klarzustellen, dass
wir an unseren Werten festhalten,
dass wir die Werte über die Strahl-
kraft von Dollarscheinen stellen.“

Kultserie „Friends“
wirdkurz fortgesetzt
New York–Zur Kultserie Friends
mit Hollywoodstar Jennifer Anis-
ton wird es eine Fortsetzung ge-
ben. Es handle sich nicht um eine
neue Serie, sondern um ein „Spe-
cial“, bei dem Aniston, Courteney
Cox, Lisa Kudrow, Matt LeBlanc,
Matthew Perry und David
Schwimmer ohne festes Dreh-
buch spielten. Die Freunde sind
ab Mai beim Streamingdienst
HBO Max zu sehen. (APA)

Madonna lässtFansin
Paris Stundenwarten
Paris–Pop-Veteranin Madonna
ließ in Paris Fans dreieinhalb
Stunden warten. Die 2800 Zu-
schauer mussten am Samstag
beim Konzert im Pariser Grand
RexbiskurznachMitternachtdar-
ben.MadonnasManagementführ-
te „unvorhergesehene technische
Probleme“ mit dem Veranstal-
tungsort als Ursache für das ver-
spätete erste von zwölf Pariser
Konzerten an. (APA)

„M. Der Sohn desJahrhunderts“, AntonioScuratis Roman über Mussolini, sorgt für Diskussionen.
Ein Gespräch überFaschismus,Populismus und die mögliche Machtübernahme in Italien durch Matteo Salvini.

Hauptereignisse auf neue Weise.
AuchdasParadigmaderOpferbre-
che ich, es war zuletztein Paradig-
ma, Geschichte aus der Perspekti-
ve der Opfer zu erzählen. Das war
notwendig...

STANDARD: Und es war auch
schon eine Reaktion auf ältere,
traditionellere Weisen des histori-
schen Erzählens: Auf die Haupt-
und Staatsaktionen folgte eine
Alltagsgeschichte, dann eine Ge-
schichte der Leidenden.

E


in Roman über den Duce des
italienischen Faschismus,
mit stinkenden Füßen und
anderen unappetitlichen Details:
Mit M. Der Sohn des Jahrhunderts
hat der Turiner Professor Antonio
Scurati in Italien für Furore ge-
sorgt. Er lässt die Grenzen zwi-
schen Literatur und Geschichts-
schreibung verschwimmen; zum
Zweck größerer Einsicht, meinen
die einen, mit durchaus proble-
matischem Effekt, meinen andere.
Diese Woche erscheint die deut-
sche Übersetzung.

STANDARD: Wie weit reicht denn
Ihre Idee zurück, einen Roman
über Mussolini und den Faschis-
mus in Italien zu schreiben?
Scurati:Die Idee kommt aus einer
Zeit, als ich über einen antifa-
schistischen Helden schrieb: Die
beste Zeit unseres Lebens .Eshan-
delte von Leone Ginzburg, einem
brillanten Intellektuellen. Er war
Gründer des Verlags Einaudi und
Ehemann von Natalia Ginzburg.
Während der Recherchen stieß
ich auch auf Dokumente, in denen
es um Mussolini ging, mir wurde
klar: Die Geschichte dieses Man-
nes hat noch nie jemand erzählt.
Nämlich in literarischer Form. So
begann ich damals über Ursprün-
ge des Faschismus nachzufor-
schen, während ich ein Buch über
einen Antifaschisten schrieb.

STANDARD: Sicher gibt es aber vie-
le Standardwerke über Mussolini.
Scurati:Natürlich. Das wichtigste
ist von Renzo De Felice, er hat das
Nachdenken über den Faschis-
mus verändert. Er war der Erste,
der darüber schrieb, wie stark
die Zustimmung zu Mussolini
war. Das erhellendste Buch ist von
einemZeitzeugen: Nascitaeavven-
to del fascismo von Angelo Tasca
aus dem Jahr 1950. Er reflektierte
seine eigenen Erfahrungen.

STANDARD: Sie ergänzen die
Geschichtsschreibung mit einem
Roman. Wie würden Sie die Metho-
de charakterisieren?
Scurati:Ich entwickelte diese Me-
thode schon im Buch über Ginz-
burg. Es ist ein Roman, aber kein
fiktionaler. Ich spreche von einem
dokumentarischen Roman. Als
ichvonGinzburgerzählte,schrieb
ich auch die Geschichte meines
Großvaters hinein, also die Ge-
schichte einfacher Antifaschis-
ten, kleiner Leute. Als ich zu Mus-
solini kam, wollte ich eine neue
Form finden, die den Faschismus
von innen zeigt. Mussolini und
seine Bewegung mit ihrer
menschlichen Seite, mit vielen
Details. Es sollte also alles da sein,
was man in einem Roman tut, nur
ohne jegliche Erfindung. Alles
muss abgesichert sein.

STANDARD: Können Sie ein Bei-
spiel geben, das diese Methode
nachvollziehbar macht? Historiker
müssen ja auch erzählen, auch bei
ihnen sind Details wichtig.
Scurati: Icherzähle in Szenen.
Manche sind für einen Historiker
nicht relevant. Etwa dieser Mo-
ment am Ende des Marsches auf

Rom. Das ist ja der Moment seiner
Machtergreifung. Am Abend geht
er in sein Hotelzimmer, seine
wichtigsten Leute hat er um sich.
Er zieht seine Stiefel aus, legt die
Füße auf den Tisch, raucht und
nimmt die Gratulationen ent-
gegen. Seine Füße stinken. Er hat
schließlich lange genug in diesen
Stiefeln gesteckt. Seine Leute sind
wie Schulbuben, er stinkt, aber sie
müssen darüber hinwegsehen.
Das ist eine Szene, in der man
sieht, wie eine Diktatur beginnt.

STANDARD: Sie erzählen aber
auch in einem großen Panorama.
Scurati:Wir erleben den Faschis-
mus durch die Hauptfiguren,
neben Mussolini ist da auch der
Futurist Marinetti oder der Orga-
nisator Italo Balbo. Und auch die
Hauptereignisse sind alle da, es
fehlt nichts. Ich breche nur mit
einem Paradigma, dem „margina-
lismo“. Es ist das Bemühen,
Geschichte von der Seite her zu
erzählen, von unten, aus der
Perspektive von kleinen Figuren.
Ich gehe in die Mitte, erzähle die

Scurati:Das war ja auch wichtig.
Unsere Zivilgesellschaft, unsere
Demokratie beruhen auf dieser
Perspektive. Heute müssen wir
den Faschismus aber neu in den
Blick nehmen. Im Bild hat etwas
gefehlt, und nun müssen wir die-
sen Teil ausmalen. Wir müssen
die dunkle Seite des Faschismus
nachzeichnen.

STANDARD: Faszination war ein
Hauptprodukt des Faschismus.
Scurati:Absolut.Inden Narrativen
des Faschismus aus der Sicht von
Antifaschisten ging die Verführung
verloren,denn das konnten sie
nicht zulassen, das konntensie
nicht einmal sehen, dass der Fa-
schismusattraktivwar.Jetztkommt
diese Faszination zurück,und um
sie zu erkennen, müssenwir sie
zuerst zeigen. Ich beschreibe einige
derRituale.Das erschreckendste,
aber auch unwiderstehlichsteist
der Totenappell. Da stand die gan-
zeBewegungda und riefdie Namen
ihr er Märtyrer auf,und auf jeden
Namen eines Totenantworteten
alle laut und einstimmig:„presen-

te“. Hier. Also nicht tot, sondern
noch hier.Das istschauerlich, aber
man kann sich auch vorstellen,wie
aufregend das gewesensein muss,
so gegen den Todaufzutreten. Wir
müssen zeigen,dass dieses Ritual
zu weiteren Totenführt. Es bringt
nichts, das irgendwie unter Ver-
schlusszuhaltenundMussolinifür
verrückt zu erklären.

STANDARD: Heute soll Politik als
Show alle in Passivität halten?
Scurati:Bei Mussolini gab es noch
so etwas wie Mobilmachung. Heu-
te aber funktioniert Politik durch
das Versprechen, man könnte Zu-
schauer bleiben. Die Archetypen
sind die gleichen: Angst vor Inva-
sion, vor Feinden. Aber die Bot-
schaft ist: Macht euch keine Sor-
gen, wir erledigen das für euch.
Mussolini schürte Angst und ver-
wandelte dieses passive Gefühl in
einaktives,inHass.HeutigePopu-
listen schüren auch Hass, aber sie
nähren die Illusion, wir könnten
die Konsequenzen des Hasses ver-
meiden. Wir müssen niemanden
töten, das erledigen Berufssolda-
ten oder Polizei. Bürger sollen auf
derCouchbleiben,vielleichtinso-
zialen Netzwerken aktiv sein, aber
die Macht sollen sie delegieren.

STANDARD: Ist Matteo Salvini für
Sie ein Faschist?
Scurati:Er spielt auf Mussolini an,
aber ich würde das nicht zu ernst
nehmen. Das Problem ist größer.
Salvini kommt nicht aus einer fa-
schistischen Kultur, seine Anhän-
ger sind keine Faschisten, so wie
auch Bolsonaro und Trump keine
Faschisten sind. Na ja, Bolsonaro
vielleicht ein bisschen. Sie müs-
sen keine Faschisten sein, um
Populisten zu sein. Salvini holt
sich Zustimmung, indem er seine
Anhänger den intellektuellen
Antifaschismus ablehnen lässt.Es
ist also kein Faschismus, sondern
ein Antiantifaschismus. Trump ist
Mussolinisicherganzegal.Aberer
wirft seinen Körper mitten in die
politische Szene, er sprichtnicht
die intellektuelle Seite an. Musso-
lini wirkte oft lächerlich, aber er
war einer der Ersten, die verstan-
den, was der Körper eines Führers
bewirken kann. Der muss gar nicht
attraktiv sein.

STANDARD: Die Chancen für eine
Politik der Vernunft?
Scurati:Derzeit sieht es aus, alswä-
ren wir die Verlierer.Das wird sich
so schnellnicht ändern. Salvini
wird bald die Macht übernehmen.
Einhistorischer Trendspricht für
ihn.Wirmüssenjetztschauen,dass
wir überleben und dass wir die Ge-
schichtewieder auf unsere Seite
bekommen. Ein Tweet von Salvini
gegeneinenRomanmit 80 0Seiten,
daswirkt ersteinmal wie ein un-
gleichesMatch,auch wenn derRo-
manpopulär ist und sich gut ver-
kauft. Um Geschichtemuss man
kämpfen. Es gibt keinen Grund,
aufzugeben.

ANTONIO SCURATI(1969inNeapel
geboren) ist Medientheoretiker und
Schriftsteller. Er lehrt in Mailand kreati-
ves Schreiben und Rhetorik.

„Es bringt nichts,Mussolini fürverrücktzuerklären“


INTERVIEW: Bert Rebhandl

Die Geschichte erhellen, um die Gegenwart besser zu verstehen und vor alten Fehlern zu bewahren:
„Wirmüssen die dunkle Seite des Faschismus nachzeichnen“, so der Autor Antonio Scurati.

Foto: Mondadori-Portfolio

Mussolini wirkte oft
lächerlich, aber er
wareiner der Ersten,
dieverstanden,was
derKörper eines
Führers bewirken
kann.


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