Der Standard - 24.02.2020

(C. Jardin) #1

14 |MONTAG, 24.FEBRUAR 2020 Kultur DERSTANDARD


Mit pompösemAufwandwerden imWiener Burgtheater die beiden
Shakespeare-Tragödien„Othello“ und„DerKaufmannvonVenedig“
ineinandergesteckt: Das Dramendoppel„This IsVenice“ (Regie:
Sebastian Nübling)lahmt jedoch infolgeakutergedanklicher Blässe.

Ein fades Paradies mit Silberschlangen


D

er Rialto-Brücke, dem weltberühm-
ten Wahrzeichen der Handelsstadt
Venedig, ist in den Planungswerk-
stätten der Bundestheater übel mitgespielt
worden.ImWienerBurgtheaterliegtsiewie
ein langer, schwarzer Steg auf der Drehbüh-
ne von Muriel Gerstner (Ausstattung): eine
ausgerissene Zunge.
Über diese düstere Partymeile, die jeden
Schwung vermissen lässt, huschen–die
Zähne wie Dolchspitzen entblößt –die
„Rich Kids“ der „Serenissima“, die Bewoh-
nerderStadtVenedig.Lauterschwarz-weiß
gekleidete Damen und Herren, für die das
beschwerliche republikanische Alltagsle-
ben vor allem ein nicht enden wollender,
tödlicher Spaß zu sein scheint.
Ein schimmernder Wald aus Silberfäden
schließt die Arena ein. Auf ihr als Schau-
platz werden gleich zwei Fälle aus dem Tra-
gödienlehrbuch von William Shakespeare
verhandelt: parallel, in doppelter Ausferti-
gung ein- und derselben Beweisführung.
Den Kaufmann von Venedig eint mit dem
Othello nicht nurder Schauplatz der Lagu-
nenstadt. In beiden Dramen muss je ein
Außenseiter, nach ausgiebiger Folter und
Demütigung durch die christliche Mehr-
heitsgesellschaft, schmählich besiegt zu
Kreuze kriechen (im Falle des Juden Shy-
lock) bzw. sich selbst meucheln (im Falle
des schwarzen Feldherrn Othello).

Kohle und Asche
Elisabeth Bronfen und Muriel Gerstner,
das Autorinnengespann von This Is Venice,
hat den beiden Diskriminierungstechniken
von Judenhatz und Schwarzen-Bashing
noch einen weiteren stichhaltigen Ge-
sichtspunkt hinzugefügt. Venedig wird von
seinem Dogen (Rainer Galke) mit selbstge-
fälliger Miene zur Prüfstätte frühneuzeitli-
cher Selbstverwirklichung erklärt.
Jeder kann in dieser verlotterten Spaßge-
sellschaft tun und lassen, was er will, so-
langeesSpaßmacht.Erlaubtist,wasgefällt,
solange nur genug „Geld lockergemacht“
wird. So weit das RTL-Deutsch dieser dop-
pelten Neuübersetzungsleistung.
Der Zaster also ist das Regulativ. Und
während die Kerle miteinander ins Ge-
schäft kommen, Asche verbrennen, den
schneidend scharfen Juden Shylock (Itay
Tiran) um neue Kohle anpumpen, steht für
die Frauen kein Platz parat. Die dürfen
höchstens degenerierte Prinzen als Braut-
werber empfangen. Und furchterregend ins
Parkett starren.
Die passenden Tüllröckchen ziehen sich
die Kerle schon selbst über. Und das Trau-
rigste daran: Venedigs Damen, voran die
schöne Portia (Stacyian Jackson), wohnen
zwar Kanal an Kanal. Sie laufen einander
in Sebastian Nüblings hektischer, pointen-

loser Inszenierung praktisch unausgesetzt
über den Weg–das schon deshalb, weil die
Drehbühne ohne Unterlass menschliche
Fracht befördert.
Sie haben jedoch, wie ganz allgemein die
Figuren beider Stücke, voneinander nicht
die geringste Ahnung. Wozu dann also die-
ses aufgeblähte Tragödiendoppel?
Othello (Roland Koch) ist als Feldherr ein
Kriegsdienstleister in den sogenannten bes-
ten Jahren. Indem er die spröde Patrizier-
tochter Desdemona (Marie-Luise Stockin-
ger) heimlich ehelicht, zieht er nicht nur
den Hass Jagos (Norman Hacker) auf sich.
Hacker würgt hochvirtuos am Schimpf
des zu kurz gekommenen Wutbürgers. Ge-
legentliche Einsprüche seines Weibes Emi-
lia (Sylvie Rohrer) schneidet er mit großer
Rohheit ab. Mit intrigantem Ekel bewegt er
windelweiche Flennbrüder wie den Leut-
nant Cassio (Mehmet Ateşçi), Desdemonas
vermeintlichen Liebhaber, wie Steine auf
dem Schachbrett.

Aus Schlangen ein Strick
Von der schnöden Vergeudung weibli-
chen Lebens erzählt, unter gelehrtem Hin-
weis auf Virginia Woolf, allein das Pro-
grammbuch. Auf der Bühne droben dreht
Othello, der um Desdemonas Taschentuch
geprellte Eifersüchtige, aus den Silber-
schlangen sich und seiner jungen Gefähr-
tin (Stockinger) einen unsichtbaren Strick.
Gewiss ist ihm auch ein bisschen todes-
fürchtig zumute, vielleicht wie dem Salz-
burger Jedermann. Schwiegervater Braban-
tio (Markus Hering) spukt nämlich im Ske-
letttrikot durch Venedig. Es ist zum Gott-
erbarmen. Die fürchterliche Intrige um das
Pfund Fleisch, das Shylock gegen geliehe-
nes Geld einzutauschen begehrt, wird von
Nübling dafür zum Tafelgemälde mit ver-
schleierten Ratsherren stilisiert.

Stochern im Nebel
Ein klarer Fall von karnevalesker Anma-
ßung. Eine vor Einfallslosigkeit sprühende
Stadttheateraufführung schießt mit Papier-
schlangen auf Shakespeares veneziani-
sches Doppel. Sie stochert im Nebel der La-
gunenstadt betriebslustig herum. Sie macht
sich mit Schauspielerinnen, die wie in Ba-
bylon durcheinanderplappern, eine bleier-
ne Zeit.
„The Theater of Justice“, behauptet eine
eingeblendete Riesenschrift. Vermurkster
kann man es kaum ausdrücken. Die reale
Stadt Venedig hat den Karneval soeben ab-
gesagt. Aber die Burgtheater-Besucher ha-
ben, pünktlich zu Faschingsschluss, auch
nicht mehr zu lachen.
In den eher pflichtschuldigen Applaus
mischten sich Missfallenskundgebungen
gegen die Regie.

Venezianische Partygesellschaft,zuÖlgötzenerstarrt: In der Mitte wartet
blondgelockt die schöne Portia (Stacyian Jackson) auf den ersehnten Freier.

Foto: Matthias Horn

Ronald Pohl

Meterwaregegen die Klimakrise


Die kanadischeMusikerin Grimes (alias ClaireElise Boucher)veröffentlicht das Album „Miss Anthropocene“


Karl Fluch

F

rostbeulen für die Kunst, so
soll es sein. Der unter Ent-
behrungen arbeitende
Künstler, der irgendwann An-
erkennung für seine Arbeit erhält.
Ein wenig Klischee muss es im
Fall von Claire Elise Boucher ge-
ben. Ihre Beulen soll sie sich einst
zu Hause in Kanada geholt haben,
wo sie, so will es die Legende, in
einem Abrisshaus ihrer Mission
nachgegangen sein soll.
Unter dem Namen Grimes ver-
öffentlicht die 31-jährige Musike-
rin seit nun zehn Jahren Alben,
eben ist ihr fünftes erschienen. Es
heißt Miss Anthropocene. Das ist
einschöner Titel, daraus lässt sich
der Misanthrop ebenso destillie-
ren wie der Titel des menschge-
machten Erdzeitalterns, die Ära
der Klimakrise: das Anthropozän.
Das Welt- und Existenzthema ist


nun also endgültig im Pop ange-
kommen.
Im Falle von Claire Elise Bou-
cher ist eine Beschäftigung damit
dahingehend verständlich, als
dasssiegeradedabeiist,Mutterzu
werden. Da fragt nicht nur sie
sich, in welche Zukunft sie ihr
Kind wohl schickt. Die Ausgangs-
situation für ihren Nachwuchs
scheint finanziell betrachtet eher
günstig zu sein. Obwohl noch
nicht offiziell bestätigt, geht man
davon aus, dass Elon Musk der Va-
ter ist; mit dem Technologie-
Unternehmer ist Boucher seit
2018 zusammen.

Die gute Partie
Der Tesla- und Paypal-Gründer
wird auf 40 Milliarden Dollar ge-
schätzt.DamitisterlautdemWirt-
schaftsmagazin Forbes die drei-
undzwanzigbeste Partie, die die
Weltzubietenhat.DieZeitderun-

beheizten Gemäuer dürfte für
Boucher vorbei sein, das Anthro-
pozän hingegen nicht.
Diesem Thema nähert sie sich
mit düsteren Beats und Minnie-
Mouse-Stimme. Miss Anthropo-
cene bemüht sich neuerdings um
eine grimmige Ästhetik, bleibt da-
bei aber im Wesentlichen bei zwei
Kunstgriffen hängen: bei ver-
meintlich schröcklichen Bässen
und esoterisch verstrahltem Ge-
sang. Gut, eine dritte täuscht sie
kurz an: Der Song Delete Forever
ist eine Ballade, die auf der akus-
tischen Gitarre beginnt, während
ein Lagerfeuer als Bildschirm-
schoner den Raum erhellt.
Für den Rest des Albums begibt
sie sich in dunkle Keller und eine
ungewisse Zukunft. Dort, wo der
Blade Runner mit dem Auto durch
die Luft düst und die künstliche
Intelligenz das reparieren soll,
was die menschliche Dummheit

seit dem Beginn des industriellen
Zeitalters versemmelt hat. Dabei
fallen–bei milder Betrachtung –
ein paar nette Kleinode ab, wie
zum Beispiel das Lied My Name Is
Dark.

Ziemlich altbacken
Andererseits klingen die meis-
ten der zehn Songs halt schon
auch ziemlich altbacken, wenn
man nicht erst gerade vor elf Mi-
nuten begonnen hat, sich für Pop-
musik zu interessieren. Und dann
ist da eben Minnie Mouse. Das
passte zu dem Quietschenten-
Pop, den Grimes auf früheren Al-
ben produziert hat. Ob dieses
Organ für ach so schwere Inhalte
der adäquate Übermittler ist? Eher
nicht. Miss Anthropocene istalso
bestenfalls als Phänomen interes-
sant, nicht aufgrund seiner musi-
kalischen Ergebnisse. Die sind
eher Meterware.

Schwere Themen, leichte
Stimme:Sängerin Grimes.
Foto: AFP
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