Handelsblatt - 24.02.2020

(Martin Jones) #1
„Die vielen guten Ideen für ein
ambitioniertes Europa werden im
Klein-Klein zermahlen. China und die USA
freuen sich.“
Manfred Weber, Fraktionschef der Christdemokraten, im
EU-Parlament zu den lang andauernden Verhandlungen über den
kommenden EU Haushalt

Worte des Tages


G


Lohnender


Kampf


A


ußer Spesen nichts gewe-
sen. Das könnte eine Sicht-
weise auf das Treffen der Fi-
nanzminister und Notenbankchefs
der G20-Staaten in Riad sein. Denn
allzu viel haben die mächtigsten Fi-
nanzpolitiker der Welt nicht verein-
bart. Doch politische Erfolge lassen
sich nicht immer in Gipfel-Erklärun-
gen ablesen.
Bundesfinanzminister Olaf Scholz
(SPD) ist in Riad seinem Ziel näher
gekommen, eine globale Mindestbe-
steuerung für Unternehmen zu
schaffen und damit Steueroasen aus-
zutrocknen. Es sei im Kreis der G
verstanden worden, dass noch in
diesem Jahr die Mindestbesteuerung
und eine Steuer für digitale Groß-
konzerne beschlossen werden muss.
Eine Einigung ist noch in weiter
Ferne, nicht einmal ein geplanter
Mindeststeuersatz ist offiziell im Ge-
spräch. Und der Widerstand der
USA gegen die als Diskriminierung
amerikanischer Konzerne wie Goo-
gle, Amazon, Facebook und Apple
bekämpfte Digitalsteuer ist weder
gebrochen, noch ist eine Definition
der zu besteuernden Digitalfirmen
formuliert.
Immerhin herrschte bei G20 Ei-
nigkeit, dass es eine globale, oder
um es mit dem von Donald Trump
verhassten Wort zu sagen, multila-
terale Lösung braucht. Denn sonst
käme es wohl unweigerlich zu neu-
en Handelskriegen wegen Steuerfra-
gen. Die zu vermeiden ist aller An-
strengungen wert. Und Scholz‘ En-
gagement ist richtig.
Denn die meisten Gesellschaften
werden es nicht mehr hinnehmen,
wenn Profite in Steuerparadiese
verschoben werden und in den
Ländern, in denen Amazon und Ali-
baba ihre Waren verkaufen oder
Google und Netflix ihre Dienstleis-
tungen vertreiben, diese nichts bei-
tragen zum Unterhalt und Ausbau
nötiger Infrastruktur. Es ist auch ei-
ne Aufgabe global operierender Fir-
men, zur Finanzierung der Gemein-
wesen beizutragen, in denen sie
Geld verdienen. Steuerflucht und
Steuervermeidung sind keine Kava-
liersdelikte. Wenn dies am Ende ge-
stoppt wird durch eine Mindestun-
ternehmensteuer wäre G20 alle
Spesen wert gewesen.


Dass Olaf Scholz für eine globale
Mindestbesteuerung für Firmen
kämpft, ist richtig, meint Mathias
Brüggmann.

Der Autor ist International
Correspondent.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]


V


orhang auf für einen Brüsseler Klassi-
ker: „Nettozahler kontra Nettoempfän-
ger“ heißt das Stück, das die Europäi-
sche Union alle sieben Jahre aufführt.
Der Plot ist immer wieder derselbe: Die
einen wollen möglichst wenig in den europäischen
Haushalt einzahlen, die anderen möchten möglichst
viel herausholen. Einzige Neuheit dieses Mal: Nach
dem Abgang der Briten stehen nur noch 27 Spieler
auf der Bühne.
Das Theater um Zahlungen an und Rückflüsse aus
Brüssel verstellt den Blick auf das Wesentliche: Die
EU braucht einen zeitgemäßen Haushalt, um Zu-
kunftsaufgaben bewältigen zu können. Ob das in
Brüssel diskutierte Zahlenwerk dieser Anforderung
gerecht wird, war beim EU-Gipfel am Donnerstag
und Freitag nur am Rande ein Thema. Den meisten
Regierungschefs kam es vor allem darauf an, Härte
zu demonstrieren und ihrer Bevölkerung zu Hause
zu beweisen, dass sie von ihren finanziellen Maxi-
malpositionen kein Jota abrücken. Ungarns Regie-
rungschef Viktor Orbán trieb es auf die Spitze, als er
eine absurd hohe Forderung an die Nettozahler stell-
te. Dieser Gipfel war ein großes Spektakel für die
heimischen Parlamente und Wähler. Ernsthaft ver-
handelt wurde nicht. Viele Teilnehmer waren schon
mit der Absicht angereist, ein Happy End von An-
fang an unmöglich zu machen.
Das Publikum bleibt etwas ratlos zurück. Man
fragt sich, wieso 27 Präsidenten, Kanzler und Pre-
mierminister 30 Stunden lang ergebnislos über ei-
nen Etat streiten, der ein Witz ist im Vergleich zu
den Budgets großer Mitgliedstaaten. Die Bundesre-
gierung allein kann jährlich doppelt so viel ausgeben
wie die EU-Kommission für 27 Länder. Der Anteil des
EU-Etats an der europäischen Wirtschaftsleistung
beträgt gerade einmal ein gutes Prozent. Die natio-
nalen Budgets spielen für die Zukunftsfähigkeit des
europäischen Kontinents eine weitaus wichtigere
Rolle als der Brüsseler Haushalt.
Hinzu kommt die Tatsache, dass sich die 27 Mit-
gliedstaaten über die Grundstruktur des EU-Finanz-
rahmens ja durchaus einig sind: Die europäische
Staatengemeinschaft wird weiterhin jeweils ein Drit-
tel ihres Etats für die Landwirtschaft und für struk-
turschwache Regionen ausgeben. Allein auf diese
beiden traditionellen Bereiche der Europapolitik sol-
len mehr als 700 Milliarden Euro entfallen. So steht
es im Vorschlag von EU-Ratspräsident Charles Mi-
chel zum neuen Mehrjährigen Finanzrahmen (MFR)
für die Jahre 2021 bis 2027. Für Forschungsförderung
hat Michel dagegen nur 84 Milliarden Euro ange-
setzt, für die Digitalisierung gar nur knapp 6,8 Milli-

arden Euro. Gegen diese Gewichtung hat beim EU-
Gipfel kein Regierungschef grundsätzliche Einwände
erhoben.
Nun muss die oft als veraltet kritisierte Struktur
des Brüsseler Haushalts automatisch dazu führen,
dass Europa in der Vergangenheit stecken bleibt. Ge-
rade in den beiden großen Aufgabenbereichen der
EU – Agrar- und Strukturpolitik – kommt es darauf
an, wofür das Geld ausgegeben wird. In den ärmeren
Regionen sollte die EU künftig gezielt die Ausbildung
von IT-Experten, den Ausbau der Leitungsnetze für
schnelles Internet, erneuerbare Energien, Schienen-
und Fahrradwege fördern. In der Landwirtschaft
kommt es darauf an, Bauern bei der Umstellung auf
umweltfreundliche Anbaumethoden und auf das
neue E-Farming zu unterstützen.
Insbesondere bei der gemeinsamen Agrarpolitik
besteht dringend Modernisierungsbedarf. Die euro-
päischen Agrarsubventionen begünstigen die Mas-
sentierhaltung und den Einsatz von Dünger und Pes-
tiziden. Je größer die Flächen, desto höher die EU-
Direktzahlungen. Manche Bauern bringen es jährlich
auf dreistellige Millionenbeträge. Das Ergebnis die-
ser Politik überzeugt nicht: Immer mehr Kleinbau-
ern müssen aufgeben, und die Landwirtschaft trägt
kräftig zur Erderwärmung bei: Der Ausstoß der
Treibhausgase Methan und Lachgas verharrt seit Jah-
ren auf hohem Niveau – gefördert mit Milliarden aus
Brüssel. So kann es nicht weitergehen.
Die EU muss zudem besser aufpassen, dass die
Gelder der Steuerzahler nicht in die falschen Ta-
schen fließen. In Osteuropa besteht der begründete
Verdacht, dass sich einzelne Familien schamlos an
EU-Geldern bereichern. Die Strafverfolgungsbehör-
den der jeweiligen Länder schauen dabei tatenlos
zu. Auch in Südeuropa gibt es schwere Missstände:
Italien bekam über Jahrzehnte Milliarden aus Brüssel
für den unterentwickelten Süden, doch dem Mezzo-
giorno geht es schlecht wie eh und je.
Die Aushöhlung des Rechtsstaats und illegale Ma-
chenschaften mit Subventionen gehen Hand in
Hand. Die EU braucht einen rechtlichen Hebel, um
gegen beides vorzugehen. Auf dem Spiel steht die
Glaubwürdigkeit der europäischen Staatengemein-
schaft bei den Steuerzahlern und bei allen Demokra-
ten. Dafür müssen die Nettozahler kämpfen. Das
Theater um Prozentpunkte an der zweiten Stelle
hinter dem Komma beim Nettobeitrag hört aber hof-
fentlich bald auf.

EU-Haushalt


Die Theatermacher


von Brüssel


Die EU braucht
einen modernen
Haushalt. Doch
das war beim
EU-Gipfel nur ein
Randthema,
bedauert Ruth
Berschens.

Viele Teilneh-


mer waren


schon mit der


Absicht ange-


reist, ein Happy


End von Anfang


an unmöglich zu


machen.


Die Autorin ist Büroleiterin in Brüssel.
Sie erreichen sie unter:
[email protected]

Meinung

& Analyse

1

MONTAG, 24. FEBRUAR 2020, NR. 38
14


„Das Betreten und
Verlassen dieser Gebiete ist
verboten.“
Giuseppe Conte, Regierungschef von
Italien, über das Abriegeln mehrerer Gebiete
in Norditalien, wo sich das Coronavirus
ausgebreitet hat

„Hier ist die Botschaft:
Russland, halte dich aus
amerikanischen Wahlen
raus! “
Bernie Sanders, Demokrat und Bewerber
um die Präsidentschaftskandidatur, zur
vermuteten Einmischung Russlands in den
US-Wahlkampf

Stimmen weltweit


Die „Neue Zürcher Zeitung am Sonntag“
kommentiert den Terroranschlag in Hanau:

M


it dem Anschlag auf Migranten in Ha -
nau habe der rechtsextreme Terror in
Deutschland eine neue Dimension er-
reicht, heißt es. Aber in Wahrheit hat die rechts-
extreme Gewalt in diesem Land nie geruht, und
Hanau ist nur die jüngste Station einer langen Se-
rie von Gewalttaten rassistischer Verbrecher.
Möglich geworden sind sieben Jahrzehnte rechte
Gewalt durch die Nachlässigkeit deutscher Be-
hörden. Die Bundesrepublik war auf dem rech-
ten Auge immer wenn nicht blind, dann doch
schwachsichtig. (...) Bei Verfassungsschutz und
Generalbundesanwaltschaft kamen zudem im-
mer wieder Führungskräfte ins Amt, die das
rechtsextreme Potenzial kleinredeten. Spät erst,
mit der bis 2018 dauernden strafrechtlichen Auf-
arbeitung der NSU-Verbrechen, begann das Um-
denken. Da hatten die Behörden bereits das In-
ternet verschlafen und den Umstand, dass sich
Rassisten dort radikalisieren. Der Rechtsextre-
mismus sei die größte Gefahr für die Demokratie
in Deutschland, sagt nun der Bundesinnenminis-
ter. Aus dieser Erkenntnis sollte auch etwas fol-
gen.

Die belgische Zeitung „De Standaard“
kommentiert die Wahlkampftaktik von
US-Präsident Donald Trump:

D


en Präsidentschaftskandidaten Joe Biden
nennt er „Sleepy Joe“, „Crazy Bernie“ ist
der Spitzname für Bernie Sanders, und
seit dieser Woche bekommt Michael Bloomberg
den Namen „Mini Mike“ verpasst. Die Anhänger
von US-Präsident Donald Trump finden seine
Spitznamen für die demokratischen Präsident-
schaftskandidaten urkomisch. Trump nannte
diese Woche von der Bühne aus den demokrati-
schen Kandidaten Tom Steyer „einen Idioten“
und erntete Applaus. Trump ist immer politisch
inkorrekt. Auch dahinter verbirgt sich eine Stra-
tegie. (...) Faktenprüfer der „Washington Post“
haben festgestellt, dass Trump in den ersten drei
Jahren seiner Amtszeit bereits mehr als 16 000
falsche oder irreführende Aussagen gemacht hat.
dpa, ap (2)Das beeindruckt seine Anhänger jedoch nicht.

Der Züricher „Tages-Anzeiger“ kommentiert am
Samstag die Fortsetzung der Rodung für die
Tesla-Fabrik in Brandenburg:

D


ie Ansiedlung ist für ganz Deutschland
ein Prestigeprojekt. (...) Die Brandenbur-
ger Landesregierung hat deshalb für die
Ansiedlung eigens die „Tesla-Taskforce“ gegrün-
det. Sie soll dem Unternehmen möglich machen,
was in Deutschland unmöglich erscheint: Baube-
ginn noch in diesem Frühjahr, Produktionsbe-
ginn kaum 15 Monate später. Umweltschutzfra-
gen, die bei vielen anderen Projekten längst zum
Aus geführt hätten, wurden handhabbar ge-
macht. So verbraucht die Tesla-Produktion vo-
raussichtlich so viel Wasser wie ganz Branden-
burg, und das in einer Gegend mit vielen Schutz-
gebieten. Das Bewilligungsverfahren war rekord-
verdächtig schnell. Die Vorschriften wurden so
offensichtlich und derart stark gedehnt, dass Tes-
la und die Regierung nur froh sein können, dass
diese Praxis noch einmal vor Gericht kam. Der
Drahtseilakt Tesla ist nun rechtssicher.

H


amburg hat gewählt – und sich für Stabilität
entschieden, was in Zeiten nicht enden wollen-
der Politunfälle wie zuletzt in Thüringen (aber
eben nicht nur dort) ja schon einer Sensation gleicht.
Zwar gibt es vieles, was in Hamburg nicht beispielhaft
für den Rest der Republik ist. Bundespolitisch relevant
ist die Wahl dennoch – und zugleich doch eine Enttäu-
schung für die etablierten Parteien.
Wenn Hamburg „ein Testlauf der Grünen in Berlin“
war, wie der „Stern“ noch am Donnerstag mutmaßte,
dann ging dieses Experiment trotz eines stark gestiege-
nen Stimmenanteils nicht auf. Denn mit dem Griff nach
dem Posten des Ersten Bürgermeisters hat sich Grünen-
Spitzenkandidatin Katharina Fegebank schlicht verho-
ben. Bei dem Versuch, im bürgerlichen Lager ebenso
wie an der klassischen Sponti-Fanbase zu überzeugen,
hat sie sich verzettelt und an Glaubwürdigkeit nicht un-
bedingt gewonnen. Da kommen auf ihr Bundes-Spitzen-
duo Robert Habeck und Annalena Baerbock noch span-
nende Strategiedebatten zu, wenn es um künftige
Macht- oder gar Kanzlerfragen geht.

Dass dagegen die SPD in Hamburg mal wieder auf-
trumpfte, hat übrigens sicher nicht mit der Partei, son-
dern allenfalls mit ihrem Local Hero zu tun: Der siegrei-
che Amtsinhaber Peter Tschentscher hat das Charisma
einer Eieruhr – spröde, aber verlässlich. Und selbst er
zog lieber ohne die Unterstützung seiner irrlichternden
Berliner Parteispitze in den Wahlkampf. Für viele Wäh-
ler dürfte er der kleinste gemeinsame Nenner gewesen
sein. Er wurde aber auch gegen die Grüne Fegebank ge-
wählt, ein Star aus Mangel an Alternativen. Und das hat
zugleich mit jener einstigen Volkspartei zu tun, die sich
in Hamburg konsequent weiter selbst marginalisierte.
Der Absturz der CDU in der Wählergunst ist ein Desas-
ter, was übrigens ebenso für die FDP gilt.
Bis Redaktionsschluss war noch nicht mal klar, ob die
Partei von Christian Lindner es wirklich in die Bürger-
schaft schaffen würde. Das ist kein Unfall mehr, son-
dern eine Bankrotterklärung, die einen klaren Grund
hat: Die absurde Rolle der FDP in Thüringen erschütter-
te eine Partei, die ohnehin derzeit ziellos nach Sinn
sucht. Und selbst die AfD, die im großen Rest der Repu-
blik die ebenso tradierten wie hysterisierten Konkur-
renten zuletzt mit zweistelligen Wahlergebnissen vor
sich hertrieb, floppte in Hamburg drastisch.
Viele haben also verloren: die einen nur ein Wahlziel,
die anderen weit mehr. Gewonnen haben aber – neben
Peter Tschentscher, der nun seine rot-grüne Koalition
fortsetzen oder sogar mit der CDU als harmlosem
Zwerg-Partner regieren könnte – die Demokratie und
der Glaube daran, dass noch ganz „normale“ bürgerli-
che Politbündnisse möglich sind.

Landtagswahl


Ein Gewinner, viele Verlierer


Der große Erfolg der SPD in
Hamburg ist ein lokales
Phänomen. Die Wahl liefert genug
Warnzeichen für die etablierten
Parteien, sieht Thomas Tuma.

Der Autor ist stellvertretender Chefredakteur.
Sie erreichen ihn unter:
[email protected]

Wirtschaft & Politik
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MONTAG, 24. FEBRUAR 2020, NR. 38
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