Handelsblatt - 24.02.2020

(Martin Jones) #1

W


enn ein deutscher Politiker
über die Erfahrung verfügt, in
unruhigen Zeiten Orientierung
zu geben, dann ist es Wolfgang
Schäuble. Seit 48 Jahren gehört
der Bundestagspräsident dem Parlament an. Der
CDU-Politiker hat 1990 maßgeblich den deutsch-
deutschen Einigungsvertrag mit ausgehandelt. Er
war lange Zeit Innenminister und übernahm mit-
ten in der Finanzkrise 2009 das Finanzministeri-
um. „Krisen sind Chancen“, hat man von Schäuble
häufig gehört. Auch im Interview mit dem Han-
delsblatt fällt dieser Satz. Und doch wirkt Schäuble
in dem eineinhalbstündigen Gespräch, in dem es
um die Krise der westlichen Demokratien, die
schwierige Lage der CDU, die Gefahr eines wirt-
schaftlichen Abstiegs Deutschlands und die Bedro-
hung durch den Rechtsterrorismus geht, tief be-
sorgt. „Dieser Zustand der Demokratie bereitet mir
Sorgen“, sagt er.

Herr Schäuble, nach den Vorgängen in Thüringen
kommt die CDU nicht zur Ruhe. Die SPD kämpft
schon länger gegen den Niedergang. Steckt
Deutschland in einer Staatskrise?
Wir haben keine Staatskrise, sondern eine Krise in
den Volksparteien. Das gilt aber nicht nur für
Deutschland. Um die Lage richtig zu analysieren,
muss man verstehen, dass fast alle westlichen De-
mokratien in der Krise stecken.

Woran machen Sie das fest?
Schauen Sie zu unseren europäischen Nachbarn:
In Großbritannien begann das Elend mit dem Bre-
xit, weil die Konservativen dem Druck von Ukip
nachgegeben haben. In Frankreich hat Emmanuel
Macron zwar mit La République en Marche einen
sensationellen Erfolg bei der Wahl zur Nationalver-
sammlung erzielt. Doch ewig wird er seine Mehr-
heit nicht allein darauf gründen können, dass an-
sonsten Marine Le Pen droht. Bei den Kommunal-
wahlen herrscht jetzt schon große Nervosität bei
En Marche. Und in Belgien, den Niederlanden,
Skandinavien – überall gibt es Minderheitsregie-
rungen.

Also eine tiefe Krise der europäischen Staaten?
Eine Krise des Westens. In den USA begann es mit
der starken Rolle der Tea-Party bei den Republika-
nern. Daraus ist die Stunde von Donald Trump ge-
worden, der die neue Wirklichkeit der Kommuni-
kation durch die sozialen Medien besser verstan-
den hat.

Inwiefern?
Es herrscht ein Überangebot an Informationen.
Der Wettbewerb geht nur noch um Aufmerksam-
keit. Deshalb verschwimmt der Unterschied zwi-
schen News und Fake News. Und das Problem
ist: „Fake news are fast news.“ Das machen sich
einige zum Vorteil. Der damalige Google-Chef
Eric Schmidt hat mir schon vor der US-Wahl 2016
in Davos gesagt: „Machen Sie sich mit der Mög-
lichkeit vertraut, dass Trump Präsident werden
kann. Warum? Weil Trump die Aufmerksamkeit
auf sich ziehen wird.“ Und genauso ist es gekom-
men.

Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass er dieses
Jahr wiedergewählt wird.
Das Impeachment-Verfahren spielt keine Rolle
mehr. Die Checks and Balances, ein Grundpfeiler
US-amerikanischer Gewaltenteilung, funktionieren
nicht. Jetzt wird sogar der Justizminister angewie-
sen, sich zurückzuhalten. Vielleicht ist die einzige
Chance, dagegen anzukommen, dass man so viel
Geld wie Michael Bloomberg hat. Braucht man ein
paar Milliarden Dollar, um im politischen Wettbe-
werb zu bestehen? Dieser Zustand der Demokratie
sorgt mich.

„Wir stecken


in der Krise“


Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble spricht


im Handelsblatt-Interview über die Krise


westlicher Demokratien – und was eine erschöpfte


Wohlstandsgesellschaft und ein handlungsunfähiger


Staat damit zu tun haben. Seiner Partei zeigt der


CDU-Politiker einen Weg auf, ihren Verfall zu stoppen.


Maurice Weiss für Handelsblatt

Wolfgang Schäuble

Titelthema


Das große Interview


MONTAG, 24. FEBRUAR 2020, NR. 38
4

Sind die westlichen Demokratien in Gefahr?
Der frühere Präsident Barack Obama hat es in sei-
ner Abschiedsrede richtig gesagt: „Die größte Ge-
fahr für die Demokratie ist, dass wir sie für selbst-
verständlich halten.“ Wir sehen in vielen Ländern,
dass politisches Engagement für Eliten nicht mehr
so interessant ist. Dahinter steckt eine Erschöpfung
unserer Wohlstandsgesellschaft.

Wie können Parteien auf die von Ihnen beschrie-
benen Umwälzungen reagieren?
Wir müssen Wege finden, die Prinzipien unserer
rechtsstaatlichen, freiheitlichen Demokratie in die-
ser total veränderten Welt deutlicher zur Wirkung
zu bringen. Das wird vor allem eine Aufgabe für
unsere junge Politikergeneration. Macron hat es in
Frankreich gemacht. Ein anderes Beispiel ist si-
cherlich Sebastian Kurz in Österreich.

Es gibt einen deutschen Politiker, der einen sehr
guten Draht zu Kurz hat: Jens Spahn. Ist er der
Hoffnungsträger der CDU?
Ich habe auch gute Beziehungen zu Sebastian Kurz.
Der frühere österreichische Kanzler Wolfgang
Schüssel, der so alt ist wie ich, hat mir schon früh
gesagt, dass Sebastian Kurz eine außergewöhnliche
politische Begabung habe.

Sie haben sich vor einigen Jahren mal so ähnlich
über Spahn geäußert.
Jens Spahn ist ein Politiker mit weit überdurch-
schnittlichen Begabungen. Er ist mir schon vor et-
lichen Jahren aufgefallen, da war er noch gesund-
heitspolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion.
Später hat mich Kanzlerin Angela Merkel gefragt,
ob ich Jens Spahn als Parlamentarischen Staatsse-
kretär im Finanzministerium haben möchte. Meine
Antwort war: sehr gern, wenn er das will.

Spahn ist jetzt so alt wie Macron, als er Präsident
in Frankreich wurde. Ist er in dem richtigen Alter,
um mehr Verantwortung zu übernehmen?
Das Alter spricht sicherlich nicht gegen Jens Spahn,
das Alter spricht eher gegen mich. Im Ernst: Das Al-
ter ist nicht die entscheidende Frage. Damit gebe
ich aber keine Empfehlung für Spahn in der Frage
des CDU-Vorsitzes oder der Kanzlerkandidatur. Ich
gebe überhaupt keine Empfehlung.

Warum nicht? Vor eineinhalb Jahren ha-
ben Sie sich für Friedrich Merz aus-
gesprochen und nicht für Spahn
oder Annegret Kramp-Karren-
bauer.
Wir haben jetzt noch eine völ-
lig offene Situation. Wir soll-
ten weiter daran festhalten,
was die Erklärung von Anne-
gret Kramp-Karrenbauer in-
tendiert hat: Sie hat sich aus
dem Rennen um die Kanzler-
kandidatur genommen. Und sie
hat gesagt, dass sich die Tren-
nung von Parteivorsitz und Kanzler-
amt nicht bewährt habe. Wenn die Fra-
ge der Kanzlerkandidatur geklärt ist, will sie
sich vom Parteivorsitz zurückziehen.

CSU-Chef Markus Söder empfiehlt, dass die CDU
schnell über den Vorsitz entscheidet und man sich
dann später, Ende des Jahres, gemeinsam in der
Union über den Kanzlerkandidaten verständigt.
Was ist an diesem Fahrplan verkehrt?
Das ist nun genau das Gegenteil von dem, was Frau
Kramp-Karrenbauer vorgeschlagen hat. Ich werbe
dafür, am ursprünglich besprochenen Fahrplan
der CDU-Gremien festzuhalten. Ansonsten haben
wir demnächst einen neuen CDU-Chef, aber das
grundlegende Problem der Trennung von Partei-
vorsitz und Kanzleramt nicht gelöst.

Derzeit läuft aber alles auf eine schnelle Wahl ei-
nes neuen Vorsitzenden hinaus. Lässt sich der Zug
noch stoppen?
Ich hoffe es, aber ich werfe mich auch nicht vor
den Zug. Jedem, der mich fragt, rate ich: Wir müs-
sen jetzt über die inhaltliche Positionierung der
CDU sprechen, über das Grundsatzprogramm


  • und erst danach die Personalfrage klären. Das
    reicht Ende des Jahres oder Anfang des kommen-
    den Jahres völlig aus.


Bei welchen Themen sehen Sie denn Positionie-
rungsbedarf?
Die Migrationsfrage bleibt ein Thema. Es muss
nicht, aber es kann passieren, dass sich die Flücht-
lingskrise wiederholt. Deshalb müssen wir das jetzt
angehen und Lösungen suchen. Das sollte ein zen-
trales Thema für die neue EU-Kommission sein.
Wir dürfen Menschen im Mittelmeer nicht ertrin-
ken lassen, und wir müssen gleichzeitig der Illusion
vorbauen, alle Menschen in Not in Afrika könnten
nach Europa kommen. Vor allem müssen wir Euro-
päer den Nachbarländern noch stärker helfen,
Flüchtlinge in der Region unterzubringen.

Was ist mit der Wirtschaftspolitik?
Die gehört auch zu den Themen, bei denen wir als
CDU Antworten liefern müssen. Was machen wir,
wenn sich die Wirtschaft schwächer entwickelt? Da
muss ich ja nicht nur auf aktuelle Konjunkturzah-
len schauen. Auch die langfristige Entwicklung, et-
wa die Probleme unserer Autoindustrie, gibt Anlass
zur Sorge. Das sind tiefe strukturelle Probleme, die
gelöst werden müssen.

Derweil versuchen Umweltaktivisten, den Bau der
Tesla-Fabrik in Brandenburg zu verhindern. Was
sagt das über den Standort Deutschland?
Selbst die Grünen sagen, dass dieser Protest we-
gen einer Kiefernplantage töricht ist. Tesla ist ge-
radezu ein Glücksfall für die Region Branden-
burg-Berlin. Es klingt hart, aber die Perfektionie-
rung des Rechtsschutzes ist eine Wachstums-
bremse in Deutschland. Wenn wir beschließen,
eine Straße oder Bahnstrecke zu bauen, muss das
in fünf Jahren erledigt sein. Derzeit ist selbst eine
kleine Ortsumgehung nicht unter 15 Jahren reali-
sierbar.

Geht es Deutschland nach zehn Jahren Dauerauf-
schwung zu gut, sodass die Warnsignale überse-
hen werden?
Der lang anhaltende Aufschwung ist in gewisser
Hinsicht auch ein Aspekt, der zur Krise unseres
politischen Systems beiträgt. Das ist etwas
Grundsätzliches, es hat mit dem Menschen zu
tun, wie er nun einmal ist. Alles, was wir glau-
ben, im Überfluss zu haben, ist nichts wert. Nur
durch das Bewusstsein der Knappheit entsteht
ein Wert. Alle glauben, wir hätten unendlich
Geld im Bundeshaushalt. Dazu trägt natürlich
auch die Geldpolitik mit den Nullzinsen bei. Wir

geben im Bundeshaushalt einen immer größeren
Teil für Soziales aus. Das ist nicht besonders
weitsichtig.

Kritisieren Sie Ihren Nachfolger im Bundesfinanz-
ministerium Olaf Scholz?
Überhaupt nicht. Das soziale Übergewicht im Haus-
halt ist keine Entwicklung, die mit Olaf Scholz be-
gonnen hätte. Auch ich habe als Finanzminister im-
mer wieder gewarnt, dass die Sozialquote zu hoch
ist. Offenbar haben es nicht viele gehört. Auf der
anderen Seite wollte ich die Steuerquote bei 22
Prozent halten. Das konnte ich schon in meiner
Partei nicht durchsetzen. Jetzt sind wir bei 24 Pro-
zent.

Immerhin gilt Ihre schwarze Null in der Union als
unantastbar. Das ist ein Erbe Ihrer Amtszeit. Ist
der schuldenfreie Haushalt die heilige Kuh der
Union?
Die schwarze Null ist kein Wert an sich. Wir haben
eine Schuldenbremse im Grundgesetz, die sehr
sinnvoll ist und die je nach Konjunkturlage auch
ein Defizit erlaubt. Die stammt im Übrigen nicht
von mir, sondern von meinem Vorgänger als Fi-
nanzminister, Peer Steinbrück.

Aus Ihrer Zeit als Finanzminister wird aber die
schwarze Null in Erinnerung bleiben. Sind Sie da-
rauf stolz?
Der erste Haushalt, den ich zu verantworten hatte,
sah bei einem Volumen von rund 300 Milliarden
eine Neuverschuldung von 86,5 Milliarden Euro
vor. Also fast ein Drittel. Das war die Folge einer
tief greifenden Finanz- und Wirtschaftskrise. Wir
haben das schrittweise zurückgeführt, indem wir
das Ausgabenvolumen des Haushalts nicht erhöht
haben. Dazu kam die günstige Entwicklung des Ar-
beitsmarkts, später haben uns auch die niedrigen
Zinsen geholfen. Dann haben wir im Finanzminis-
terium 2013 im engsten Kreis diskutiert, ob wir die
schwarze Null als ein Ziel ausgeben sollten. Wir ha-
ben uns dafür entschieden, weil sie eine große
kommunikative Wirkung hat.

Kritiker sagen, dass die Fixierung auf die schwar-
ze Null für den heutigen Investitionsstau in
Deutschland verantwortlich ist. Haben Sie
Deutschland kaputtgespart?
Das ist nachweislich Quatsch. Unser Problem ist
ein anderes: Sie können heute die Investitionen
im Haushalt um 100 Milliarden Euro erhöhen,
dann haben Sie am Ende des Jahres 100 Milliar-
den Euro mehr Überschuss. Das Geld fließt nicht
ab. Bei der Bahn ist der Engpass nicht das Geld.
Oder bei der Bundeswehr: Auch 50 Milliarden
Euro mehr im Verteidigungshaushalt helfen
nicht, wenn schon die Beschaffung von Schuhen
drei Jahre dauert.

Was sagt das über die Funktionsfähigkeit des Staa-
tes? Der Investitionsbedarf ist doch unbestreitbar.
Das sehen wir beispielsweise am Zustand der
Schulen. Warum kommt das Geld nicht an?
Alle sind sich einig, dass wir sehr viel mehr in Bil-
dung investieren müssen. Ich habe den Rechtsan-
spruch auf Ganztagsbetreuung in Grundschulen
vorgeschlagen. Und die Idee, finanzschwachen
Kommunen mit Mitteln des Bundes zu helfen,
stammt auch von mir. Es gibt halt nur ein Problem:
Die Bundesländer sagen zum Bund: „Du kannst
uns gern Geld geben, aber wir lassen uns nicht
reinreden.“ In Wahrheit bräuchten wir eine grund-
legende Föderalismusreform, aber die wird es auf
absehbare Zeit nicht geben.

Die Konsequenz ist dann, dass der Bund weiter
auf Milliardenüberschüssen sitzt, während sich
die Bürger über die maroden Schulen oder Stra-
ßen vor Ort ärgern.

Der Mensch Der pro-
movierte Jurist arbei-
tete nach seinem Stu-
dium zunächst in der
Freiburger Finanzver-
waltung. Der gebür-
tige Badener und
Vater von vier Kindern
ist häufig in Offen-
burg, wo er mit seiner
Frau in einem Mehrge-
nerationenhaus lebt.
Die Heimat, auch die
Nähe zu Frankreich,
hat den Protestanten
genauso geprägt wie
sein Glaube.

Der Politiker
Schäuble gehört dem
Bundestag seit 1972
an, er ist der dienstäl-
teste Abgeordnete,
hat damit so viel
Regierungserfahrung
wie kaum ein Politiker.
Der heute 77-Jährige
war Kanzleramtsmi-
nister, als Innenminis-
ter verhandelte er
1990 den Einheitsver-
trag. In jenem Jahr
wurde er Opfer eines
Attentats, seitdem ist
er querschnittsge-
lähmt. Von 2009 bis
2017 war Schäuble
Finanzminister,
managte die Euro-
Krise und schaffte
2014 erstmals seit
Jahrzehnten einen
Bundeshaushalt ohne
Neuverschuldung. Im
Oktober 2017 wurde
er zum Bundestags-
präsidenten gewählt.

Vita Wolfgang
Schäuble

Maurice Weiss für Handelsblatt

Es klingt hart, aber die


Perfektionierung des


Rechtsschutzes ist eine


Wachstumsbremse in


Deutschland.


Das große Interview


MONTAG, 24. FEBRUAR 2020, NR. 38
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