Handelsblatt - 24.02.2020

(Martin Jones) #1

D


as Coronavirus befällt auch
die Nervenbahnen der Welt-
wirtschaft. Die globalen Liefer-
ketten stehen unter enormem
Stress. Unterbrechungen im
internationalen Transport von Gütern,
Dienstleistungen oder Personen sind die
Spitze des Eisbergs. Nur zwei Beispiele: Ein-
schränkungen in der Produktion von Autos
oder Engpässe in der Lieferung von medizi-
nischen Wirkstoffen und damit von Arznei-
mitteln sind direkte Auswirkungen auch in
Europa und Deutschland.
Wir sind betroffen, nicht nur wirtschaft-
lich. Wir sollten das uns Mögliche tun, damit
es China gelingt, das Virus zu stoppen. Das
gebietet das humanitäre Interesse – und die
wirtschaftliche Notwendigkeit. Denn
Deutschland beispielsweise steht (nach
schwachen Wirtschaftszahlen für den De-
zember 2019) vor der Gefahr einer – mindes-
tens technischen – Rezession im ersten
Quartal 2020. In China aber ist die wirt-
schaftliche, soziale und am Ende auch politi-
sche Stabilität herausgefordert.
Die chinesische Führung geht mit der ak-
tuellen Krise radikal anders um als mit der
Sars-Krise vor siebzehn Jahren. Das ent-
spricht auch einem weltweiten Interesse
und grundlegend veränderten Umständen.
2003, im Jahr der Sars-Epidemie, erwirt-
schaftete China (kaufkraftbereinigt) 8,8 Pro-
zent der weltwirtschaftlichen Gesamtleis-
tung; 2020 sollten es den Prognosen zufolge
schon zwischen 19,5 und 20 Prozent sein.
2003 kostete die Sars-Krise rund ein Prozent
Wachstum in China. Die Auswirkungen auf
die Weltwirtschaft waren begrenzt. Heute ist
die weltweite Verflechtung dichter, die Ar-
beitsteilung intensiver.
Und China wandelt sich von der verlänger-
ten Werkbank zu einer zunehmend auf
Technologie und Innovation basierten Wirt-
schaft, in der Dienstleistungen schon über
die Hälfte der wirtschaftlichen Gesamtleis-
tung generieren. Die Folgen eines wochen-


langen (Teil-)Stillstands in der chinesischen
Wirtschaft sind global.
Das gilt auch auf wirtschaftlichem und fi-
nanzpolitischem Gebiet. Seit dem Ausbruch
der Krise haben die chinesische Regierung
und Chinas Zentralbank eine Reihe von Maß-
nahmen ergriffen, um sowohl den Absturz
von Unternehmen zu verhindern also auch
mögliche wirtschaftliche Kettenreaktionen.
Zum Beispiel durch:


  • den Rückerwerb von Bankanleihen in
    Höhe von über 150 Milliarden Euro durch
    die Zentralbank;

  • Zinssenkungen für Einlagen der Banken
    bei der Zentralbank, um damit Zinssenkun-
    gen für Unternehmenskredite zu ermögli-
    chen;

  • die Senkung von Zinsen für einjährige
    Kredite im Umfang von 200 Milliarden Ren-
    minbi (RMB) oder umgerechnet mehr als 26
    Milliarden Euro.
    Zudem hat die Zentralbank einen „Re-Len-
    ding Fund“ in Höhe von 300 Milliarden RMB
    oder 40 Milliarden Euro eingerichtet, der
    ebenfalls die Liquidität von Unternehmen si-
    chern soll. Das chinesische Finanzministeri-
    um trägt überdies die Hälfte der Zinsen, die
    ansonsten Unternehmen zu finanzieren hät-
    ten.
    Die Absicherung von ganzen Branchen
    und Unternehmen soll, wie gesagt, Kettenre-
    aktionen verhindern, Vertrauen stärken und
    die wirtschaftlichen Folgen der Krise über-
    winden helfen. Die bisherigen Maßnahmen
    in Wirtschaft und Finanzen sind abgewogen
    und erlauben noch wesentlich stärkere un-
    terstützende Eingriffe falls erforderlich.
    Denn bisher kann niemand sagen, ob es zu
    einer zweiten Welle von Infektionen kommt
    oder ob die drastischen Maßnahmen zur Un-
    terbrechung von Infektionsketten und Ein-
    dämmung der Epidemie dauerhaft wirken.
    Noch sind zahllose Menschen in China
    nicht an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt.
    Fast einen Monat nach dem chinesischen
    Frühlingsfest ist die Rückreisewelle immer


noch nicht abgeschlossen. Und das wird dau-
ern: ohne Bestätigung seines (womöglich weit
entfernten) Arbeitgebers kann man nicht an
den Ort seines Jobs reisen.
Und sind erst die Hunderte von Kilometern
zurückgelegt, folgt oft eine zweiwöchige Qua-
rantäne. Eine belastbare Prognose, in mensch-
licher und auch in wirtschaftlicher Hinsicht,
werden wir also frühestens Ende Februar ha-
ben.
Deutschland und Europa haben zurzeit
mancherlei Differenzen mit China. Aber viel-
leicht gerade deshalb wäre es angesichts der
vielen Menschen, die in China von der aktuel-
len Virusinfektion betroffen sind, gerade jetzt
wichtig, auch Signale der Mitmenschlichkeit
und der Hilfsbereitschaft zu senden. Wir wür-
den zeigen: Es mag uns politisch vieles tren-
nen, aber wir fühlen uns euch in dieser Zeit
der Krise menschlich nahe.
Wenig wird im Gedächtnis der Völker so
sehr bewahrt wie Zeichen der Solidarität in
schwieriger Zeit. Es ist deshalb auch gut, dass
sich neben der deutschen Bundesregierung
auch bereits einige deutsche und europäische
Unternehmen hilfsbereit in China engagieren.
Trotzdem fehlt es noch an vielem in den be-
troffenen Krisenregionen Chinas. Es sollte des-
halb eine koordinierte Initiative der deutschen
Wirtschaft geben, unterstützt von der deut-
schen Politik.
Zusammenarbeit und Unterstützung sind
der angemessene Ausdruck von menschli-
chem Mitgefühl und eines gemeinsamen Inte-
resses.

Die deutsche Wirtschaft

muss helfen

Im Kampf gegen das Coronavirus sollte der Westen alles tun, um China


zur Seite zu stehen, mahnen Sigmar Gabriel und Rudolf Scharping.


Die Autoren sind beide ehemalige
SPD-Vorsitzende. Rudolf Scharping war
zudem Verteidigungsminister und ist heute
Gesellschafter der RSBK
Unternehmensberatung. Sigmar Gabriel war
Vizekanzler und Außenminister. Heute ist er
Vorsitzender der Atlantik-Brücke sowie
einer der Hauptautoren der zur DvH Medien
gehörenden Experten-Gruppe „Global
Challenges“.

ddp images / Henning Schacht, dpa [M]

Deutschland und


Europa haben


viele Differenzen


mit China. Es mag


uns politisch vieles


trennen. Aber wir


sollten zeigen: Wir


fühlen uns euch in


dieser Krise


menschlich nahe.


Gastkommentar
MONTAG, 24. FEBRUAR 2020, NR. 38
48


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