Handelsblatt - 24.02.2020

(Martin Jones) #1
So darf es nicht sein. Ich bin deshalb dafür, den
Ländern das Geld trotzdem zu überweisen, auch
wenn ich mich im Bundestag mit dieser Forde-
rung nicht beliebt mache. Wenn eine notleiden-
de Gemeinde nicht mal einer renovierungsbe-
dürftigen Schule helfen kann und das Land
ebenfalls nicht, dann muss sich der Bund enga-
gieren, auch wenn das verfassungsrechtlich
schwierig ist. Wenn der Staat Handlungsfähig-
keit beweisen will, muss er die Probleme jetzt
lösen.

Das hört sich ganz so an, als würden Sie einem Bil-
dungszentralismus das Wort reden.
Ich bin bestimmt kein Befürworter von Zentralis-
mus in der Bildungspolitik. Aber mir ist es lieber,
das Geld fließt in die Bildungspolitik als in eine fal-
sche Rentenpolitik.

Das Kabinett hat in dieser Woche die Grundrente
beschlossen. Ist die ein Fehler?
Ich will hier nichts gegen die Grundrente an sich
sagen. Die hat durchaus ihre Berechtigung, was die
Anerkennung von Lebensleistung angeht. Ich frage
mich allerdings, ob wirklich alle bedürftig sind, die
die Leistung beziehen könnten. Meine Frau könnte
wahrscheinlich auch Grundrente beziehen. Sozial-
politik sollte sich stärker um die wirklich Bedürfti-
gen kümmern.

Die Union hat mit der Mütterrente aber auch ge-
gen dieses Prinzip verstoßen.
Die Kanzlerin und ich haben die Mütterrente
nicht erfunden. Doch dann wurde es ein Schla-
ger im Wahlkampf. Schließlich kam noch die SPD
und forderte im Gegenzug für die Mütterrente
die Rente mit 63. Da hat ein Fehler den andern
nach sich gezogen. Das wird aber auf Dauer nicht
gut gehen. Über solche Sachfragen muss die CDU
jetzt reden.

Die Große Koalition hat die Frage der langfristi-
gen Rentenfinanzierung aber in eine Kommission
ausgelagert, die sich gerade zerstreitet. Und auch
innerhalb der CDU tut man sich schwer.
Wem sagen Sie das? Ich habe immer wieder darauf
hingewiesen, dass sich bei einer steigenden Le-
benserwartung auch die Lebensarbeitszeit erhö-
hen muss. Und ich habe mir damit immer viel Är-
ger eingehandelt.

Zu einer guten Wirtschaftspolitik gehört heute
auch die Digitalisierung. Wie finden Sie die Digital-
strategie von EU-Kommissionspräsidentin Ursula
von der Leyen, die Europa zur Digitalmacht auf-
bauen will.
Digitalisierung sollte eine europäische Kompetenz
werden. Die beiden für Digitalisierung zuständigen
Kommissare Thierry Breton und Margrethe Vesta-
ger sind sehr starke Politiker. Statt der vielen natio-
nalen Netze brauchen wir ein europäisches. Darauf
weist beispielsweise Friedrich Merz seit Jahren hin.
Eine Möglichkeit wäre eine Fusion von Telekom-
Unternehmen aus Deutschland und Frankreich.
Mit Macron kann man darüber sprechen. Das wäre
eine gute Antwort auf seine Pläne. Noch ist es nicht
zu spät.

Derzeit laufen die Verhandlungen über den Fi-
nanzrahmen der EU. Sollte Deutschland mehr
zahlen, damit Aufgaben wie Außengrenzschutz
oder Digitalisierung finanziert werden können?
Ich habe mich immer gegen Warnungen vor einer
Transferunion verwahrt. Europa braucht Solidari-
tät. Das Entscheidende ist, dass es nicht zu Fehlan-
reizen kommt. Wenn reichere Länder helfen, dann
darf das nicht dazu führen, dass die Empfängerlän-
der ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen.

Ist der EU-Haushalt nicht auch eine Frage der
Prioritäten? Wenn die EU mehr Geld für die Digi-
talisierung ausgeben will, muss an anderer Stelle,
etwa der Landwirtschaftspolitik, gespart werden.
Das wird aber nicht einfach, auch nicht für
Deutschland, denn auch wir haben eine starke
Landwirtschaft. Trotzdem muss Europa die Kraft
finden, seine Prioritäten zu setzen. Ich bin jeden-
falls nicht bei denen, die sagen, dass Europa nicht
mehr kosten darf.

Die Wochenzeitung „The Economist“ hat Deutsch-
land 2003 als kranken Mann Europas bezeichnet.
Besteht die Gefahr, dass Deutschland wieder so
beschrieben wird, wenn nicht bald große Refor-
men angepackt werden?
Krisen sind auch Chancen. Die damalige Lage mit
einer hohen Arbeitslosigkeit hat Gerhard Schröder
auch geholfen, seine Agenda-Reformen durchzuset-
zen. Allerdings gehört zur Wahrheit auch: Damit hat
er vor allem die Fehler der rot-grünen Bundesregie-
rung aus der ersten Legislaturperiode korrigiert.

Welche Fehler?
In der Annahme, es würde eine rot-schwarze Koali-
tion geben, hat er im Wahlkampf viele teure Ver-
sprechen gemacht. Er dachte sich wohl, die Union
werde das ohnehin abräumen. Dann gab es aber
eine rot-grüne Bundesregierung. So hat er bei-
spielsweise den demografischen Faktor aus der
Rentenversicherung gestrichen. Ein schwerwiegen-
der Fehler, wie vieles andere in der Sozialpolitik
auch. Das macht auch den Unterschied zwischen
der Union und der politischen Linken aus.

Welchen Unterschied?
Die politische Linke glaubt, dass alles immer im
Überfluss da ist. Ich hatte vor Kurzem eine Debatte
mit dem neuen stellvertretenden SPD-Vorsitzenden
Kevin Kühnert. Das ist ein intelligenter Mensch, al-
lerdings mit der falschen Vorstellung, jedes Pro-
blem sei mit Geld aus öffentlichen Kassen zu lösen.
Das zieht sich durch die SPD-Politik wie ein roter
Faden.

Wir haben den Eindruck, dass er sich auch durch
den aktuellen Koalitionsvertrag von Union und
SPD zieht.
Da schimpfen Sie mit dem Falschen. Es ist ja kein
Geheimnis, dass ich kein Befürworter dieser Gro-
ßen Koalitionen bin. Und Koalitionsverträge von
Hunderten Seiten halte ich auch für überflüssig.
Dann zieht die Regierung eine Halbzeitbilanz, in
der sie akribisch auflistet, wie viele Hunderte Spie-
gelstriche abgearbeitet wurden, welche Projekte ih-
ren Weg ins Bundesgesetzblatt gefunden haben. Da
brauche ich doch nicht über Bürokratie zu klagen,
wenn die Politik ihr Handeln dadurch ersetzt.

Wie würden Sie es denn machen?
Ein paar Regeln über die Zusammenarbeit braucht
es. Vor allem ist aber ein Grundvertrauen in den
Partner nötig. Die ewige Suche nach dem kleinsten
gemeinsamen Nenner muss ein Ende haben. Gro-
ße Aufgaben brauchen große Lösungen. Der Öko-
nom Joseph Schumpeter hat doch völlig zu Recht
gesagt: Eine funktionierende Demokratie braucht
Führung. Führung heißt eben nicht nur, dauernd
den Konsens zu suchen.

Das führt uns zurück zur CDU. Was halten Sie
dann von der Teamlösung, die Jens Spahn, Armin
Laschet und Friedrich Merz für den CDU-Vorsitz

Forstarbeiten für künftige
Tesla-Fabrik in Brandenburg:
„Selbst eine Ortsumgehung ist
nicht unter 15 Jahren realisierbar.“

HCPlambeck

Wir erleben


seit geraumer


Zeit, wie


Antisemitismus


und Fremden -


feindlichkeit


immer scham -


loser geäußert


werden. Davon


müssen sich


demokrati -


sche Parteien


unmiss -


verständlich


distanzieren.


Das große Interview
MONTAG, 24. FEBRUAR 2020, NR. 38
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ins Spiel gebracht haben?
Das hat damit nicht direkt etwas zu tun. Die Team-
lösung sollte offenbar befriedend in die Partei wir-
ken. Dahinter verbirgt sich der Wunsch, Personal-
streit zu vermeiden. Nur konnte man sich aber
wohl nicht darauf einigen, wer das Team anführt.

Hat Kanzlerin Merkel die CDU-Chefin demontiert,
indem sie immer wieder in Parteidebatten einge-
griffen hat? Zuletzt hat sie sich auf einer Afrikarei-
se sehr deutlich zu den Vorgängen in Thüringen
geäußert.
Dass die Bundeskanzlerin etwas dazu sagen muss-
te, finde ich nachvollziehbar.

Dann war Kramp-Karrenbauer zu zögerlich?
Nein, dieser Vorwurf ist falsch. Ich war an dem Tag
der Thüringen-Entscheidung mit 50 Bundestagsab-
geordneten in Straßburg, gemeinsam mit 50 Kolle-
ginnen und Kollegen der französischen National-
versammlung. Frau Kramp-Karrenbauer war zu ei-
ner Anhörung eingeladen, und sie hat in dieser
Deutsch-Französischen Parlamentarischen Ver-
sammlung sofort und völlig überzeugend reagiert,
und zwar so, dass alle Anwesenden sehr befriedet
waren, einschließlich der französischen Abgeord-

neten. Die CDU-Vorsitzende und ich waren uns un-
mittelbar einig, dass der Vorgang eine Katastrophe
ist. Sie hat das inakzeptabel genannt. Von Zöger-
lichkeit kann also keine Rede sein.

Warum tut sich die CDU derzeit so schwer im Um-
gang mit der AfD?
Die Positionierung gegenüber der AfD ist klar: Es
gibt keine Zusammenarbeit mit ihr. In der AfD sind
aber auch Menschen, die 30 Jahre in der CDU wa-
ren. Das sind nicht plötzlich alle Nazis. Aber gerade
diese Mitglieder sollten erkennen: Das Problem ist,
dass die AfD keine Grenze zieht. Sie ist offen ins
Rechtsextreme. Man darf Björn Höcke einen Fa-
schisten nennen. Er ist gerade bei Pegida aufgetre-
ten. Dort sind auch Verbrecher unterwegs.

In Hanau hat ein Deutscher offenbar aus rassisti-
schen Motiven neun Menschen in einer Shisha-
Bar und einem Kiosk erschossen. Trägt die AfD für
solche Taten eine Mitverantwortung?
Wir erleben seit geraumer Zeit, wie die Radikalisie-
rung zunimmt, wie sich Gewaltaufrufe häufen, An-
tisemitismus und Fremdenfeindlichkeit immer
schamloser geäußert werden. Davon müssen sich
demokratische Parteien unmissverständlich distan-

zieren. Mit direkten Schuldzuweisungen macht
man es sich zu einfach. Aber richtig ist: Wenn jedes
Problem auf Migration zurückgeführt wird, gerät
man unweigerlich in eine Eskalationsschiene, in
der es generell gegen Minderheiten geht. Dabei
wissen wir doch längst, dass aus Worten Taten wer-
den können. Aus dieser Verantwortung sind ge-
wählte Repräsentanten nicht zu entlassen.

Erst die Ermordung des CDU-Politikers Walter Lüb-
cke, dann der Anschlag auf die Synagoge in Halle mit
zwei Toten und nun Hanau – haben wir in Deutsch-
land die Gefahr des rechten Terrors unterschätzt?
Diese Straftaten nehmen in einem erschreckenden
Maße zu. Wir hatten zuvor die Morde des NSU –
wie der Überfall auf die Synagoge ist das etwas,
von dem wir geglaubt hätten, dass es nicht mehr
möglich sei. Das ist Terrorismus, und Versäumnisse
darin, diesen zu bekämpfen, müssen schnell aufge-
arbeitet werden.

Was muss der Staat tun, um solchen Terrorismus
zu bekämpfen?
Es ist an den Ermittlungsbehörden, die genauen
Hintergründe der Tat in Hanau zügig und umfas-
send aufzuklären – und es ist an der Politik und am
Rechtsstaat, dafür zu sorgen, dass wir nicht nur
von wehrhafter Demokratie sprechen, sondern das
Recht durchsetzen. Das Machtmonopol des Staates
ist dazu da, dass es konsequent angewandt wird.

Ist es angesichts solcher Entwicklungen noch er-
klärbar, dass für die CDU eine Zusammenarbeit
mit der AfD genauso schlimm ist wie mit der
Linkspartei?
Die Linkspartei ist rechtlich noch die alte SED. Wir
hatten und haben Kollegen im Bundestag, die Op-
fer der Stasi gewesen sind. Der Kampf gegen den
Kommunismus ist ein Teil der CDU. Natürlich ist
Bodo Ramelow kein Kommunist, er war Gewerk-
schafter in Hessen. Aber das ändert nichts daran,
dass die Linke aus der Nato austreten will, dass sie
eine unklare Haltung zur EU hat, dass sie in der Au-
ßenpolitik starke Rücksicht auf Russland nimmt.
Da gibt es keine Zusammenarbeit mit der CDU.
Aber wir setzen die Linkspartei nicht mit der AfD
gleich. Es gibt keine Äquidistanz.

Wie bekommt die CDU ihren Verfall gestoppt?
Jedenfalls nicht, indem wir ewig debattieren, von
wem wir uns abgrenzen. Dann haben wir schon
verloren. Wir, die CDU, wollen doch die große, sta-
bile Kraft sein, die Deutschland in die Zukunft
führt. Wir müssen sagen, wofür wir stehen, und
über Inhalte sprechen. So wie Norbert Röttgen in
der Pressekonferenz, in der er seine Kandidatur er-
klärt hat. Damit habe ich mich nun aber nicht etwa
für Norbert Röttgen ausgesprochen.

Sie sollen in der vergangenen Präsidiumssitzung
gewarnt haben, dass die Union gar keinen Kanzler
mehr stelle, wenn sie so weitermache. Ist die Lage
so ernst?
Ich ärgere mich furchtbar darüber, wenn aus ver-
traulichen Gremiensitzungen immer gleich alles
durchgestochen wird. Deshalb werden Sie von mir
dazu nichts hören. Aber schauen Sie doch nach
Hamburg. Wie oder von wem die CDU sich da ab-
grenzt, war nicht so furchtbar relevant.

Wie kann es besser werden?
Inhalte! Es geht nur über Inhalte.

Sie gehen davon aus, dass Frau Merkel nicht noch
einmal antritt. Schleswig-Holsteins Ministerpräsi-
dent Daniel Günther hat bereits vorgeschlagen,
mit der Kanzlerin Wahlkampf zu machen.
Der Respekt vor Frau Merkel gebietet, nicht an ih-
ren Ankündigungen zu zweifeln.

Schließen Sie Neuwahlen aus?
Ich schließe nichts aus. Aber bei einem Blick ins
Grundgesetz sehen Sie die hohen rechtlichen Hür-
den. Die müssten erst mal überwunden werden.
Das sehe ich nicht.

Her Schäuble, vielen Dank für das Gespräch.

Die Fragen stellten Sven Afhüppe, Jan Hilde-
brand und Thomas Sigmund.

Thüringer
AfD-Vorsitzender
Höcke: „Offen ins
Rechtsextreme“.

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CDU-Politiker Merz,
Laschet, Spahn,
Röttgen (v. l.):
Erst Inhalte, dann
Personalfragen.

dpa, imago, Jens Schicke, Afp [M]

Das große Interview
MONTAG, 24. FEBRUAR 2020, NR. 38
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