Handelsblatt - 24.02.2020

(Martin Jones) #1
dpa (3)

Christoph Kapalschinski, Thomas Sigmund,
Gregor Waschinski Hamburg, Berlin

D


as wollte sich der Bundesfinanzmi-
nister nicht entgehen lassen. Olaf
Scholz brach seine Dienstreise zum
G20-Gipfel in Riad vorzeitig ab, um
bei dem Wahlsieg seiner SPD in Ham-
burg dabei zu sein. Er stand zwar nicht zur Wahl,
aber er schaffte es, die ersten Fernsehinterviews
nach der Prognose um 18 Uhr zu geben. Scholz war
von der Bundespartei bei der Wahl zum Parteivor-
sitzenden abgestraft worden. In Hamburg siegte mit
seinem bürgerlichen Kurs sein Nachfolger Peter
Tschentscher als Erster Bürgermeister. Eine kleine
Genugtuung für Scholz an diesem Abend.
Die Hamburger gingen am Sonntag unter beson-
deren Umständen zur Wahl. Der Terroranschlag
von Hanau hatte das Wahlkampf finale in der Han-
sestadt überschattet, Abschlusskundgebungen wur-
den abgesagt. Auch die bundespolitischen Schock-
wellen nach dem Eklat um die Ministerpräsiden-
tenwahl in Thüringen waren im Norden spürbar.
Unruhige Zeiten, in denen landespolitische Fragen
in den Hintergrund zu rücken schienen. Die Ham-
burger entschieden sich vielleicht auch deshalb für
Kontinuität: Die SPD bleibt laut der ersten Hoch-
rechnung um 19.10 Uhr mit knapp 38 Prozent
stärkste Kraft. Zwar büßte sie im Vergleich zur
Wahl vor fünf Jahren etwa acht Prozentpunkte ein,
kann die rot-grüne Koalition aber fortsetzen.
Die Grünen verfehlten ihr hochgestecktes Ziel,
die SPD zu überholen. Doch mit 25 Prozent, einem
Plus von 13 Punkten, fuhren sie eines der besten
Ergebnisse der Parteigeschichte ein. Die CDU stürz-
te dagegen auf ihr bundesweit schlechtestes Land-
tagswahlergebnis seit fast 70 Jahren. Die Christde-
mokraten unterboten sogar den Negativrekord der
Hamburger Bürgerschaftswahl 2015 und sind den
Prognosen zufolge mit elf Prozent gerade noch
zweistellig. Zittern um den Verbleib in der Bürger-
schaft musste die FDP. Auch für die AfD war nicht
klar, ob sie die Fünfprozenthürde schafft. Vor fünf
Jahren waren die Rechtspopulisten in der Hanse-
stadt erstmals in ein westdeutsches Landesparla-
ment eingezogen. Die Linke ist mit neun Prozent
erneut klar drin in der Bürgerschaft.
Für die deutsche Sozialdemokratie haben Wahl-
erfolge wie der in Hamburg mittlerweile großen
Seltenheitswert. Die neue Parteiführung mit Saskia
Esken und Norbert Walter-Borjans kann sich das
Hamburger Ergebnis kaum ans Revers heften, auch
wenn sie am Wahlabend das Ergebnis als großen
Erfolg im Bund werteten. Tschentscher hatte aller-
dings alles versucht, sich vom Linksduo aus dem
Willy-Brandt-Haus zu distanzieren. Esken und Wal-
ter-Borjans durften nicht einmal Wahlkampf für
ihn machen. Stattdessen setzte der Bürgermeister
auf den bürgerlichen Politikstil und das Motto
„Hamburg gut regieren“ seines Amtsvorgängers
Olaf Scholz – also jenes Mannes, der im Kampf um
den SPD-Vorsitz gegen Esken und Walter-Borjans
verloren hatte.
Während die Hamburger Sozialdemokraten die
Parteispitze aus Berlin fernhielten, war Robert Ha-
beck ein gern gesehener Wahlkampf-Gast bei sei-
nen Grünen. Das lag nicht nur an der norddeut-
schen Verbundenheit, der Parteichef stammt aus
dem benachbarten Schleswig-Holstein. Habeck
sollte mit seiner Popularität der Spitzenkandidatin
Katharina Fegebank helfen, neue Bürgermeisterin
zu werden. Die Hoffnungen erfüllten sich nicht.
Dramatisch ist der Absturz der CDU. Die Christ-
demokraten, die von 2001 bis 2011 regierten, tau-
meln in der Hansestadt Richtung Einstelligkeit. Bei
der FDP stand der Verbleib in der Bürgerschaft auf
der Kippe. Dabei hatten die Liberalen erst vor fünf
Jahren mit 7,4 Prozent den Wiedereinzug in das
Hamburger Landesparlament gefeiert, der Beginn
ihres Comebacks auf Landes- und Bundesebene.
CDU und FDP hatten schon in den vergangenen
Tagen als Erklärung für die drohende Pleite ge-
streut, dass der Wahlkampf wegen des Duells zwi-
schen Tschentscher und Fegebank sehr schwierig
gewesen sei. Doch beide Parteien dürften auch für
ihre Rolle im Thüringen-Chaos abgestraft worden
sein. Anfang Februar hatte der FDP-Politiker Tho-

mas Kemmerich in Erfurt die Wahl zum Minister-
präsidenten angenommen, obwohl sie nur durch
Unterstützung der AfD möglich war. Auch die Thü-
ringer CDU hatte für Kemmerich gestimmt, der in-
zwischen zurückgetreten ist.
Die Zustände in der Union sind konfus, seit Par-
teichefin Annegret Kramp-Karrenbauer wegen ih-
res Umgangs mit der Thüringen-Krise ihr Amt auf-
geben will. Schleswig-Holsteins Ministerpräsident
Daniel Günther forderte nach Bekanntwerden des
schlechten Ergebnisses in Hamburg ein schnelles
Ende der Führungsdebatte. „Die Situation in Thü-
ringen ist desolat gewesen in den letzten Wochen“,
kritisierte Günther. „Eine irrlichternde Union, die
den Menschen keinen klaren Halt gibt und keine
klaren Perspektiven aufzeigt, ist im Wahlkampf
auch für die Parteifreunde vor Ort ein Hindernis.“
Bei der FDP hatte sich der Bundesvorsitzende
Christian Lindner wegen der Vorgänge in Thürin-
gen schon vorher genötigt gefühlt, im Vorstand eine
Vertrauensfrage zu stellen, die er dann klar ge-
wann. Das reicht offenbar nicht. Am Wahlabend
musste der FDP-Vorsitzende erneut die Abgrenzung
zur AfD bekräftigen. Seine Partei wolle sich etwa für

Eigenverantwortung starkmachen und in Bildung
investieren, sagte er. „Das alles geht nicht mit einer
völkischen Partei wie der AfD.“ Die Generallinie sei-
ner Partei sei: „Keine Kooperation mit der AfD“.

Höhere Wahlbeteiligung
Rund 1,3 Millionen Hamburger waren aufgerufen,
über die Neubesetzung der 121 Sitze in der Bürger-
schaft zu entscheiden. Die Wahlbeteiligung stieg
laut ARD deutlich auf 62 Prozent. Bei der Bürger-
schaftswahl 2015 war sie auf 56,9 Prozent und da-
mit auf den niedrigsten Wert seit 1949 gefallen. Die
Bürgerschaft hatte für 950 000 Euro eine „Wahl-
motivationskampagne“ aufgelegt, mit Werbeplaka-
ten im Stadtbild und Influencern in den sozialen
Medien. Auf der Mönckebergstraße, der Einkaufs-
meile in der Innenstadt, stellte die Stadt einen Bü-
rocontainer auf. Dort konnten Wahlberechtigte
schon in den vergangenen Wochen nach Vorlage
des Personalausweises ihre Stimme abgegeben.
Hamburgs Zweite Bürgermeisterin und Spitzen-
kandidatin der Grünen, Katharina Fegebank, sieht
in dem Ergebnis ihrer Partei bei der Bürgerschafts-
wahl den klaren Auftrag, die rot-grüne Koalition

Ein bisschen siegt


auch Scholz


Die SPD bleibt trotz Verlusten die stärkste Partei in der Hansestadt.


Bürgermeister Tschentscher kann die Koalition mit den Grünen


fortsetzen. Und der Bundesfinanzminister feiert ein Mini-Comeback.


Hamburg-Wahl


Hamburg-Wahl

1,


MILLIONEN
Hamburger waren am
Sonntag aufgerufen,
über die Neubeset-
zung der 121 Sitze in
der Bürgerschaft zu
entscheiden.

Quelle: dpa

Wirtschaft

& Politik

1

MONTAG, 24. FEBRUAR 2020, NR. 38
8

Hamburg: Die SPD
von Bürgermeister Pe-
ter Tschentscher (ganz
links) bleibt trotz
Stimmenverlusten im
Vergleich zur Wahl vor
fünf Jahren die stärks-
te Kraft. Dadurch tri-
umphiert auch Partei-
kollege Olaf Scholz.
Die Grünen um Katha-
rina Fegebank (oben)
legten stark zu und
feierten mit der Bun-
desvorsitzenden An-
nalena Baerbock. Die
FDP mit Spitzenkandi-
datin Anna von Treu-
enfels (links) zitterte
um den Einzug in die
Bürgerschaft.

fortzuführen. Sie leite den Auftrag ab, dass es so
weitergehen soll, sagte Fegebank – „mit deutlich
starken Grünen“. Auf die Frage, ob die Stadt noch
nicht bereit gewesen sei für eine Frau an der Spitze
oder nicht bereit für eine Grüne, sagte Fegebank:
„Die Zustimmungswerte für die rot-grüne Koalition
sind deutlich. Zwei Drittel sind zufrieden gewesen
mit Rot-Grün.“

> Kommentar Seite 15

Union

CDU streitet weiter über


Thüringen


Generalsekretär Paul Ziemiak, Jens
Spahn und Friedrich Merz attackieren
die Thüringer CDU wegen ihrer
Kooperationspläne mit dem Linken Bodo
Ramelow.

Barbara Gillmann Berlin

D


er Kompromiss in Thüringen zur Wahl des
Linken-Politikers Bodo Ramelow zum Mi-
nisterpräsidenten und zur Unterstützung
einer Minderheitsregierung bis zu Neuwahlen
droht die CDU im Bund und in Ostdeutschland zu
spalten. Mehrere führende CDU-Politiker auf Bun-
desebene und in Sachsen-Anhalt warnten die CDU-
Fraktion in Erfurt, Ramelow zu unterstützen. „Wer
Herrn Ramelow als Kandidaten der Linken zum Mi-
nisterpräsidenten wählt, verstößt gegen die Be-
schlüsse der CDU“, sagte CDU-Generalsekretär
Paul Ziemiak am Wochenende. Auch die Aspiran-
ten auf den CDU-Vorsitz, Jens Spahn und Friedrich
Merz, äußerten sich sehr kritisch.
Dagegen verteidigten Thüringer CDU-Politiker
den Beschluss, Ramelow nicht aktiv mitzuwählen,
aber eine Minderheitsregierung bis zur Neuwahl
aus der Opposition heraus zu unterstützen. Sie hat-
ten sich nach stundenlangen Verhandlungen mit
der Linken, SPD und Grünen am Freitagabend auf
eine Neuwahl im April 2021 geeinigt. Bis dahin soll
Rot-Rot-Grün unter Ramelow eine Minderheitsre-
gierung stellen. Ramelow will sich dafür am 4.
März im Landtag erneut der Wahl zum Minister-
präsidenten stellen.
Auslöser der Krise war die überraschende Wahl
des FDP-Politikers Thomas Kemmerich zum Regie-
rungschef mit Stimmen der CDU und der AfD. Dies
hatte bundesweit zu einem Sturm der Entrüstung
geführt. Kemmerich trat daraufhin zurück, ist aber
geschäftsführend im Amt.
Gesundheitsminister Spahn wandte sich gegen
eine Wahl Ramelows und sagte, es gehe „um die
Substanz unserer Partei – nicht nur in Thüringen“.
Merz twitterte, ein solcher Schritt würde „die
Glaubwürdigkeit der CDU in ganz Deutschland“ be-
schädigen. „Die Thüringer CDU hätte sich von An-
fang an niemals auf den verächtlichen Umgang mit
unserer Demokratie durch die AfD einlassen dür-
fen.“
Der thüringische Landtagsabgeordnete Thomas
Gottweiss warf seinen westdeutschen Kollegen Ah-
nungslosigkeit vor. Wer eine Neuwahl in Erfurt for-
dere wie Ziemiak, müsse wissen, dass dies ohne ei-
ne Wahl eines neuen Ministerpräsidenten gar nicht
gehe, twitterte Gottweiss. Die CDU-Frakti-
on in Thüringen wies den Vorwurf zurück,
sie verstoße gegen Beschlüsse der Bun-
des-CDU. Fraktions- und Parteichef Mike
Mohring kündigte in der „Bild am Sonn-
tag“ seinen Rückzug Anfang März an.
Erwartet wird, dass einige Christdemo-
kraten Ramelow nun in der geheimen Wahl
im ersten Wahlgang mitwählen. Sowohl Ra-
melow selbst als auch die CDU Thüringen
betonten, es habe keine Absprache gege-
ben, dass die CDU den Linken-Politiker
wähle – seine Wahl sei am Freitag über-
haupt nicht Thema gewesen.
Ramelow rechnet dennoch mit ei-
ner Mehrheit. Seinem Dreierbündnis
fehlen im Landtag vier Stimmen für
eine Mehrheit – diese müssen damit

zwangsläufig von der CDU oder der FDP kommen.
„Da äußern sich jetzt Leute, die nicht am Tisch wa-
ren und vielleicht vor allem die Hamburger Wahl
im Blick haben“, sagte der Linken-Politiker am
Sonntag. „Da wird von Berlin etwas hineininterpre-
tiert, was es nicht gibt.“ Die Gespräche in Erfurt
hätten „nicht das Ziel gehabt, dass sich die vier
CDU-Vertreter in Widerspruch zu ihrem Parteitags-
beschluss bringen.“ Auch deshalb habe er bereits
zu Beginn des Treffens am Freitag erklärt, dass er
nach Gesprächen mit vielen Abgeordneten der de-
mokratischen Landtagsfraktionen der Überzeu-
gung sei, dass er bei der Wahl im ersten Durchgang
eine Mehrheit bekomme – und AfD-Stimmen keine
Rolle spielen. „Deshalb bedurfte es keiner vertrag-
lichen Regelung mit der CDU-Fraktion.“
Die frühere Ministerpräsidentin Christine Lieber-
knecht (CDU), die auch als Übergangsregierungs -
chefin bis zur Neuwahl im Gespräch gewesen war,
stellte sich hinter die christdemokratische Land-
tagsfraktion. Den von Landespolitikern als „histo-
risch“ bezeichneten Kompromiss wollte sie weder
Duldung noch Tolerierung nennen – es gehe um
die Zusammenarbeit einer Minderheitsregierung
mit einer konstruktiven Opposition, sagte sie. „Das
ist eine realpolitische Lösung. Es gibt gute Gründe
dafür.“

Lieberknecht: Im Osten gibt es
andere Verhältnisse
Nach einem Parteitagsbeschluss der CDU von
2018 soll es weder eine Zusammenarbeit mit der
AfD noch der Linken geben. „Das war sicher auch
richtig. Aber in den ostdeutschen Ländern gibt es
andere Verhältnisse“, sagte Lieberknecht dazu. Im
Thüringer Landtag stelle die Linke die stärkste
Fraktion, die AfD die zweitstärkste.
Lieberknecht hatte schon nach ihrer Absage als
mögliche Interimsministerpräsidentin ihrer Partei
ein Zugehen auf die Linke empfohlen. Ähnlich hat-
te sich auch ihr Parteifreund, Schleswig-Holsteins
Ministerpräsident Daniel Günther, geäußert.
Kritik an der Haltung der Bundes-CDU kam aus
anderen Parteien. „Es ist unverantwortlich, wie die
Bundes-CDU aus ideologischen Gründen die Lage
chaotisiert und damit eine sinnvolle Lösung für
Thüringen infrage stellt“, sagte die Grünen-Frakti-
onschefin Katrin Göring-Eckardt den Zeitungen der
Funke Mediengruppe.
Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping sagte: „Lie-
be CDU, willkommen im Jahr 2020! Die westdeut-
schen Mehrheiten der Bonner Republik sind ein-
fach vorbei.“ Die CDU habe nicht verstanden, dass
man im Osten, zum Beispiel in Thüringen, nicht an
der Linken vorbeikomme, wenn man demokra-
tische Mehrheiten wolle.
SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil forder-
te, dem Thüringer AfD-Chef Björn Höcke den
Beamtenstatus zu entziehen. „Es ist mir un-
begreiflich, wieso die hessische Landesre-
gierung einem Verfassungsfeind wie
Björn Höcke nicht den Beamtensta-
tus aberkennt. Er ist beurlaubter
Geschichtslehrer. Ein Feind der
Demokratie und Spalter des Lan-
des kann nicht dem Staat die-
nen“, schrieb er auf Twitter.
Höcke ist einer der Anführer
des „Flügels“ der AfD, den der
Verfassungsschutz des
Rechtsextremismus verdäch-
tigt. Hessens Kultusminister
Alexander Lorz (CDU) sieht nach
einem Bericht der „Frankfurter
Rundschau“ jedoch keine rechtli-
che Möglichkeit für Disziplinar-
maßnahmen, solange Höckes Tä-
tigkeit als Lehrer ruhe.

Bodo Ramelow:
Der Linken-Politiker will sich
mit Stimmen der CDU zum
Ministerpräsidenten von Thüringen
wählen lassen.

dpa

37,

25,

11,

9,

5,

4,

51

-8,

+13,

-4,

+0,

-2,

-1,

PP

PP

PP

PP

PP

PP

SPD

Grüne

CDU

Linke

FDP

AfD

% % % % % %

Bürgerschaftswahl in Hamburg
Hochrechnung 19:10 Uhr, Ergebnis in Prozent

Zahl der Sitze

SPD

35

Grüne

16

CDU

Linke 12

FDP 7

Gesamt:
121
Sitze

HANDELSBLATT

PP=Prozentpunkte
Quelle: ARD/Infratest-dimap

Wirtschaft & Politik
1

MONTAG, 24. FEBRUAR 2020, NR. 38
9
Free download pdf