Frankfurter Allgemeine Zeitung - 10.03.2020

(Marcin) #1

SEITE 10·DIENSTAG, 10.MÄRZ 2020·NR. 59 Literatur und Sachbuch FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Dieses Buch isteine späteLiebeserklä-
rung. Sie führte Hans-Klaus Jungheinrich,
denvoranderthalb Jahrenverstorbenen
Musikkritiker der „Frankfurter Rund-
schau“, nochmals in die tschechische Mu-
siklandschaft, der er sichzuvor schon öf-
tergewidmethatte, nämlich zu deren ers-
temherausragenden Exponenten,
Bedřic hSmetana. Es gilt, einen außerhalb
seines Heimatlandes meistauf zweiWer-
ke –die „Verkaufte Braut“ und denTon-
dichtungs-Zyklus „MeinVaterland“–ver-
kürztenKomponisteninseinerganzen,
durchaus widersprüchlichenVielfalt zu er-
schließen.
Der Autorschildert, wie schwierig es
für Tschechienwar, eine eigene Identität
innerhalb des habsburgischenVielvölker-
staates auszubilden. Im Laufedieses Pro-
zesses wurde der ikonischgewordeneNa-
tionalkomponistSmetana als Symbolfigur
herangezogen. Die historischen Erfahrun-
gender Tschechen mit Deutschland hat
Jungheinrichgenauso kritischimBlick
wie die wichtigeLiteratur zum Thema.
Wenn etwa in Quellen Sachverhaltever-
kürztdargestellt werden, um dem „Natio-
nalheiligtum“ Smetana nicht zu nahe zu
treten, wirddies deutlichbenannt.
Einerseits sind viele dervonJunghein-
rich abgehandelten Aspektebekannt:dass
das Deutsche die allgemeineUmgangs-
sprache der damaligen böhmischen Intelli-
genz und so auchSmetanas war, der sich
erst in der zweiten Hälfte seinesLebens
an dasgeschriebeneTschechischheranar-
beiteteund es niefehlerfrei beherrschte;

dasserals bekennenderWagnerianer den
internationalen Erfolg gerade seiner„Ver-
kauften Braut“ eher misstrauisch betrach-
tete ;dasssichsein Selbstverständnis als
tschechischerNationalkomponistnur in
einem langen Prozessformte.
Andererseits offenbaren sichsolche
Problemlagen als permanenter,immer
mitbestimmender Kontrapunkt dieses
„Musikerlebens in der MitteEuropas“. Da
erhalten auchscheinbareKleinigkeiten
ihreBedeutung wie die, dassder Kompo-
nist, dessenVornamen wir heutepolitisch

korrekt nur nochinseiner tschechischen
Form verwenden, seinerseits im Schrift-
verkehr langeZeit nicht nur als „Fried-
rich“, sondern–und das nichtetwa in ei-
nem Geschäftsbrief, sondernineiner Lie-
beserklärung an seine späterezweiteFrau
–als preußischstrammer „Fritz“ auftritt.
Im Übrigenist der biographischeAb-
schnitt eher knappgehalten, sieht man
voneinigen Schlaglichternauf die zentra-
len UmschlagpunktedieserKünstlervita
ab. Besonders pointiertverfährtJunghein-
rich,wenn er sichden Werkbeschreibun-
genwidmet. Dabei handelt es sichnicht
um wissenschaftliche Analysen, sondern
um Klangpromenaden, denen er mit Be-
griffenwie „qualstrig“, „schlurihaft“ und
„Hardrock-Oper“ beikommt.Ebenso erfri-
schend mutet es an,wenn erPassagen aus
der „Libussa“ mit den Landschaftsbildern
einesFerdinand Hodler oder Giovanni Se-
gantinivergleicht.
Manfolgt dieser souveränen Betrach-
tung selbstdagern, wo man die Dingeaus
eigener Erfahrung anderssehen oder
zumindestgewichten würde–sobei der
Frage, ob die Ophüls-Verfilmung der
„VerkauftenBraut“ von1932 wirklichein
eigenesKapitel braucht.Streitbar istder
Autorauchda, wo er über Smetana hin-
aus bis in die Gegenwart weiterdenkt,
etwa im Abschnitt über verschiedene
kompositorische Handschriftenund de-
renEinflüsse auf dieweiter e(nicht nur
tschechische) Musikentwicklung.Ähn-
lichPrägnantesfindetsichimEinleitungs-
kapitel,wo er –übernommen aus einer

früheren Publikation–das Problemfeld
der „Nationalkulturen“ allgemein und der
tschechischen insbesondere polemischzu-
gespitzt abhandelt und dabei eine Ana-
lyse der „realsozialistischen“ ČSSR-
Kulturpolitik zwischen 1945 und 1989
liefert.
Am Ende des Bucheskommen in drei
angefügten Essays neben IvanaRentsch,
die sichdem Austauschzwischen Smeta-
na und anderen slawischen Musikkulturen
widmet, mit GerhardR.Kochund Wolf-
gang Sandner auchzweiAutoren dieser
Zeitung zuWort.Dassder Schlussabsatz
vonSandnersEssay –erumkreistden von
Bohumil Hrabal in dieWelt gesetzten Be-
griff„Krasosmutnění“ (zu Deutsch:
„Schöntrauer“)–auchschon zu Beginn
der Abhandlung unter JungheinrichsNa-
men erscheint, istsicher,wie einverirrtes
Notenbeispiel an spätererStelle, mehr als
nur ein Schönheitsfehler des ansonsten
gut lektoriertenBandes. DieVerwechs-
lung mag an der Einigkeit zweierAutoren
liegen,die nationaleEigenheiten fürunb e-
dingt reflexions- und liebenswert halten.
Auch Irrtümer können manchmal zur
Wahrheit führen. GERALDFELBER

E


chte Dionysiker sind selten,
und vermutlich istdas gut so.
UnsereKünstler,zumal die
jungen wilden, pilgerndoch
meistbravzum Tempel des Apoll. Ihre
Weihe empfangen sie imZeichen des
„Gnothi seauton“–und auchdaran ist
nichtsfalsch:„Erkennedichselbst“als
Grundlagefür allesweitereErkennen.
Allerdings führte dieses in derAutoren-
ausbildungstarkgeförderte Credo zu
zahllosenSelbstbeschau-Debüts, in de-
nen leichtverfremdete Alter Egos der
Autorenderenkaum je wirklich dramati-
sche Kindheiten nachspielen. Aus der
Flutsolcher Erinnerungsbücher ohne
übergroßen Erkenntnisgehalt ragt jetzt
jedoch–und seltengenug –ein lebens-
geschichtlichinspirierterRoman her-
aus, der das hier durchaus abenteuerli-
chePrivate elegant mit dem Großen
und Grundsätzlichen zu verbinden
weiß, mit der langen Ärades National-
wahns und der seit je virulenten Heimat-
frage. Apollinischerzählt istauchdies,
formgebunden, nicht entgrenzt, aber
dennochoffen zumPoetischen hin, das
wiederum alsAbwehrzaubergegendio-
nysischtanzende Dämonen fungiert.
Stilistischbewundernswertschreibt
sichdie in MoldaugeboreneAutorin
(und Schauspielerin und Musikerin)
MarinaFrenk anhand ihrer eigenen Mi-

grationsgeschichteandie alleZugehö-
rigkeitenkalt zermalmende Gewalt der
jüngeren, fatalvonSystemen,Nationali-
täten undRassen fasziniertenGeschich-
te heran.Unddas geschieht so spiele-
rischund leichtfüßig, dasswir es zu-
nächstkaum bemerken, weil wirge-
bannt die höchstgegenwärtigeErzäh-
lung über die jungeBerliner Malerin
Kira–sie entstammt wie dieAutorinei-
ner russisch-jüdischenFamilie aus Mol-
dau –verfolgen. Es magUrsache oder
Folgevon Kiras depressiverVeranla-
gung sein, dasssie in einer unglückli-
chen, sprachlosgewordenen Beziehung
zu Marc lebt, demVaterdes gemeinsa-
men KindsKarl.Jedenfallsrichtetsie
sichinihrer Mutterschaftein und
schämt sichangesichtsvonFlüchtlin-
gen, die „an denGrenzeninKäfigen sit-
zen“, angesichtsvoninGoldfoliegewi-
ckelten Kindern, deren Elterngefoltert
odervergewaltigt wurden, desLuxus-
problems, sichimreichen Deutschland
nicht mehr spüren zukönnen.
Auch als Malerin fühlt sichdie Prot-
agonistingescheitert, gibt nur nochMal-
stunden für Kinder.Dabeiwarenihre
Bilder,oft Familienporträts, einekurze
Zeit langgefragtgewesen, auchwenn
die Käuferkaum ahnten, dassdie viel-
leicht wichtigste A ufgabe dieser Bilder
darin bestand, die in ihrem Innereto-
bendenStimmen zu besänftigen. Diese
Stimmen, siestammenvonKiras mehr-
fach entwurzelterFamilie, gelten ihr zu-
gleichals Warnungvorallem naiven
Heimischwerden. Die Szenen vom
plötzlichenAufbruch,vonder Flucht
nur mit demNotwendigsten und unter
Zurücklassung der Alten und der eige-
nen Leichtigkeit ähneln sichinihrer

Vorstellung auffällig: ob es nun 1941 in
Bessarabien den Deutschen undRumä-
nen zu entkommengalt oder 1993 dem
aus sowjetischer Hand entlassenen,
russisch-jüdische Einwohner drangsa-
lierenden Moldau. DieReihe geht wei-
ter.
Zu den raffiniert strukturiertenRück-
blickender Ich-Erzählerin auf ihr Le-
ben–dramatischeAusreise, Ankunft
im Ruhrgebiet, derWegzur Malerei,
eine ersteBeziehung samt traumati-
scherFehlgeburt, dasFinden einer gu-
tenFreundin, das kur ze Liebesglück
mit Marc, das übermächtigwerdende
Gefühl der Einsamkeit–tretenImagi-
nationen über die Erlebnisse ihrerVor-
fahren. Beidesverbindetsichzueiner
Reflexion über dasVerlorengehen zwi-
schen den Identitäten. Angekommen in
der gelobten Europäischen Union,
mussdie Heldinfeststellen, dasssie die
Diasporamitgeschleppthat, dieTrau-
mata desFaschismus und desgeschei-
terten Kommunismus: „Ichhabe keine
Nationalität und keine Heimat, weil
meineWurzeln in der Besatzung eines
politischen Systems liegen, und Syste-
me sind erfunden, irgendwann immer
vorbei und danngarnicht mehrwahr.“
Sowjetisch, das istmit einem Mal nur
nochChimäre,keine adressierbareHer-
kunftmehr.Inder jüdischen Gemeinde
vonNew York,inIsrael oder derRepu-
blik Moldau fühlt sichKiraebenfalls
fremd. Es bleibt ihr nur dieFamiliener-
innerung. So malt sie alteFotos ab, be-
lebt sie mit Öl undNostalgie.
„Schwererwerden, leichter sein“, die
zum Mottoerkorene Gedichtzeilevon
Paul Celan, trifft exakt die dunkleGe-
stimmtheit dieses Lebens, das zum
Leichten nurfindet,wo es durch die
Seinsschwerehindurchgegangen ist,
also nur zum höchstenPreis –was der
deutschePartner nichtversteht.Marc,
der sein „osteuropäisches Biest“ liebt,
wirktgeheimnislos in allem,waskein
Kompliment ist: „Die durchsichtigen
Tropfenfärben sichschwarz wie der
Schuh...Durchsichtigkeitkann eben
alleswerden, sie istrückgratlos und
glasklar.“ Ihr Sohn wiederum spürt,
dassinKiraetwas zerbrochen ist. Weil
sie gelernt hat, dassFlucht nichts löst,
wählt sie das Ertragen: „Ichbin zu klein-
geistig für Suizid, daswäre ja schonfast
pathetisch,wie meine beschissenen Bil-
der.Außerdem brauchtKarl mich.“
Wiestark die Heldin dabei eigentlich
ist, wirderstmit derZeit bemerkbar,in
dem Maße nämlich, in dem sie uns als
Künstlerin entgegentritt.Was Marc,
der auf seinejournalistischeVerantwor-
tunggegenüber derWahrheit pocht, ihr
nur halb im Scherzvorhält–als Künstle-
rin(respektiveHexe) könne sie sichein-
fach „etwas ausdenken“, etwa den
Krieg in Moldau –, das wirkt hier in der
Tatals poetologisches Prinzip, indem
die ErzählerinsichbildreichinihreVor-
fahren hineinversetzt:„Bei uns Hexen
istdas ganz einfach.“ Dabei löstsie sich
aber mehr und mehrvonder Vorlage,
taucht in die eigenen Ängste ab und
führtschließlichineinem erschüttern-
den Tableau mehrereGenerationen ih-
rerFamilie–inklusiveSS-Männernwie
MarcsGroßvater–ineinemFrachtwag-
gon zusammen: einTransportins Unge-
wisse. ImUnterbewussten wütet der Fa-
schismus noch.
Der Clou daran ist, dassdiese histo-
rischfreihändigeWort-Malerei hier an-
gemessener wirkt als jede faktenge-
naue Historiographie,weil es nicht die
politische Geschichteist,die Kira–und
wohl die meistenEntwurzelten–be-
drückt, sondernderen psychischeFol-
gen. Für den einzelnen Menschen zäh-
len Hoffnung, Glückund Schmerz, und
es zählen dieweiter gegebenen Erinne-
rungen an diese drei. Jahreszahlen sind
da egal: „Chronologie isterfunden,es
gibtkeine. Sie isteine Lüge,wie alle
Systeme.“MarinaFrenk hat ein kluges,
wundervoll poetisches und dabeiganz
unprätentiöses Buchüber das Akkumu-
lieren vonErinnerungengeschrieben:
Als Bollwerkgegen dieFremdheitge-
dacht,können sie sichinein Verlies für
die eigene Einsamkeitverwandeln. Es
istein hochaktuelles Buchüber die Hei-
matsuche, das Migration mutig als Nich-
tankommen behandelt und trotzdem
nicht in der Hoffnungslosigkeit ver-
sinkt.Beim Apoll, hier hat jemand sich
und mehr erkannt. OLIVER JUNGEN

Der Mann will sichanbiedern. Er habe
voneiner Bekannten gehört, dasssich
eine Gruppevon25Kindernschon vor
Wochen aus dem Dorfinden Wald zurück-
gezogen hat, nunsteht er mitten unter ih-
nen. Er will mitmachen, sagt er,bei ihnen
sein, die Stadtverlassen, in der er lebt:
„Auf dem Land istvieles besser,nehme
ichan. Ursprünglicher.“ Sein Gegenüber,
das Mädchen mit dem seltsamenNamen
Kerze, lacht ihm ins Gesicht.Undschickt
ihn weg. Erkönne nicht bei ihnen bleiben,
sagt sie, er sei schon zugroß.
ZweiTeile hatVerena Güntnersneuer
Roman „Power“, erschienen sechs Jahre
nachihremRomandebüt„Es bringen“.
Der ersteTeil schildert,wie der titelgeben-
de HundPowerseiner Besitzerin, der al-
ten, vonihrem Mannverlassenen Dorfbe-
wohnerin Hitschke, entläuftund wie diese
wiederum die elfjährigeKerze darum bit-
tet, ihn zufinden. Das Mädchengeht das
ausgesprochen pragmatischan, eröffnet
eine Kladde für ihresofor tanges tellteund
alles andereüberschattende Untersu-
chung. Sie „glaubt schon langedaran, dass
sichdie Welt ihremWillen beugen wird“,
sagt die Erzählerin überKerze, „es istnur
eineFrageder Zeit.“ MitRücksichten und
Höflichkeit hält sie sichnicht auf, und ihre
großzügig und entschlossengewährte Hil-
fe hat ihren Preis: Sie hilftnachihren eige-
nenRegeln undÜberzeugungen, denen
sichanzuschließen hat,wersie in An-
spruchnimmt.SomeintKerzeetwa, sie
müsseganz genau wissen, wie derver-

schwundene Powergebellthabe. Und
fordertdeshalb die Besitzerin auf, dieses
Bellen einmalvorzumachen. Siekönne
das nicht, antwortetHitschke. „Ichglaube
schon, dassdudas kannst“, antwortetdie
gnadenlose Kerze, „denn du willst ja
deinen Hund wiederhaben, oder nicht?“
GehorsamkauertsichHitschkenieder
und imitiert ihren bellenden Hund.Kerze
filmt das mit dem Handy.
Kerzes Methode istder vonSimenons
Maigretvergleichbar,der sich,wenn er in
einemFall ermittelt, in dieWelt des Op-
fers begibt und dortversucht, dessenPosi-
tion einzunehmen, um alles besser zuver-
stehen.Auch Kerzeläuftbellend über die
Dorfstraße, bald schließen sichihr Kinder
an, und so wie man sichals Leser erst all-
mählichindiesem Erzählkosmos einrich-
tet, manche wunderlichenNamenverdaut
oder dassoffenbar jeder überraschender-
weise tut,wasKerzevonihm verlangt, so
scheinen auchdie Erwachsenen des Dor-
feslangenicht recht zu wissen, wie sie das
Hunde-Imitierenihre rKinder nehmensol-
len: als Laune, als längereskollektives
Spiel zu Beginn der Sommerferien?
DochKerze macht ernst. So zieht die
Kinderschar im zweitenTeil desRomans
bellend und auf allen vieren in denWald.
Dort„wälzen sie sichimLaub undstür-
menweiter Richtung Bach, halten die offe-
nen Münder insWasser,und Henne, der
sichganz hineinwirft,schüttelt sichso
wild, dassauchdie anderen nasswerden.“
Das Wasser scheint trinkbar,der Wald ist

voller Beeren.UndKerzeformtwochen-
lang kratzend und knurrend aus den Kin-
dernein Rudel, dasgrausame Strafen ak-
zeptiertund nachts eng zusammengerückt
in einem alten Bombentrichter schläft.
Güntner beschreibt all das im Präsens-
stil und mit demWillen, das Fremde
fremd und dasUnverständlicherätselhaft
zu lassen. Dafür nimmt ihrRomanwech-
selndePerspektivenein, die des Mäd-
chens Kerzevorweg, aber auchdie der al-
tenHitschkeund die eines unglücklichen
Jungen, der im Dorfund imRoman nur
„Hubersohn“genannt wird,weil seinVa-
ter, der reiche und–vor seinem Schlagan-
fall –gewalttätigeBauer Huber,sowieso
sein Dasein ingrässlicherWeise domi-
niert. Über all dem liegt GüntnersSpra-
chewie ein poetischer Schleier,der nichts
verhüllt, aber die Dingemanchmal klarer
konturiert, einfärbt oder auchzum Leuch-
tenbringt.Als schließlichalle 25 Kinder
des Dorfes, die altgenug dafür sind,Kerze
in denWald folgen, nimmt Güntner die
Perspektiveder zurückgelassenen Eltern
ein: Die Häuser seien „leergefischt“und
die Kinderzimmer „ausgetrocknet“.Wer
es so sieht, der fragt auchnach demFi-
scher.Das Dorffindetihn in Gestalt jener
Hitschke,deren Hundvonden Kindernim
Wald so intensivgesucht wird.
Sie istdie vielleicht eindrucksvollste Ge-
stalt diesesRomans,gerade in dem,was
sie über langeJahreineiner stummen Ehe
erduldethat, undwenn sie einmal denVer-
fall des Dorfesumsichherumregistriert,

die kaputten Laternen, die Schlaglöcher,
dannverschafft ihr diese Vernachlässi-
gung des Dorfs „ein gutes Gefühl. Sowar
sie nicht die Einzige,der das passiert.“
Dass„auf dem Land vieles besser“ sei,
wie der Besucher aus derStadt meint, dürf-
te kein Leservon„Power“ mit ihmglau-
ben. Allein wie die vielfachausgeübteund
erlittene Gewalt diesesDorfzumindest in
der Lebenszeit seiner jetzigen Bewohner
geprägt hat und immer nochprägt, wird
mit zunehmender Lektüredeutlich–bis
zu Enthüllungen am Ende, die das Gesche-
hene nocheinmal in einem anderen, trübe-
renLicht erscheinen lassen. Eskommt zu
einemweiteren ExzessimFinale des Bu-
ches, und derAusbruchaus diesenVerhält-
nissen, der darauf für einen der Protago-
nistenfolgt, istnur zuverständlich.
Werauf dieseWeise –blutiggeschla-
gen, zerlumpt,mittellos–seine Heimat
verlässt,hat dafür die allerbestenGrün-
de. Das istdas deprimierendeResultat
dieses Sommers.Undder konsequente
Höhepunkt eines zuRecht fürden Preis
der Leipziger Buchmesse nominiertenRo-
mans. TILMAN SPRECKELSEN

Hans-Klaus Jungheinrich:
„BedřichSmetana
und seine Zeit“.
Laaber-Verlag,
Lilienthal 2020.
336 S.,geb., 37,80 €.

MarinaFrenk:
„Ewig her undgarnicht
wahr“. Roman.
Verlag KlausWagenbach,
Berlin 2020.
240 S.,geb., 22,– €.

Verena Güntner:„Power“.
Roman.
Verlag DuMont,Köln 2020.
254 S.,geb., 22,– €.

BedřichSmetana FotoPictur eAlliance

Vom


Selbstverlust


DieDiasporaüberwinden:MarinaFrenk,geboren 1986 in Chisinau FotoDavid Reisler

Promenaden durch musikalische Landschaft


StreitbareHommage: Hans-Klaus Jungheinrichsnachgelassene Betrachtungen überBedřichSmetana


Werseinen Hund zurückwill, muss bellen


Nachrichten aus leergefischten Kinderzimmern:Verena GüntnersverstörenderWaldroman „Power“


Kinder allein imWald –für manche Elternist da sein Albtraum.Verena Güntnerverl eiht ihmKonturen. FotoShutterstock

Systemesind


Chimären,ihreFolgen


nicht: Marina Frenks


beeindruckend


elegantesRomandebüt


erzähltvonder


Migration als


Lebenslauf des


Nichtankommens.

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